Von Justus Lex.
Mit Beschluss der EZB vom 4.3.2015 (EU) 2015/774 wurde ein Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors (Public Sector Asset Purchase Programme – PSPP) aufgelegt und dann jahrelang verlängert. Im Rahmen des PSPP wurden und werden Staatsanleihen und ähnliche auf Euro lautende marktfähige Schuldtitel durch die EZB und in ihrem Gefolge durch die nationalen Zentralbanken gekauft, dabei auch reihenweise Staatsanleihen von finanziell schwachen Staaten wie Griechenland und Italien. Hier sei eine kurze Erläuterung gegeben: Die EZB und die Zentralbanken der Mitgliedsländer bilden nach Art. 282 AEUV das Europäische System der Zentralbanken ESZB. In diesem System gibt die EZB im Wesentlichen die Richtung vor und die Zentralbanken der Mitgliedsländer, in Deutschland also die Deutsche Bundesbank, fungieren als ihre ausführenden Organe.
Getreu dem alten Motto von Mario Draghi, dem ehemaligen Präsidenten der EZB, aus dem Jahre 2012: „whatever it takes“, wurde beim Ankauf dieser Staatsanleihen nicht „gekleckert“, sondern „geklotzt“. Seit 2015 haben die EZB und die nationalen Zentralbanken im Rahmen des PSPP Staatsanleihen und sonstige Wertpapiere im Wert von 2.088 Milliarden, also von über 2 Billionen Euro, gekauft. Deutschland, insoweit vertreten durch die Deutsche Bundesbank, hat daran einen Anteil von 26,4 Prozent. Die Bundesbank hat also mittlerweile Wertpapiere im Nennwert von etwa 500 Milliarden Euro gekauft. Damit der Leser die Größenordnung einschätzen kann: Der Bundeshaushalt 2016 sah Ausgaben in Höhe von 316,9 Milliarden Euro vor. Der Betrag von über 2 Billionen bzw. der deutsche Anteil daran von „nur“ 500 Milliarden Euro sind also gigantische Summen, auch für einen bislang wohlhabenden Staat wie die Bundesrepublik.
Die spannende Frage, die sich in juristischer Hinsicht nun stellt, lautet: Handelt es sich bei diesen Ankäufen der EZB und der ihr angegliederten nationalen Zentralbanken seit 2015 noch um eine Maßnahme zur Gewährleistung der Preisstabilität im Sinne von Art. 127 Abs. 1 S. 1 AEUV, was zulässig wäre? Oder handelt es sich in Wahrheit um eine überwiegend wirtschaftliche Unterstützung derjenigen Länder, deren Staatsanleihen gekauft werden, auch gerade von wirtschaftlich maroden Mitgliedsländern? Das wäre der EZB nämlich nach dem Lissabon-Vertrag verboten. Die Ankäufe wären dann rechtswidrig, weil sie gegen Unionsrecht verstoßen hätten.
Im Jahre 2015 erhoben deshalb mehrere Persönlichkeiten in Deutschland Verfassungsbeschwerde dagegen, dass Bundestag und Bundesregierung nichts gegen die massenhaften EZB-Ankäufe von Staatsanleihen unternommen hatten und unternahmen.
Verfassung oder Vertrag?
Die Beschwerdeführer sahen sich im Wesentlichen in ihren Rechten aus Art. 38 Grundgesetz (GG) verletzt, welches in diesem Artikel nicht nur die Wahl eines Abgeordneten zum Deutschen Bundestag, sondern auch eine effektive Einflussnahme auf die Gestaltung der Politik durch die Abgeordneten des Bundestages garantiert. Das sei nicht mehr gewährleistet. Denn die EZB agiere entgegen dem geltenden Unionsrecht und werde dabei von niemandem mehr kontrolliert oder gezügelt. Insoweit liege auch ein Verstoß gegen das Demokratie-Prinzip und gegen das Budget-Recht des Bundestages vor.
An dieser Stelle muss dem juristischen Laien das Nebeneinander von Grundgesetz und Lissabon-Vertrag sowie das Nebeneinander vom Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof erläutert werden.
Der Lissabon-Vertrag war zunächst von seiner Form her ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag. Ein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag wird geschlossen, indem die Außenminister oder die Regierungschefs der beteiligten Länder einen Vertrag aushandeln und unterschreiben. In Demokratien wird dann der Vertragstext dem Parlament vorgelegt, und das Parlament wird um seine Zustimmung gebeten. Die Zustimmung des Parlaments erfolgt durch ein Zustimmungsgesetz. Schließlich wird der Vertrag dem Staatsoberhaupt, in Deutschland also dem Bundespräsidenten, vorgelegt. Das Staatsoberhaupt erstellt eine sogenannte Ratifikationsurkunde, in der er erklärt, den Vertrag im Namen seines Staates als gültig anzuerkennen. Wenn diese Prozedur in allen beteiligten Ländern des Vertrages durchlaufen wurde, tritt der Vertrag in Kraft und ist völkerrechtlich wirksam. So war es auch beim Lissabon-Vertrag.
Vom Inhalt her ist der Lissabon-Vertrag aber kein gewöhnlicher völkerrechtlicher Vertrag. In gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen werden einzelne Themen geregelt, beispielsweise der Verlauf einer strittigen Grenze oder die Beendigung eines Krieges. Die Besonderheit an dem Lissabon-Vertrag besteht darin, dass durch den Vertrag dauerhaft die Europäische Union gegründet wurde mit eigenen Behörden und Gerichten. Die europäischen Behörden und Gerichte produzieren seit ihrer Gründung eigene neue Verwaltungs- und Rechtsakte, sie schaffen also neues, sogenanntes supra-nationales Recht. Und die europäischen Behörden unterliegen bei dem, was sie tun, nur dem europäischen Recht, insbesondere also dem Lissabon-Vertrag, und nicht dem Recht eines einzelnen Nationalstaates.
Ob das Verhalten einer EU-Behörde sich an europäisches Recht gehalten hat oder nicht, wird dabei nach Art. 263, 267 AEUV allein vom Europäischen Gerichtshof entschieden. Grundsätzlich sind alle Mitgliedstaaten verpflichtet, die Rechtsakte der EU zu befolgen und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu respektieren. Aber muss ein Staat auf Dauer seine gesamte Macht an die EU abgeben, so dass er nach und nach aufhört zu existieren? Was soll geschehen, wenn durch das Handeln europäischer Behörden die höchsten Rechtsgüter eines Landes, die in der Verfassung geregelt sind, (in Deutschland also im Grundgesetz), verletzt werden? Steht das Unionsrecht dann über der Verfassung?
Bisherige Rechtssprechung
In Deutschland hat sich das Bundesverfassungsgericht bereits mehrfach mit diesen Fragen beschäftigt und dabei eine relativ klare Rechtsprechung entwickelt.
Im sogenannten Maastricht-Urteil vom 12.10.1993 hatte das Bundesverfassungsgericht über Verfassungsbeschwerden gegen das Zustimmungsgesetz des Bundestages zum Abschluss des Maastricht-Vertrages zu entscheiden. Die Beschwerdeführer hatten damals vorgetragen, dass durch die Übertragung von Souveränitätsrechten an die supranationale Europäische Union der Deutsche Bundestag entmachtet und damit das Demokratieprinzip ausgehöhlt werde. Außerdem würden durch die Verlagerung bestimmter Kompetenzen die deutschen Grundrechte verletzt, da über grundrechtsrelevante Themen nun auf europäischer, nicht auf deutscher Ebene entschieden werde.
Zwar verwarf das Bundesverfassungsgericht damals die Verfassungsbeschwerden im Wesentlichen und bestätigte den Beitritt Deutschlands zur EU. Aber es schränkte ein, dass die Übertragung von Kompetenzen der Bundesrepublik auf die EU auch weiterhin nur auf bestimmte Bereiche begrenzt und nur unter ausdrücklicher Ermächtigung des deutschen Gesetzgebers erfolgen könne (entsprechend dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 EUV). Die EU dürfe ihre Zuständigkeit nicht einseitig über den Text des Maastricht-Vertrages hinaus ausdehnen. Das Bundesverfassungsgericht behielt sich außerdem ausdrücklich vor, im Einzelfall zu prüfen, ob künftige Rechtsakte von EU-Organen über die im Vertrag eingeräumten Hoheitsrechte hinausgehen (sogenannte ultra-vires-Kontrolle).
An dieser Rechtsprechung hielt das Bundesverfassungsgericht in der Folgezeit fest.
In dem sogenannten Lissabon-Urteil vom 30.6.2009 entschied es zwar, dass der Vertrag von Lissabon und das deutsche Zustimmungsgesetz hierzu den Vorgaben des Grundgesetzes entsprächen. Aber es machte deutlich, dass die Souveränität der einzelnen Mitgliedstaaten grundsätzlich unverzichtbar bleibe. Die primäre Integrationsverantwortung obliege den nationalen Verfassungsorganen, insbesondere also deren Regierungen und Parlamenten. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wie bereits im Maastricht-Urteil entschieden, dürfe nicht angetastet werden, da die Europäische Union als Staatenverbund gegenüber dem einzelnen Mitgliedsland mit einem jeweils demokratisch gewählten Parlament ein gewisses Demokratiedefizit aufweise.
Zurück zum vorliegenden Verfahren. Nachdem in Deutschland mehrere Personen Verfassungsbeschwerde dagegen eingelegt hatten, dass Bundestag und Bundesregierung nichts gegen die massenweisen Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB unternommen hatten, setzte das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 18.7.2017 das Verfahren aus und legte die Sache gemäß Art. 267 Abs. 1 AEUV dem Europäischen Gerichtshof zur Beantwortung der – vorrangigen – Frage vor, ob dieses Verhalten der EZB gegen Unions-Recht verstoßen habe bzw. verstoße.
Die Arroganz der EZB gegenüber deutschen Verfassungsrichtern
Der Europäische Gerichtshof stellte mit Urteil vom 11.12.2018 (C-493/17; EU: C2018:1000) fest, dass er keinen Verstoß gegen EU-Recht erkennen könne. Der Gerichtshof begründete seine Entscheidung u.a. damit, dass der Präsident der EZB auf Befragen versichert habe, dass die Ankäufe im Rahmen des PSPP vorrangig der Sicherung der Preisstabilität gegolten hätten (Art. 127 AEUV) und dass ein Verstoß gegen Art. 123 AEUV nicht vorliege.
Nach Eingang dieses Urteils führte das Bundesverfassungsgericht am 30. und 31. Juli 2019 eine mündliche Verhandlung in Karlsruhe durch. Zu dem Termin erschienen viele geladene Sachverständige, u.a. von Universitäten, von Privatbanken und von der Deutschen Bundesbank. Obwohl auch die EZB eine Einladung bekommen hatte, nahm kein Vertreter der EZB an den mündlichen Verhandlungen teil. Hierzu sei am Rande bemerkt: Dieses Verhalten der EZB war eine Unverschämtheit und ein Affront gegenüber dem Bundesverfassungsgericht. Wenn das Bundesverfassungsgericht, also das höchste Gericht Deutschlands, des größten Einzahlers der EU, über eine Frage entscheidet, die unmittelbar das Verhalten der EZB und möglicherweise das zukünftige Verhalten Deutschlands in dieser Frage berührt, war es ausgesprochen arrogant und unhöflich, dass die EZB nicht zu den Terminen erschien.
Am 5.5.2020 verkündete der Vorsitzende des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Voßkuhle, sodann das Urteil. Das Gericht stellte fest, dass Bundesregierung und Bundestag die Beschwerdeführer in ihren Rechten aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 S. 2 GG i.V.m. Art 79 Abs. 3 GG verletzt haben, da sie, also Bundesregierung und Bundestag, es unterlassen hatten, Maßnahmen gegen die langjährigen Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB zu ergreifen.
Das Gericht hielt damit an seiner Rechtsprechung zur ultra-vires-Kontrolle fest. Grundsätzlich lege das Bundesverfassungsgericht also bei der Frage nach Gültigkeit oder Rechtmäßigkeit von Maßnahmen der EU-Einrichtungen das jeweilige Urteil des Europäischen Gerichtshofs zugrunde. Dies gelte aber nicht, wenn die Auslegung des EU-Rechts durch den Europäischen Gerichtshof nicht mehr nachvollziehbar und daher objektiv willkürlich sei. Überschreite der Europäische Gerichtshof diese Grenze, so sei seine Entscheidung in Deutschland nicht bindend.
„Methodisch nicht mehr vertretbar“
Das Bundesverfassungsgericht attestierte dem Europäischen Gerichtshof im vorliegenden Fall (Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB), dass dessen Urteil vom 11.12.2018 „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar und insoweit ultra vires ergangen“ sei (Randnummer 116 des Urteils). Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs sei „methodisch nicht mehr vertretbar“ (Rn. 141). Eine schallende Ohrfeige für den Europäischen Gerichtshof. Noch schlechter kann man das Urteil eines obersten Gerichts kaum bewerten.
Das Bundesverfassungsgericht stellte insoweit fest, dass die Selbstbeschränkung des Gerichtshofs, nur „offensichtliche“ Beurteilungsfehler der EZB zu prüfen, seiner Aufgabe als Rechtsprechungsorgan der EU (Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV) nicht mehr gerecht werde. Das Bundesverfassungsgericht entschied daher, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 11.12.2018 nicht bindend ist in Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht entschied weiter, dass alle EU-Akte, also auch die Ankäufe von Staatsanleihen durch die EZB, verhältnismäßig sein müssten gemäß Art. 5 Abs. 1 S. 2 EUV. Die Verhältnismäßigkeit eines Programms zum Ankauf von Staatsanleihen setze neben der Eignung zur Erreichung des angestrebten Ziels und seiner Erforderlichkeit voraus, dass das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. Das sei bei dem Programm PSPP nicht geschehen. Daher seien die Ankäufe rechtswidrig, nämlich ultra-vires, gewesen.
Einen Verstoß gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV, also einen Verstoß gegen das Verbot des Erwerbs von Schuldtiteln von Mitgliedsländern durch die EZB, verneinte auch das Bundesverfassungsgericht, insoweit in Übereinstimmung mit dem Europäischen Gerichtshof. Schließlich entschied das Gericht, dass deutsche Verfassungsorgane und Behörden, auch die deutsche Bundesbank, weder am Zustandekommen noch an der Umsetzung von ultra-vires-Akten der EU mitwirken dürfen (Rn. 234). Die Bundesbank darf daher nur noch maximal drei Monate an den Ankäufen von Staatsanleihen durch die EZB mitmachen. Danach ist der Bundesbank jede Mitwirkung an den Anleihekäufen verboten, es sei denn, die EZB würde innerhalb der Frist nachvollziehbar darlegen, dass die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen (Rn. 235).
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Der Autor ist Richter an einem deutschen Gericht und schreibt hier unter Pseudonym.