Als patriotische Begleitmusik zum großen britischen Wahlmarathon gab es diese herrlichen Jagdszenen vor der französischen Nordküste. Weil die zur britischen Krone gehörende Kanalinsel Jersey unmittelbar vor Frankreich liegt, prallen hier die Interessen der königlichen und der kontinentalen Fischer knallhart aufeinander. So hart, dass sich Frankreich und Britannien dort mit bewaffneten Patrouillenbooten begegneten, als wären Jeanne d'Arc und John Lancaster, der Herzog von Bedford wieder auferstanden. Ein Insel-Fischer schoss sogar wunderbar nostalgisch eine Muskete in Richtung Kontinent.
Szenenwechsel: Am Nordende des Königreichs entschieden derweil die Schotten in einer nationalen „Landtagswahl“, wie stark ihr Drang ist, sich nach drei gemeinsamen Jahrhunderten ganz von den Engländern scheiden zu lassen. Droht das Empire, das im Süden so wählerwirksam zurückschlug, im Norden unterzugehen? Naja. Nachrichten von einem unmittelbar bevorstehenden Ausbruch der Schotten aus dem Vereinigten Königreich haben sich wieder mal als verfrüht erwiesen. Zwar hat sich Nicola Sturgeon, die Chefin der schottischen Nationalisten (SNP) zur Siegerin erklärt und glaubt, ein Votum für ein unabhängiges Schottland erhalten zu haben. Aber hat sie es wirklich?
Die Schotten brauchen zu einem neuen Scheidungs-Referendeum die Zustimmung Westminsters, also die Zustimmung Boris Johnsons, die diese im Ernstfall verweigern will. Ob und wann dieser Ernstfall eintritt, steht trotz Nicola Sturgeons Sieg in den Sternen. Die Chefin der schottischen Nationalisten, Erste Ministerin ihres Landes und energischste Unabhängigkeits-Propagandistin spielt auf Zeit. Sie will abwarten und Tee trinken und schauen, was sich da unten in London noch tut.
Es ist halt alles ein bisschen aus dem Ruder geraten, seit sich London von Brüssel verabschiedet hat. Wie sehr, das zeigte die stundenlange Kanonenboot-Konfrontation des „perfiden Albion“, wie die französische Dichtung das Inselkönigreich nennt, mit der „Grande Nation“. Ein Grund für diese Karikatur eines bewaffneten Konflikts: Der Brexit ist von Boris Johnson schludrig verhandelt und schlampig verwirklicht worden. Sein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union hat jede Menge bürokratische Mucken und juristische Fallstricke offenbart.
Folgt dem Brexit noch der Exit Schottlands?
Da ist das Ärgernis für hunderttausende Briten, die sich im sonnigen Süden des Kontinents ein zweites zu Hause geschaffen haben und nun als Bürger eines Drittlandes immer wieder nach drei Monaten oder ganz und gar ihre Koffer packen müssen.
Ernster ist die neue, unübersichtliche und kostspielige Formular-Flut, mit der sich britische Exporteure herumschlagen müssen. Viele Kleinere haben schon aufgegeben. Einige Größere schaffen sich Ableger auf dem Kontinent und exportieren so Arbeitsplätze. Der große und nahe europäische Markt lässt sich nicht so leicht durch Abkommen mit den fernen Verwandten in Amerika und Australien ersetzen. Die britischen Fischer, denen eine große Brexit-Freiheit versprochen worden war, mussten erleben, wie ihre Fische auf dem bürokratischen Weg nach Europa alt und nahezu unverkäuflich wurden. Eine ganze Küstenwirtschaft stirbt weg.
Und nun schwebt über allem die Frage: Folgt dem Brexit noch der Exit Schottlands aus dem Vereinigten Königreich? Den Abschied von der EU haben die Schotten ja den Engländern zu verdanken. Mit ihrer Brexit-Entscheidung haben sie die Schotten, die mehrheitlich in der EU bleiben wollten, überrumpelt. Es war die zweite Überrumpelung. Im ersten Referendum über ihre Zukunft vor sieben Jahren hatten sich die Schotten nur aus einem Grund für die Union mit den Engländern entschieden: Sie wollten mit ihnen in der EU zu bleiben. Und die haben dann prompt ihren nördlichen Nachbarn aus Europa hinausmanövriert. Ätschi bätschi, um eine deutsche Politikerin zu zitieren.
Seither nehmen die schottischen Nationalisten den Brexit-Engländern ihre eigenen Worte aus dem Mund und wenden sie gegen sie: „Wir wollen unser Schicksal selber bestimmen.“ Die Parallelen sind verblüffend, vor allem die Probleme, die eine Scheidung brächte. Die Briten haben sich durch die neu gezogene Außengrenze den Handel mit ihrem größten Partner, dem Kontinent erschwert; die Schotten müssten sich als unabhängiges EU-Land auf eine Grenze nach England einrichten. Also ebenfalls auf eine kostspielige Hürde zu ihrem mit Abstand wichtigsten Handelspartner. Wie beim Brexit geht es auch bei der Nordvariante um eine Entscheidung zwischen nationaler Seele und ökonomischen Daten.
Boris Johnson kann das alles vorerst nicht erschüttern. Obwohl er den Brexit und seine Folgen ziemlich vergeigt hat, steht weiterhin eine Mehrheit der Engländer zu seiner Politik eines von Brüssel befreiten Königreichs. Sogar der Kuddelmuddel um Nordirland mit seiner Illusion einer „unsichtbaren“ Grenze hat daran nichts geändert. Seine Corona-Politik, anfangs ein tödliches Desaster, seither ein beeindruckender Impf-Erfolg, hilft ihm inzwischen. Das bewies der Wahlmarathon vom Donnerstag mit Macht. Während die Labour-Partei ihr klassisches Publikum verliert und als Woke- und Political-Correctness-Verein immer mehr vereinsamt, konnte Johnson schon früh mit einem Siegerlächeln vor die Kameras treten. Und das mitten in einer Wahlperiode, in der normalerweise die Regierung bestraft wird.
Brexit Placebo für den ausgeprägten britischen Nationalstolz?
Seine eindrucksvollste Trophäe: In Hartlepool schnappten die Tories bei einer Nachwahl zum Unterhaus der Labourpartei erstmals und mit Leichtigkeit den Sitz weg. In den englischen Kommunalwahlen südlich der Hadrians-Mauer erwies sich die konservative Partei als durchweg erfolgreich. Der Premierminister steht nach diesem Wahl-Marathon so stabil da wie er es sich nur wünschen kann.
Oder? Ein Caveat: Steter Tropfen kann auch in der Inselpolitik den Stein aushöhlen. Sollten sich die ökonomischen Brexit-Schwierigkeiten noch lange fortsetzen, womit zu rechnen ist, wird sich entweder der flexible Johnson selber oder ein Nachfolger etwas einfallen lassen müssen. Statt der bisherigen Reparaturarbeiten und Schuldzuweisungen in Richtung Brüssel wird der Wunsch nach einer grundlegenden Lösung drängender werden. Die liegt näher, als Johnson und seine scharfen Brexit-Anhänger wahrhaben wollen. Sie heißt: statt des harten Brexit ein nur noch gefühlter Brexit. Konkret: Keine Rückkehr in die EU, aber eine Rückkehr in den gemeinsamen Markt und in die Zollunion nach den Vorbildern Norwegen und Schweiz.
Damit wäre der ganze, ökonomische desaströse Papierkrieg zwischen dem Königreich und dem Kontinent wie weggezaubert. Allerdings wäre dieser gefühlte Brexit vor allem eine Art Placebo für den ausgeprägten britischen Nationalstolz. Denn London müsste wieder den Regeln folgen, die in Brüssel formuliert werden. Die Norweger und die Schweizer leben seit langem ganz gut mit dieser gefühlten Unabhängigkeit. Die Schotten könnten erst recht damit leben. Sie hätten das Beste beider Welten: keine Handelsschranken, weder nach England noch nach Europa. SNP-Chefin Nicola Sturgeon hätte dann zwar eine Wahl gewonnen. Aber sie hätte das wichtigste Argument für eine schottische Unabhängigkeit verloren. Wegen eklatanter Überflüssigkeit.
Ihr bester politischer Unterstützer ist bisher ihr Gegner Boris Johnson. Mit seinem Beharren auf einem harten und schmerzhaften Brexit hält er auch den schottischen Wunsch nach einem eigenen Staat am Leben. Auch wenn es vorerst nicht so aussieht: Sollte dieser Wunschtraum der Schotten eines Tages wahr werden, so wäre das der Untergang des Rest-Empires. Es bliebe Klein-England. Nicht einmal Wales wäre noch sicher im Boot. Nordirland nähert sich trotz der neuen Unruhen ohnehin langsam, aber unaufhaltsam der Irischen Republik an. Und kein Kanonenboot könnte diesen Niedergang verhindern.