Eine dänische Lehrersekte um einen gerissenen Maoisten gründete eine Schule und baute vor fast 50 Jahren das erste große Windrad der Welt. Das Sekten-Projekt ist gescheitert, aber diese Windräder werden jetzt massenhaft gebaut.
Das alte Windrad gibt mitunter seltsame Laute von sich, als ächze es unter der Last seiner Jahre. Und manchmal verhält es sich sonderbar. Die Rotorblätter, weißrot getüncht wie die gesamte Anlage, stehen plötzlich still, trotz anhaltendem Wind aus Nordwest. Nur, um nach zehn Minuten oder so wieder in Fahrt zu kommen. Stimmt da was nicht? Wer sein Auto auf dem Parkplatz vor der 54 Meter hohen Konstruktion geparkt hat, könnte auf den Gedanken kommen, es besser anderswo abzustellen. Außerhalb des Fallradius der Windradflügel jedenfalls. Aber da steht kein Wagen auf dem Parkplatz. Die einzigen Besucher an diesem Nachmittag, zwei Tschechen in einem Wohnmobil, sind längst fort.
Dabei ist hier ein Industriedenkmal zu bestaunen, das es in sich hat. Genauer gesagt, ein Monument des industriell-ökologischen Komplexes. Hier, inmitten von Äckern und Kiefernwäldern, unweit der dänischen Nordseeküste, befindet sich der Ursprung eines atemberaubenden Schwindels. Quell eines mittlerweile billionenschweren Geschäfts auf Kosten wohlmeinender Bürger, die sich einreden lassen, man könne Deutschland mit Zappelstrom betreiben. Das Ur-Projekt firmiert unter der Dachmarke Tvind. Im Internet macht es einen recht lebendigen Eindruck. Vor Ort herrscht freilich tote Hose. Auf dem weitläufigen Komplex nahe des Städtchens Ulfborg, gesprenkelt mit jeder Menge langer einstöckiger Gebäude für Unterkünfte, Schulräume, Seminare, Werkstätten, Küchen, tut sich – nichts. Alles verschlossen, inaktiv, patinös.
Hat die Grabesruhe mit Ferien zu tun? Immerhin begann Tvind mal als „alternative Schule“. Doch schreiben wir erst Anfang Juni. Bis zu den dänischen Sommerferien dauert es noch Wochen. Ein paar Handwerker arbeiten auf dem Gelände, doch ihr Englisch oder ihr Wille reicht nicht für Auskünfte. Das Ganze wirkt wie ein lost place, wären da nicht die wohlgestutzten Rasenflächen. Rasenmähen ist nicht nur eine deutsche Obsession, auch eine dänische.
Der Neue Mensch
Einst tobte hier das linke Leben. Anfang der 1970er gründete ein Maoist namens Mogens Amdi Petersen zusammen mit einem ihm ergebenen Kader aus hochpolitisierten Lehrern einen Bauernhof bei Ulfborg. Sie bauten den Hof zu einer „freien“ Schule um, die, wie die meisten vorgeblich freien Projekte, natürlich von Staatsknete alimentiert wurde. Der charismatische Amdi, wie ihn seine Jünger nannten, hatte in den 1960ern eine Lehrerausbildung absolviert und war dabei auf einen genialen Einfall gekommen.
Alternative Schulen erhielten im damaligen Sozialparadies Dänemark großzügige Unterstützung. Lehrer wurden sehr gut bezahlt, die Schulbauten üppig subventioniert. Vom Scientology-Erfinder L. Ron Hubbard stammt die Erkenntnis, man müsse in den USA bloß eine Kirche gründen, um reich zu werden. In Dänemark brauchte man „Kirche“ nur durch „Schule“ ersetzen.
Staatlicherseits kontrolliert wurden diese Schulen so gut wie nie. Sie waren in der Regel auch prüfungsfrei, konnten sich daher ganz auf das Eintrichtern von ideologischen Botschaften konzentrieren, gern solche des Vorsitzenden Mao. Für Amdi Petersen und seine zunehmend fanatischer werdende Lehrerclique hieß das: den Neuen Menschen schaffen. Nur mit ihm konnte der Sieg über die bürgerliche Gesellschaft, die Kleinfamilie, die „Faschisten“ gelingen. Faschisten waren gängige Paranoia bei Tvind. Andis Gefolgsleute witterten – ausgerechnet in Dänemark – hinter jeder Pølserbude einen Fascho.
Alles Nazis außer Amdi!
Tvind eröffnete nach und nach 31 Ableger, rekrutierte idealistische junge Leute aus halb Europa, gründete eine „reisende Hochschule“. Deren Schüler tourten in klapperigen Bussen durch die Dritte Welt, beglückten dort Einheimische mit ihrem – völlig nutzlosen – Besuch. Bald waren über 600 Lehrer bei Tvind beschäftigt, das Steuergeld floss in Strömen. Nach Art deutscher K-Gruppen mussten die Tvind-Leute ihr Gehalt größtenteils in einen Gemeinschaftstopf werfen. Aus dem wurde die rasante Expansion des Unternehmens finanziert.
Als Goldgrube erwies sich besonders ein international aufgestellter Tvind-Ableger, der etwa unter dem Label „Humana“ Altkleider sammelte und weiterverkaufte, den Erlös für Arme zu spenden versprach. Selbstredend kam es dazu höchstens ausnahmsweise. Dem Tvind-Boss Petersen, der sich innerhalb weniger Jahre vom Mao-Anbeter zum Großkapitalisten mauserte, war offenbar bereits früh aufgegangen: Man muss ein undurchschaubares Netz von Firmen spinnen, um Gewinne hin- und herzuschieben, über Steueroasen zu transferieren und schließlich auf das eigene Konto zu lenken. Der Spiegel (unter der Ägide des Chefredakteurs Stefan Aust) hat 1996 im Stück „Imperium der Lumpensammler“ die clevere Masche penibel recherchiert.
Genosse Amdi setzte sich schon 1979 aus Dänemark ab, blieb aber oberster Strippenzieher seiner treudoofen Hiwis. Obwohl diese quasi kaserniert lebten, kam dem einen oder anderen doch mal was von der wachsenden Kritik zu Ohren, die dänische Blätter am Tvind-System übten. Petersens Sekten-Kapos impften potenziell Abtrünnige dann mit der Generalformel, sämtliche Vorwürfe seien von Faschisten inszeniert. Und die CIA versuche, Spitzel bei Tvind einzuschleusen. Alles Nazis außer Amdi! Wie man sieht, hat der unaufhörliche deutsche „Kampf gegen rechts“ Vorläufer, sogar beim hyggeligen Nachbarn.
Maos großer Sprung nach vorn
In Deutschland stand der Name Tvind vor allem für das Leuchtturmprojekt der Sekte, die damals weltgrößte Windkraftanlage. Ich erinnere mich, dass marxistisch gepolte Buchläden (etwa „Arbeiterbuch“ im Hamburger Univiertel, wo K-Gruppenanhänger, linke Sozialdemokraten, AKW-Gegner, Dritte-Welt-Aktivisten verkehrten) reichlich Propagandamaterial über den Bau vorhielten. In den Augen der Apologeten war die Tvindmühle so etwas wie Maos großer Sprung nach vorn, aber richtig. Ein Ding, welches nicht bloß der teuflischen Atomindustrie, sondern womöglich gleich dem ganzen Kapitalismus das Totenglöckchen läuten würde.
Nach Ulfborg in Mitteljütland pilgerte das gesamte Spektrum der damaligen deutschen Linken, um das entstehende Wunderwerk zu bestaunen. Auch in bürgerlichen Kreisen besaß die Unternehmung Sympathisanten. Die sogenannten Ölkrisen der Siebziger hatten für Verunsicherung gesorgt. Die Doomsdayers vom Club of Rome und die Welle wachstumsphober Agitationsliteratur à la Robert Jungk gaben Tvind ordentlich Rückenwind. Warum denn nicht auf Wind statt auf Atom setzen?
Was den Bau der Tvind-Mühle betrifft: Tatsächlich war es verblüffend, zu sehen, zu welchen Höhen der kollektiven Selbstausbeutung sich Menschen aufschwingen können, macht man ihnen nur weis, sie verkörperten den neuen Menschen. Ab 1975 zogen hunderte von Tvind-Insassen zusammen mit durch Zeitungsannoncen geworbenen Freiwilligen den Betonspargel in endlosen Schichten hoch. Unterstützt wurden sie von lokalen Firmen, die schweres Gerät gratis oder sehr günstig zur Verfügung stellten.
Skandale
Viele der malochenden Enthusiasten waren nicht vom Fach, mussten zum Beispiel den Umgang mit Glasfiber erst an Booten proben. Beton mischten sie selber an, um Geld zu sparen. Die Gondel und ihre Maschinen stammten aus Second-Hand-Teilen. Als das Tvind-Rad 1978 seine ersten Runden drehte, jubelte die Alternativszene, als sei ein AKW in die Luft geflogen.
Fotos über den Bauprozess, die im feuchten Fundament der Mühle ausgestellt sind, glorifizieren die Mühen der Malocher. Aber hatte es sich nicht gelohnt? Auf einem Bild ist die Übergabe des „Europäischen Solarpreises“ in der Kategorie „Bildung und Ausbildung“ an die Tvind-Schule zu sehen. Überreicht wurde der Preis von dem SPD-Politiker Hermann Scheer, ein ausgekochter Lobbyist der Zappelstrombranche. Das Foto stammt aus dem Jahr 2008.
Zu dieser Zeit war der Lack des Tvind-Imperiums längst ab. 1996 hatte der über zwei Jahrzehnte lang lammsgeduldige dänische Staat den Schulen endlich den Geldhahn zugedreht. In den Jahren davor war immer mehr Skandalöses durchgesickert. Nicht nur die finanziellen Schiebereien und die Ausbeutung von Mitarbeitern bei der Altkleiderverwertung Humana, sondern auch die fast kriminelle Inkompetenz mancher Tvind-Lehrer betreffend.
„Der Windmühlen Wahn“
Tvind-eigene „Schulschiffe“, so berichteten Passagiere, seien teils kaum noch seetüchtig gewesen. Auf anderen Kähnen gaben marxistische Ideologen den Kurs vor, die von Seefahrt keinen Schimmer besaßen. 1983 sank die „Activ“ bei einem Sturm im Ärmelkanal. Acht Menschen kamen dabei ums Leben. Tvind-Gründer Petersen hat, wie es scheint, alle Stürme bestens überstanden. Heute 85 Jahre alt, soll er sich nach Presseberichten eines luxuriösen Ruhestands an sonnigen Gestaden erfreuen. Zwar steht sein Name auf einigen Fahndungslisten. Aber welchem Guru – Bhagwan lässt grüßen – ist nicht solches auch schon passiert?
Und Amdis größtes Vermächtnis, das Windrad in Ulfborg? Sehr viel Strom hat es den Dänen über all die Jahre nicht gebracht; das Gros verbrauchte die Tvind-Kommune immer selber. Aber der symbolische Wert ist nicht zu unterschätzen. Am Ende einer Broschüre, die man aus einem Kasten unterhalb des Windturms fischen kann, stehen die Zeilen: „Wir hatten Erfolg. Dänemark bekam Tvindkraft. Als erste der großen Anlagen ebnete sie den Weg für Millionen anderer auf der ganzen Welt.“
Stimmt. „Der Windmühlen Wahn“ (so ein Spiegel-Titel, ebenfalls aus der Aust-Ära des Magazins) grassiert, Fläche um Fläche deckend. Auf dem Rückweg von Ulfborg nach Deutschland, entlang der von Emil Nolde verewigten Nordseeküste, erblickt man die großen Himmelspanoramen nunmehr zugestellt. Davor daddelt ein Heer von Riesenrobotern, jeder noch viel höherragend als der Turm von Tvind. Noldes Landschaftswelten: ganz und gar im Eimer. Man muss das aus der Nähe gesehen haben. Also, zum Beispiel vor dem Anfang der A23 bei Heide mal aus dem Auto zu steigen. Motor abstellen, in alle Richtungen gucken, lauschen. Triggerwarnung: nur was für Leute mit wirklich starken Nerven.
Wolfgang Röhl, geboren 1947 in Stade, studierte Literatur, Romanistik und Anglistik. Ab 1968 Journalist für unterschiedliche Publikationen, unter anderem 30 Jahre Redakteur und Reporter beim „Stern”. Intensive Reisetätigkeit mit Schwerpunkt Südostasien und Lateinamerika. Autor mehrerer Krimis.