Hannes Stein / 29.11.2006 / 10:24 / 0 / Seite ausdrucken

Das Ende des kalten Krieges

Siegfried Reiprich erinnert mich anlässlich des zu Tränen gerührten Abschieds seiner ehemaligen Genossen vom DDR-Geheimdienstchef Markus Wolf an diesen glänzenden Text aus der Feder von LESZEK KOLAKOWSKI, der 1975 in der “New York Times” stand; zu finden ist er in dem Piper-Band “Leben trotz Geschichte” (München 1977). Er geht so:


30. Jahrestag der Neuen Ordnung in Europa

Heute sind es auf den Tag genau 30 Jahre, seit die Nazi-Armeen nach der Eroberung von Rußland und Großbritannien endgültig die Neue Ordnung der Wahren Freiheit in Europa errichtet haben. Es ist dies ein guter Anlaß für einen Augenblick der Reflexion. Nach dem letzten freundschaftlichen Treffen von Präsident Gerald Ford mit dem Großkanzler des Dritten Reichs Joseph Goebbels (der- trotz seines Alters - in bemerkenswert guter Verfassung und bei guter psychischer Stimmung ist) und nach den; zahlreichen Begegnungen zwischen unserem Außenminister Staatssekretär Henry Kissinger mit dem Reichsminister des Auswärtigen Baldur von Schrach können wir ganz klar erkennen, wie die neue kreative Atmosphäre der Detente, der Entspannung, endgültig den Sieg davongetragen hat über die bedauerlichen und gefährlichen Überbleibsel des Kalten Krieges.

Rufen wir uns dies ins Gedächtnis zurück: Nachdem Herr Adolf Hitler, der Schöpfer, Erbauer und erste Großkanzler der Neuen Ordnung der Wahren Freiheit, 1953 gestorben war, setzte fast unmittelbar darauf die neue Ära der sogenannten Enthitlerisierung des Nazismus ein, obwohl für sehr lange Zeit sowohl die Politiker als auch die Wissenschaftler Amerikas die echte und tiefgreifende Bedeutung dieses Ereignisses nicht zu begreifen vermochten. Erst in jüngster Zeit, nach Jahren der größten Irrtümer, haben es amerikanische Staatsmänner und Historiker mit Erfolg vermocht, sich von den zahllosen überholten, ewig gestrigen und vulgären Anti-Nazi-Klischees zu befreien, die auf simpelste Weise den Nazismus mit dem Hitlerismus identifizierten und uns daran hinderten, beides zu begreifen, nämlich sowohl die Komplexität der Nazi-Geschichte als auch den historischen Sinn der Neuen Ordnung der Wahren Freiheit in Europa.

Neue Forschungen von sehr vielen redlichen Gelehrten, die von den primitiven Vorurteilen einer vorangegangenen Generation frei sind, haben ein völlig anderes, differenziertes und - wie wir fest überzeugt sind - weit gerechteres Bild der letzten Dekaden der europäischen Geschichte uns gezeigt und nahegebracht. Wir dürfen hier ein paar (gewiß viel zu wenige) Punkte dieser so lange schon nötig gewesenen Revision nennen.

Beginnen wir mit der nüchternen Feststellung: Niemand von uns leugnet einige bedauerliche Punkte in der Politik des verstorbenen Herrn Hitler und auch - wenn wir dies in unserem freien Lande so sagen dürfen - einige Aktionen, die ohne allzu große Übertreibung sogar als Verbrechen bezeichnet werden könnten. Die Tatsache, daß es keinem Juden in Europa erlaubt war, sein Leben fortzusetzen, daß die Hälfte der Bevölkerung von Polen, der Ukraine und der Tschechoslowakei und ein Drittel der russischen Bevölkerung usw. nicht dazu ermutigt wurden, am Leben zu bleiben, mußte einen Schatten auf die Neue Ordnung in den Augen nicht weniger, ja sogar sehr vieler Menschen werfen.

In der Tat scheint Herr Hitler den Schaden nicht erkannt zu haben, den er seinem eigenen Land zugefügt hat. Und die jüngsten Untersuchungen amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler haben ohne Zweifel nachgewiesen, daß die starke Konzentration der europäischen Industrie auf die Errichtung von Gaskammern und Krematorien Europas metallurgische Fähigkeiten von wichtigeren Aufgaben abhielt und auf solche Weise den wirtschaftlichen Wiederaufbau des Kontinents in der Nachkriegszeit verzögerte.

Doch “die Vergangenheit ist vorüber”, wie der alte Herr Himmler, Ehrenpräsident der Gesellschaft für amerikanisch-europäische Freundschaft, gestern in Berlin während eines Banketts zu Ehren von Henry Kissinger weise festgestellt hat. In der Tat: die Vergangenheit ist vorüber - aber das muß uns nicht daran hindern, manchmal in ihre verworrenen und oft mißverstandenen Geheimnisse hineinzugucken.

Wir dürfen nicht vergessen, daß als Ergebnis der zutiefst dialektischen Bewegung der Geschichte die gleiche Politik, obwohl sie in mancher Hinsicht unerfreulich gewesen sein mag, nicht auch ihre helleren und positiveren Seiten gehabt, sondern auch enorm zu dem dynamischen und imponierenden Fortschritt seit damals beigetragen hat sowohl auf wirtschaftlichem wie auf kulturellem Gebiet. Es gibt keine Juden mehr in Europa, aber als Folge davon ist auch der Antisemitismus aus Europa im wesentlichen verschwunden, was - wir sollten das offen eingestehen - in den USA nicht der Fall ist.

Die europäische Bevölkerung hat unerhört viel an Mobilität gewonnen; so ist zum Beispiel die gesamte Bevölkerung von Holland zum Holzfällen in Nordostschweden, während übervölkerte Gebiete Bayerns nach Holland verlegt worden sind; die Tschechen sind im Bergbau des ehemaligen Nordrußland tätig, während die Deutschen in der Landwirtschaft von Arbeitern aus Polen und der Ukraine abgelöst worden sind. Wer wollte leugnen, daß die Mobilität der Bevölkerung eines der am besten untersuchten Kennzeichen für sozialen Fortschritt ist? Und werfen wir einen Blick in die Statistik der industriellen Entwicklung: Belgiens Stahlproduktion hat sich seit :1939 verdreifacht, die Holzindustrie in Finnland hat sogar - vornehmlich dank dem Einsatz italienischer Arbeitskräfte - den gewaltigen Sprung von 600 % gegenüber der Vorkriegsproduktion machen können. “Was offensichtlich ist, ist offensichtlich”, hat Präsident Ford bei dem Dinner mit Minister Ribbentrop eingestanden, das anläßlich der Unterzeichnung des historischen Vertrages über die gegenseitige unverbrüchliche Liebe (Mutual-Passionate-Love- Treaty) stattfand.

Der entscheidende Punkt ist, daß viele Propagandisten des Kalten Krieges nicht nur Jahre hindurch absurderweise die Exzesse des Hitlerismus mit dem Nazismus gleichsetzten, sondern - was viel schlimmer ist - törichte Vergleiche zwischen dem Nazismus und dem kriminellen, mörderischen Regime Stalins, das glücklicherweise von den Naziarmeen im Mai 1945 beseitigt worden ist. Um diese Identifikation zu rechtfertigen, erfanden diese Phantasten sogar das Wort “totalitär”, was es ihnen ermöglichte, mit einem bequemen Instrument ihre antiwissenschaftlichen Ideen einer amerikanischen Zuhörerschaft zu verkaufen. Jüngste Forschungen haben dieses unsinnige Konzept nun vollständig und endgültig als solches entlarvt. Ebenso zurückgewiesen ist die naive Ansicht, die einige Gelehrte bis un- längst vertreten haben, daß nämlich der Nazismus von Anfang an sozusagen eine im System gelegene Tendenz besessen habe, die in der bizarren Politik von Herrn Hitlers späten Jahren hätte notwendig zur Explosion kommen müssen. Wir wissen heute, daß es keine “Prä-Determination” solcher Art gegeben hat. Nehmen wir das jüdische Problem. Herrn Hitlers frühes Programm ist - darüber besteht kein Zweifel- antijüdisch, aber es sagt kein Wort über die Notwendigkeit, alle Juden in Gaskammern zu töten; auch allergründlichste Forschungen haben diese Idee in irgendeiner frühen Nazischrift nicht aufzufinden vermocht! Und später, in den sogenannten Nürnberger Gesetzen, wurden die Juden lediglich daran gehindert, Arier zu heiraten - zum Schutze der Erhaltung der rassischen Reinheit. Man mag diese gesetzliche Aktion kritisieren (obwohl zugegeben werden muß, daß damit eine klare gesetzliche Ordnung geschaffen worden ist nach einer Periode des Chaos und der Unsicherheit), aber wiederum hatte dies nichts zu tun mit Gaskammern. Gewiß wurden den Juden einige Rechte genommen, und wir mögen auch daran Kritik üben, obwohl wir seit dem großen Nietzsche wissen, wie wenig Bedeutung das vielgerühmte Wahlrecht hat. Später, im Jahre 1940, wurde den Juden lediglich befohlen, in Gettos zu leben; wiederum gelingt es der historischen Forschung nicht, irgendeine Idee von Gaskammern in dieser Periode nachzuweisen. Erst einige Jahre später kam es zu dieser bedauerlichen Entscheidung. Es wäre aber töricht und völlig unhistorisch, das Gaskammerkonzept in Herrn Hitlers Mein Kampf nachweisen zu wollen, wo es völlig fehlt. Dies zu tun hieße, die Gegenwart in die Vergangenheit zu projizieren in dem Glauben, daß alles bereits vorgeplant gewesen sei. In Wirklichkeit gab es viele Stufen in der Nazipolitik gegenüber den Juden, und auf jeder Stufe waren alle Optionen offen - nichts war bestimmt durch die geheimnisvollen Kräfte der Ideologie, die angeblich von Anfang an in der Nazibewegung am Werke gewesen seien.

Im Lichte dieser Forschung erweist sich das ganze Konzept eines sogenannten “Hitlerismus” immer mehr als unbrauchbar. Wir haben es mit vielen Jahren eines komplexen historischen Prozesses zu tun, von denen sich ein jedes von dem vorangegangenen und dem folgenden unterscheidet. Was ist nun aber eigentlich “Hitlerismus”? Und wie kann er definiert werden? Was Herrn Hitler selbst betrifft, was für ein simplifiziertes Bild von ihm ist uns geblieben nach Jahren der Kalten-Krieg-Propaganda! Wir sind geneigt zu vergessen, daß er zum Beispiel Filme gefördert hat, die - auch wenn wir nicht immer mit ihrem Inhalt übereinstimmen mögen - künstlerisch hervorragend waren. Er befahl die Veröffentlichung der Werke von Goethe und Schiller. Er baute Straßen und eindrucksvolle öffentliche Gebäude, wobei er viele dieser Projekte mit seinen Architekten sorgfältig diskutierte (einige von ihnen waren seine Freunde), er beseitigte die Arbeitslosigkeit in Deutschland und später in Europa, während wir heute in den USA sieben Millionen Menschen ohne Arbeit haben. Seien wir also etwas bescheidener und beweisen wir common sense, eine Eigenschaft, die glücklicherweise auf dem Wege zum Siege ist.

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