Justus Lex, Gastautor / 18.05.2020 / 06:00 / Foto: Anthony Letmon / 68 / Seite ausdrucken

Das EZB-Urteil des Verfassungsgerichtes: Es kommt zum Schwur (1)

Von Justus Lex.

Am 5.5.2020 verkündete das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zu den Ankäufen von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank (EZB) seit 2015 (Az. 2 BvR 859/15, 2 BvR 1651/15, 2 BvR 2006/15 und 2 BvR 980/16). Das Urteil war ein Paukenschlag, der in ganz Europa, auch bei der EU in Brüssel und Straßburg, gehört wurde. Um die mögliche Tragweite des Urteils ermessen zu können, sollen im Folgenden die historischen Ereignisse auf dem Weg zum Euro geschildert werden, in Teil 2 soll das Urteil – auch für Laien verständlich – dargestellt werden und in Teil 3 geht es um eine Bewertung des Urteils hinsichtlich seiner Folgen.

Der Zweite Weltkrieg war 1945 zu Ende gegangen. Die Westmächte, also die USA, Großbritannien und Frankreich, erkannten bald, dass sie in der Auseinandersetzung mit dem Kommunismus und mit der Sowjetunion nicht auf über 60 Millionen Deutsche in den westlichen Besatzungszonen würden verzichten können. Sie fingen daher recht schnell an, in ihren Besatzungszonen den Deutschen beim Wiederaufbau des Landes zu helfen. Ein ganz wesentlicher Punkt war dabei die Erschaffung einer neuen Währung, die bereits 1948, also noch vor der „Geburt“ eines neuen Staates mit dem Namen Bundesrepublik Deutschland, in den drei Westzonen eingeführt wurde. Durch die sogenannte Währungsreform bekamen die Deutschen in den westlichen Besatzungszonen die „Deutsche Mark“, abgekürzt DM, die im Folgenden als D-Mark bezeichnet wird.

1949 wurde das Grundgesetz verabschiedet. Die Bundesrepublik wurde gegründet.
Mit viel Fleiß, großem Elan und guter Technik gelang das Wirtschaftswunder. Schon 10 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ging es den Deutschen in der Bundesrepublik materiell wieder spürbar besser, und der wirtschaftliche Aufstieg des Landes hielt noch lange Zeit an. Auch die D-Mark wurde eine Erfolgsgeschichte. Sie erreichte Weltgeltung und wurde überall auf der Erde neben dem amerikanischen Dollar und dem Schweizer Franken als verlässliche und sichere Währung geschätzt.

Die Strahlkraft der D-Mark schien auch in den Osten, insbesondere in die DDR. Als es dort im Herbst 1989 zu den Montagsdemonstrationen und dann zur friedlichen Revolution kam, waren auch die D-Mark und der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik ein ausschlaggebender Grund für die Menschen in der DDR, auf die Straße zu gehen und ein neues Regime zu fordern. Denn neben freien Wahlen und Meinungsfreiheit wollten die Deutschen in der DDR auch, was man gut nachvollziehen kann, mehr materiellen Wohlstand, beispielsweise moderne Autos, intakte Häuser und Wohnungen sowie Urlaubsreisen ins Ausland. Schon bald, nämlich spätestens im Frühjahr 1990, skandierten daher die Demonstranten in der DDR: „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr“. Diese Tatsache sollte man sich immer wieder vor Augen führen, auch heute. Ein Staat kann sehr schnell den Rückhalt seiner Bevölkerung verlieren, wenn er nicht auf Dauer eine ausreichende materielle Versorgung seiner Bevölkerung sicherstellt.

Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl erkannte die Möglichkeit, beide deutschen Staaten wieder zu vereinigen. Das wird immer sein Verdienst bleiben. Und er verstand auch, dass die Deutschen in der DDR, 16 Millionen Menschen, die D-Mark und einen mit dem Westen vergleichbaren Wohlstand haben wollten. Kohl agierte außenpolitisch sehr klug. Zum 1. Juli 1990 kam die Währungsunion zwischen der Bundesrepublik und der DDR, durch welche die D-Mark auch in der DDR als Währung eingeführt wurde. Bemerkenswert ist, dass auch hier wiederum, ebenso wie bei der Währungsreform 1948, die Einführung der gemeinsamen Währung noch vor der staatlichen Einheit kam. Am 3. Oktober 1990 kam es schließlich zur Wiedervereinigung.

Währungswechsel gegen die Mehrheits-Stimmung

Alle Deutschen in Ost und West waren mit der D-Mark als einer sicheren und verlässlichen Währung zufrieden. Es gab nicht den geringsten Grund dafür, die D-Mark abzuschaffen. Dennoch forcierte Helmut Kohl die Herbeiführung einer gemeinschaftlichen europäischen Währung. Warum er das tat, bleibt ein großes Geheimnis. Wollte er sich ein Denkmal setzen als der Einiger und „Vater“ Europas? Misstraute er am Ende seinem eigenen Werk, dem wiedervereinigten Deutschland, und wollte es durch eine gemeinsame europäische Währung noch fester in ein europäisches Gesamtgefüge einbinden oder sogar darin fesseln? Oder war eine gemeinsame Währung die Bedingung gewesen, die ihm insgeheim die britische Premierministerin Margaret Thatcher und der französische Präsident Francois Mitterand als Voraussetzung für eine Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung gestellt hatten? Beide, Thatcher und Mitterrand, waren bekanntlich anfangs ganz klar gegen eine deutsche Wiedervereinigung gewesen. Dieses Geheimnis, warum sich Kohl derart für den Euro einsetzte, wird vermutlich erst in 40 Jahren endgültig gelüftet werden, wenn dann nämlich 70 Jahre seit 1990 vergangen sind und die unter Verschluss liegenden Akten geöffnet werden.

Wie dem auch sei: Kohl und alle übrigen Befürworter einer gemeinsamen europäischen Währung mussten der deutschen Bevölkerung die Abschaffung der D-Mark und die Einführung des Euro „schmackhaft“ machen. Denn beinahe niemand in Deutschland wollte eine solche neue Währung. Den Deutschen wurde daher erzählt, der Euro sei eine Währung, die ebenso sicher und hart werde wie die D-Mark. Insbesondere würde es keine Schulden-Gemeinschaft mit den übrigen Ländern Europas geben. Und den Deutschen wurde erzählt, dass die neu zu gründende Europäische Zentralbank, ebenso wie die Deutsche Bundesbank, allein der Sicherung der Währungsstabilität verpflichtet sein werde. Obwohl die deutsche Bevölkerung mehrheitlich an der D-Mark festhalten wollte, setzte Kohl schließlich deren Abschaffung durch.

Im Vertrag über die Europäische Union, am 7.2.1992 in Maastricht unterzeichnet, hieß es, dass eine Wirtschafts- und Währungsunion gegründet werde, deren Währung der Euro sei (Art. 3 Absatz 3 Unterabsatz 4 EUV). Außerdem wurden sogenannte Konvergenzkriterien vereinbart, die ein Staat einhalten musste, um am Euro teilnehmen zu dürfen. Die wichtigsten Konvergenzkriterien waren – und sind auf dem Papier noch heute – eine Haushaltsdefizits-Quote von unter 3 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (d.h. der negative Saldo von Einnahmen und Ausgaben im Haushalt eines Staates darf 3 Prozent des BIP nicht übersteigen) und eine Schuldenstandsquote von unter 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (also die Summe aller Schulden des Staates darf 60 Prozent des aktuellen BIP nicht überschreiten).

Heute sind die Konvergenzkriterien im Wesentlichen geregelt in den Artikeln 126 und 140 AEUV, dem sogenannten Lissabon-Vertrag (dazu im Einzelnen später in diesem Text). Tatsächlich wurden die Konvergenzkriterien, die man vereinbart hatte, von Anfang an nicht streng geprüft und nicht wirklich eingehalten. Italien und Belgien hatten beispielsweise bei der Einführung des Euro einen Gesamtschuldenstand von mehr als 60 Prozent des BIP. Besonders heftig wurden die Konvergenz-Kriterien durch Griechenland verletzt, das sich die Aufnahme in den Euro-Club mit falschen Zahlen regelrecht erschlichen hatte. Bei einem gewöhnlichen Menschen würde man von Betrug sprechen. Wenn man damals die echten griechischen Zahlen gekannt hätte (Griechenland hatte im Jahr 2000, ein Jahr vor seinem Beitritt zum Euro, in Wahrheit eine Staatsverschuldung von 104,4 Prozent des BIP. Die Schulden des griechischen Staates waren also höher als das gesamte Bruttoinlandsprodukt!), wäre Griechenland niemals Euro-Mitglied geworden, weil es von Beginn an die Konvergenzkriterien nicht erfüllte. Aber das interessierte niemanden. Die Euro-Euphorie war einfach zu groß.

„Besondere Umstände“ hebeln die Kriterien aus

Schließlich verfehlten nach dem Ausbruch der Finanzkrise sogar Deutschland und Frankreich, also die beiden größten Volkswirtschaften des Euro-Raums, dreimal hintereinander die Konvergenz-Kriterien. Anstatt jedoch nach den Buchstaben des Vertrages ein Vertragsstrafenverfahren einzuleiten, einigten sich Bundeskanzlerin Merkel und der damalige französische Präsident Sarkozy darauf, dass es sich um „besondere Umstände“ handele und daher die Regeln nicht mehr angewendet werden könnten. Das war juristisch natürlich haarsträubend. Wofür schließt man einen Vertrag und schafft dadurch Völkerrecht bzw. Unionsrecht, wenn man wenige Jahre später erklärt, sich an den Vertrag nicht mehr halten zu wollen? Leider wurde diese Missachtung von Recht zur gängigen Methode im Euro-Raum. Ab Mitte 2010 erfüllten übrigens nur noch Estland und Schweden die Konvergenzkriterien, kein anderes Land mehr des Euro-Raums. Die blanke Ökonomie hatte endgültig über das Recht gesiegt.

Beide Versprechungen, die den Deutschen bei der Einführung des Euro gemacht wurden, waren mehr als zweifelhaft. Zur Stabilität der Währung: Wie sollte der künftige Euro es schaffen, ebenso sicher und hart zu werden wie die D-Mark, wenn man eine harte Währung wie die D-Mark mit den äußerst weichen Währungen der italienischen Lira und der griechischen Drachme vereinigen würde, die sich über Jahrzehnte nur durch kolossale Abwertungen hatten „über Wasser halten“ können? Eine gemeinsame und verbindliche Steuer-, Haushalts- und Wirtschaftsgesetzgebung war jedenfalls nicht in Maastricht vereinbart worden. Vielmehr oblag die Gesetzgebung bei Steuern, Haushalt u.ä. noch immer den einzelnen Mitgliedsländern. Eigentlich sagte einem schon damals der gesunde Menschenverstand, dass das auf Dauer nicht gutgehen kann. Wir haben dann ja auch später die Aufweichung des Euro und den Kollaps der wirtschaftlich schwachen Südländer (Stichworte: Griechenlandkrise, Rettungsschirme für Griechenland, Irland, Portugal) erlebt.

Auch das zweite Versprechen, das den Deutschen gemacht worden war, stand auf tönernen Füßen. Eine Notenbank, die allein als Währungshüter auftritt und nur die Geldwertstabilität im Auge hat, war eine rein deutsche Tradition, die vielen Ländern in Europa, etwa Italien oder Frankreich, völlig fremd war. Im europäischen Ausland hatten sich die Präsidenten der Notenbanken stets auch als Wirtschaftspolitiker verstanden. Wie also sollte das wirklich funktionieren?

Trotz dieser ungelösten Fragen wurde der Euro zum 1. Januar 1999 als Buchgeld und zum 1. Januar 2002 als Bargeld in Deutschland und in vielen Ländern der EU eingeführt. Einige Mitgliedstaaten der EU, allen voran Großbritannien, führten den Euro nicht ein.

Nach Recht und Gesetz fragte keiner mehr

Obwohl die eben skizzierten, grundlegenden Fragen und Probleme einer Wirtschafts- und Währungsunion, die noch immer aus lauter souveränen Staaten bestand, nicht beantwortet waren, schritt die Vereinigung Europas weiter voran.

Am 13. Dezember 2007 wurde in Lissabon der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) unterschrieben, in dem in weit größerem Umfang als noch im Maastricht-Vertrag die Struktur der Europäischen Union, ihre Behörden und Gerichte sowie weitere Einzelheiten zur Wirtschaftspolitik geregelt wurden, ohne allerdings wirklich die Gesetzgebung der Mitgliedsländer im Bereich Steuern und Haushalt verbindlich zu harmonisieren.

Für das hiesige Thema sind vor allem zwei Regelungen aus dem Lissabon-Vertrag von Interesse: In Art. 123 Abs. 1 AEUV wurde geregelt, dass die EZB den Mitgliedstaaten und den nationalen Notenbanken keine direkten Kredite geben darf und dass ihr ein „unmittelbarer Erwerb“ von Schuldtiteln der Mitgliedstaaten, auch Staatsanleihen genannt, verboten ist. In Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV wurde geregelt, dass es das vorrangige Ziel der EZB ist, die Preisstabilität zu gewährleisten. Nur soweit es „ohne Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist“, darf die EZB auch die allgemeine Wirtschaftspolitik der Union unterstützen. Der Leser behalte diese beiden Artikel in Erinnerung. Denn um diese beiden Vorschriften geht es letztlich bei der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts.

Die ruhigen Zeiten waren bald vorbei. Im Jahr 2007 platzte in den USA die Immobilienblase. Am 15. September 2008 brach die amerikanische Großbank Lehman Brothers zusammen und ging in den Konkurs. Die Finanzkrise griff auf Europa über. Hier entwickelte sie sich zur Euro-Krise, als Griechenland im Jahr 2009 seine echten Zahlen veröffentlichte. Das Land hatte zu diesem Zeitpunkt in Wahrheit eine Staatsverschuldung von 129,7 Prozent des BIP und eine Neuverschuldung von 12,7 Prozent des BIP. Die oben geschilderten Konvergenz-Kriterien der EU waren nicht mehr das Papier wert, auf dem sie standen. In diesem Moment wurden die Schwächen des Maastricht- und des Lissabon-Vertrags in ihrer ganzen Schärfe sichtbar. Die Architekten der Verträge hatten es versäumt, eine Regelung über den Ausschluss eines Euro-Mitglieds zu vereinbaren, wenn das Mitglied, wie etwa Griechenland, gröblich und beharrlich die Vertragsvereinbarungen verletzt.

Jeder Notar, der so einen dilettantischen Vertrag über die Gründung eines Vereins aufgesetzt und dabei vergessen hätte, eine Regelung über den Ausschluss eines vertragsbrüchigen, vereinsschädigenden Mitglieds in die Statuten aufzunehmen, hätte sich schadensersatzpflichtig gemacht. Aber an den Spitzenpolitikern Europas und ihren Topjuristen ging das spurlos vorüber. Niemand fragte nach einer Haftung dieser Superhelden. Nach Recht oder Gesetz fragte schon lange niemand mehr auf den Fluren der EU.

Um Griechenland zu retten, wurde ein sogenannter Rettungsschirm gespannt. Obwohl es eigentlich nur einer werden sollte, wurden es dann zwei, später drei Schirme. Inhaltlich bedeutete das, dass Griechenland bilaterale Kredite im Wert von über 80 Milliarden Euro bekam. Außerdem bekam es Hilfe durch die EU in Form des befristet eingerichteten Europäischen Finanzstabilisierungsmechanismus (EFSM) sowie in Form der ebenfalls befristet eingerichteten Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF). Beide Institute wurden später durch den Europäischen Stabilisierungsmechanismus (ESM) ersetzt. Allein über die zuletzt genannten drei Institutionen könnte man Bücher schreiben. Es soll daher nur kurz ein Überblick gegeben werden.

Rechtsbruch für Rettungspakete?

Die EU kann gemäß Art. 122 AEUV Kredite an notleidende Mitglieder der EU vergeben. Das geschah auch im Falle Griechenlands so. Der EFSM stellte eine Hilfe in Höhe von 60 Milliarden zur Verfügung. Die EFSF war ein weiteres Element des bis 2013 befristeten Euro-Schutzschirms. Ihr Ausleihvolumen (also direkte Kreditvergabe) betrug 440 Milliarden Euro, und ihr Garantierahmen (also eine Art Bürgschaft für solche Kredite, die die notleidenden Mitgliedstaaten aufnahmen) betrug 780 Milliarden Euro. Der maximale deutsche Anteil an den Garantien, für die Deutschland im schlimmsten Fall haften musste, betrug 211 Milliarden Euro, eine nicht unbeträchtliche Summe.

Die EU hatte allerdings zu wenig Geld für diese Rettungs-Aufgabe, so dass sie zur Finanzierung ihrer Hilfskredite selbst Anleihen vergeben oder selbst Kredite aufnehmen musste. Mit einem solchen Verhalten wurde zwar auch die EU rechtsbrüchig. Denn nach allgemeinen Grundsätzen darf sich die Europäische Union nicht selbst verschulden. Dieser Rechtsbruch kümmerte jedoch erneut niemanden. Rechtlich standen die Hilfsmaßnahmen von EFSM und EFSF ohnehin auf „dünnem Eis“. Denn Art. 122 AEUV hatte nach seiner Formulierung eher vorübergehende Notfälle im Sinn, bei denen die EU einem Mitgliedsland helfen können sollte. Der Art. 122 AEUV war nicht für EU-Hilfen für langfristige und strukturelle Probleme eines Landes gedacht, die auf fehlender Haushaltsdisziplin, mangelnder Fortentwicklung der Infrastruktur und jahrelanger Misswirtschaft des Landes beruhten. Bei einer juristisch korrekten Auslegung des Vertrags von Lissabon hätte man schon damals die Griechenland-Rettung ablehnen und das Land in die Staatsinsolvenz gehen lassen müssen. Denn diese Rettungspakete verstießen gegen das bail-out-Verbot nach Art. 125 AEUV. In Art. 125 AEUV ist geregelt, dass weder die EU noch ein Mitgliedsland für Schulden eines anderen Mitgliedlandes haften und dass sie nicht für derartige Verbindlichkeiten „eintreten“.

Bei dem Rettungspaket für Griechenland war von Anfang klar, dass es sich nicht um eine Unterstützung in einer akuten, aber vorübergehenden Notlage im Sinne von Art. 122 AEUV handelte, sondern um eine langfristig angelegte echte Wirtschaftshilfe für ein marodes Mitgliedsland, das über Jahrzehnte hin Misswirtschaft betrieben und über seine Verhältnisse gelebt hatte. Das bankrotte und zahlungsunfähige Griechenland, das sich die Aufnahme im Euro-Club mit falschen Zahlen erschlichen hatte, sollte auf die Beine gebracht werden. Juristische Feinheiten, wie etwa das Verbot des bail-out in Art. 125 AEUV, interessierten die führenden Politiker – allen voran Bundeskanzlerin Merkel und den EU-Kommissionspräsidenten Juncker – nicht mehr im Geringsten. In Fragen des Euro hatten sich die EU und ihre Mitglieder, die in Art. 67 Abs. 1 AEUV vollmundig vereinbart hatten: „Die Union bildet einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“, schon längst von jeglichem Recht verabschiedet.

Der Spaltpilz

Es gab aber aufgrund dieser Rettungspakete in Form von EFSM und EFSF – Recht hin oder her – ein echtes Problem, das man nicht einfach in guter Politiker-Manier wegreden konnte, nämlich das Risiko eines Zahlungsausfalls. Wer würde haften bzw. den wirtschaftlichen Schaden tragen, wenn Griechenland die Kredite nicht zurückzahlen würde, was durchaus wahrscheinlich war? Das war der Haken an der Geschichte. Denn das Risiko eines Zahlungsausfalles lag – und liegt – bei allen Mitgliedstaaten der Europäischen Union und nicht nur bei den Staaten der Euro-Zone. Alle Mitgliedstaaten der EU müssen bei einem Zahlungsausfall Nachschüsse leisten oder auf Zahlungen aus anderen EU-Programmen verzichten. Der Lissabon-Vertrag hatte insoweit keine Differenzierung zwischen Euro-Ländern und den Nicht-Euro-Ländern innerhalb der EU vorgenommen.

Das fanden die Briten gar nicht witzig. Denn Großbritannien war zwar Mitglied der EU, aber nicht Mitglied im Euro-Club. Es war daher durchaus verständlich, dass die Briten wenig Lust hatten, ein Ausfallrisiko in Milliarden-Höhe für griechische Rettungspakete zu übernehmen, obwohl Großbritannien gar nicht Euro-Mitglied war und mit der Währungsstabilität des Euro nichts zu schaffen hatte. Dieser Gesichtspunkt war – neben der verfehlten Flüchtlingspolitik von Bundeskanzlerin Merkel im Jahr 2015, die in Großbritannien zu der Befürchtung führte, mit einer unbeschränkten Zahl von Flüchtlingen „geflutet“ zu werden – ein hauptsächlicher Grund dafür, dass viele Briten die Europäische Union verlassen wollten; er war ein Hauptgrund dafür, dass der damalige britische Premierminister David Cameron innenpolitisch völlig in die Defensive geriet und ein Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU ansetzte; und er war der Hauptgrund dafür, dass Großbritannien schließlich die EU verließ. Der Euro, der eigentlich als Mittel zur weiteren Vereinigung Europas gedacht war, hatte sich aufgrund des schlecht konzipierten Vertrages von Lissabon und aufgrund der verfehlten Politik der führenden Regierungschefs in Europa zum großen Spaltpilz Europas entwickelt. Und er wird noch zu mehr Entzweiung der EU führen, wenn die Politiker so weitermachen wie bisher.

Teil 1 finden Sie hier, Teil 2 hier, Teil 3 hier

Der Autor ist Richter an einem deutschen Gericht und schreibt hier unter Pseudonym.

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Leserpost

netiquette:

Klaus Schmid Dr. / 18.05.2020

Das alles klingt ja so als ob unsere hochverehrten Spitzenpolitiker nichts anderes als Betrüger sind, die das Recht brechen um persönlicher Vorteile wie Ruhm und Ehre wegen? Und die Medienmacher folgen in blindem Gehorsam?

Reiner Arlt / 18.05.2020

Duchaus nicht unerwartete, hat Merkel ja schon - mit etwas anderen Worten - verkündet, diese Entscheidung müsse rückgängig gemacht werden. Da die Richter nicht zurücktreten werden, um den Weg für ein anderes Urteil frei zu machen, muss eben die Rechtslage angepasst werden. Die Politiker hat man schliesslich - mit Ausnahme der NAZIS - im Griff.

Jupp Posipal / 18.05.2020

Die Erosion bzw. das politisch vorsätzliche Unterlaufen des Rechts hat inzwischen demokratisch riskante Auswüchse auf allen gesellschaftlichen Ebenen angenommen. Ohne zu fürchtende Sanktionen vebleiben Interpretation was richtig und falsch wäre, dem jeweils eingenommenen Standpunkt. Oder dem wirtschaftlichen Stärkeren. Oder einer völlig degenerierten Medienlandschaft (allerdings mit beachtlichem, kaum sachgerecht ekanntem Manipulation- sprich Beschwichtigungspotential) auf DSDS- oder GNTM-Niveau. Verhandlungsergebnisse hochjubeln, nicht wirklich sicher ausschließbare Konsequenzen verdrängen, sowie tatsächliche Kosten (für wen) vernebeln; ist ein Merkmal heutiger politischer Akteure. Statt gemeinwohlorientierte Abwägungen überwiegend faule Kompomisse mit erheblicher Verschleuderung von Steuergeldern (jetzt auch im großen EU-Stil) sowie Zukunftschanchen im global forcierten Wettbewerb. Rechtsstaatlichkeit ist doch nur was für die Zaghaften oder Unentschlossenen. Was jucken mich Urteile erst nach 5-10 Jahren, wenn ich meine Aggeordnetenrente ohne jegliche Einzahlung in Höhe mehrere tausend Euro geniessen darf. JA ggf. persönliche eigenen Opfer für die EU; aber keine (!) Schuldenunion. JA, regionale EU-Förderzuschüsse, aber keine EU-Gelsspritzen für Autokraten oder EU-Staaten mit gesellschaftlich fragwürdigen Entwicklungen (nicht nur im Justizwesen). JA ein gemeinsam bezuschußter Agrarmarkt; aber z.B. ohne Vergiftung unseres Trinkwassers und Großagrarierer. JA gemeinsam finanzierte Projekte in der EU, aber keine ungezügelten Rendietexplosionen ohne jegliche Transparenz; weil Kontrollen verpönt, nicht wirklich durchsetzbar oder gewollt sind. Was nützt endlos bedrucktes Papier, wenn wie in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts es für die Allgemeinheit nicht mehr reicht. Denn die leider viel zu trägen Bürger werden sonst wie immer in der Geschichte auch die ungedeckten EU-Schecks bitter bezahlen müssen.

Volker Seitz / 18.05.2020

Ich empfehle den heutigen Beitrag von Dieter Grimm ( von 1987 - 1999 Richter des Bundesverfassungsgerichts ) in der FAZ, Seite 9 zu lesen. „Der Konflikt der beiden Gerichte hat seinen Grund im Demokratiedefizit der Europäischen Union. Irgendwann musste Karlsruhe Luxemburg in die Schranken weisen ....In den Römischen Verträgen sucht man den Vorrang des Gemeinschaftsrechts vergeblich“.

Heike Richter / 18.05.2020

Wir machen illegal zu legal war ein Spruch unserer Kanzlerin, damit ist politisch gewollt, bestehendes Recht zu brechen und sukzessive ins Gegenteil zu verwandeln.

Herbert Otten / 18.05.2020

Ein die Geschichte deutender unter Pseudonym geschriebener Beitrag sollte mit spitzen Fingern angefasst werden. Nur drei Zitate: “Europas Länder sollten in einen Superstaat überführt werden, ohne dass die Bevölkerung versteht, was geschieht. Dies muss schrittweise geschehen, jeweils unter einem wirtschaftlichen Vorwand. Letztendlich führt es aber zu einer unauflösbaren Föderation.” Jean Monnet, Wegbereiter der EU, 1970, laut Frederick Forsyth, 2010. // “Wer den Nationalstaat aufgibt, verliert damit die bisher einzige effektive Garantie seiner Grundrechte. Wer heute den Nationalstaat für entbehrlich hält, erklärt damit – sei es auch noch so unabsichtlich – die Bürgerrechte für entbehrlich.” Ralf Dahrendorf, 1990. // “Kohl sagte Mitterand im März 1990 zu, die Entwicklung der Politischen Union und der Währungsunion beschleunigt voranzutreiben… Kohl hielt Wort. Im Oktober 1990 war er der wichtigste Fürsprecher der Europäischen Währungsunion. Nicht einmal ein Jahr nach der deutschen Vereinigung wurde 1991 der Vertrag von Maastricht geschlossen, in dem die Grundlagen für eine Europäische Währungsunion gelegt wurden.” Henry Kissinger, 2010.

Thomas Brox / 18.05.2020

Schon vor dem Maastricht Vertrag war die EU im Kern nichts anderes als die Europäische Union der Beamten, Etatisten und Sozialisten. Und die Zielrichtung war schon damals die Transfer-Union: Umverteilung von produktiven Bereichen zu Kostgängern durch Subventionierung der Südstaaten und Subventionierung von unproduktiven Branchen, wie etwa der staatlichen Bürokratien, der EU-Bürokratie, der Landwirtschaft, diverser Sozialklientel, etc. Der Euro wurde als effektivstes Instrument dieser Umverteilung installiert. Der Rechtsbruch war schon ab dem Maastricht de facto eingebaut, danach wurde die Rechtsstaatlichkeit Stück für Stück demontiert. Die gesamten EU-Verträge sind ein Musterbeispiel mieser, schwammiger und langatmiger Formulierungen - genauso unfähig wie die Politik. Der katastrophalste Konstruktionsfehler der EU ist die Aufhebung des Konkurrenz-Mechanismus (also des Markt-Mechanismus) auf der Ebene der Staaten. Während zu Zeiten der EWG die Staaten gegeneinander konkurrieren mussten, haben wir heute ein parasitäres, sozialistisches Bürokratie-Monstrum ohne Haftung, ohne Verantwortung, ohne Rückkoppelung an die wirtschaftlichen Realitäten - die No-Bailout Klausel ist mausetot. Scheinbar haftet jeder für jeden. In Wirklichkeit haftet die produktiv (oder ehemals produktiv) arbeitende Bevölkerung für diese Fehlkonstruktion und wird daher sukzessive ausgeplündert.

Christoph Kaiser / 18.05.2020

Ein Richter muß oder schreibt unter Pseudonym ........ das sagt doch bereits Alles!

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