Vera Lengsfeld / 06.11.2021 / 10:00 / 25 / Seite ausdrucken

Das echte Leben im Realsozialismus

„Wir in der DDR lebten in zwei Gefängnissen, das eine räumlich durch Stacheldraht und Schießbefehl begrenzt und das andere, das sich im Kopf durch Begrenzung des Sag- und Denkbaren langsam verfestigte.“

Dreißig Jahre nach dem Ende der DDR wird lauthals der ausgebliebene Dialog zwischen Ost und West beklagt. Es wird behauptet, die Lebensleistung der DDR-Insassen (Joachim Gauck) würde nicht anerkannt. Wobei unklar ist, was mit Lebensleistung gemeint sein soll. Der Staat hatte jedenfalls abgewirtschaftet und zwar vollständig. Die DDR war bereits 1983 pleite, so die Aussage eines Mannes, der es wissen musste, Alexander Schalck-Golodkowski, Devisenbeschaffer des SED-Staates. Sie wurde nur durch diverse Westsubventionen wie Transitgebühr, stille EU-Mitgliedschaft und Milliardenkredite über Wasser gehalten. Das Tafelsilber war längst verscherbelt, alles, was harte Währung einbrachte, wurde verkauft, einschließlich politischer Gefangener.

Wir sollten einander unsere Biografien erzählen, wurde von Leuten wie Christa Wolf nach der Vereinigung gefordert. Aber wie sollte man sich verstehen, wenn die Erfahrungen zu unterschiedlich waren?

Die gescheiterte Staatspartei SED durfte sich einfach umbenennen und ihre Propaganda entfalten. Die hat sich als erfolgreicher bewiesen, als es die Realität im Arbeiter- und Bauernstaat je war. Noch heute glauben Qualitätsjournalisten, dass die PDS zeitweise so etwas wie eine Volkspartei im Osten war, obwohl sie bei jeder Wahl im Vergleich zu 1990 an absoluten Stimmen verlor. Im Jahr 2002 flog sie aus dem Bundestag und kam nur dank einer Blutauffrischung aus dem Westen in Gestalt der WASG von Oskar Lafontaine wieder zurück. Bei der letzten Wahl scheiterte sie an der 5-Prozent-Hürde und zog nur dank dreier Direktmandate wieder ins Hohe Haus ein.

Hinter der propagandistischen Verzerrung der DDR, Galionsfigur Gregor Gysi schwadroniert sogar vom einem Rechtsstaat DDR, ohne dass ihm widersprochen wird, verschwindet die Realität der DDR aus dem öffentlichen Bewusstsein.

Gegen die schlimmsten Zumutungen gewehrt

Nun ist es höchste Zeit, Biografien aufzuschreiben, aus denen man lernen kann, wie die Realität der DDR aussah. Peter Schewe hat mit „(M)ein Leben in der DDR“ genau das getan. Wie er in seinem Vorwort schreibt, gab ihm das Buch „Integriert doch erst mal uns“ von Petra Köpping, Sozialministerin der SPD in Sachsen, den letzten Anstoß dafür, sein Leben aufzuschreiben.

Köpping bedient in ihrem Buch das Klischee der SED-Linken: Nicht der DDR-Sozialismus ist schuld, sondern der böse Kapitalismus in Gestalt der Treuhandanstalt und die Siegermentalität des Westens. Schewe, der zu denen gehörte, die mitten im Wirtschaftsleben der DDR standen und dazu beitrugen, dass die desaströsen Folgen der staatlichen Planung und des permanenten Mangels ab und zu ausgeglichen werden konnten, beschreibt in seinem Buch die Realität.

Er war, wie er selbst sagt, kein Widerstandskämpfer, aber er hat sich immer wieder gegen die schlimmsten Zumutungen gewehrt. In der Schule schützte ihn ein Deutschlehrer vor dem Rausschmiss. In Schewes Klasse war ein Bild des Staatsratsvorsitzenden Ulbricht abgehängt worden, weil man Projektionsfläche für einen Propagandafilm brauchte. Als im Film ein Bild des glatzköpfigen KPD-Chefs Ernst Thälmann gezeigt wurde, raunte es in der Klasse: „Glatzkopfbande“. Eine solche Bande trieb zu dieser Zeit auf dem Campingplatz seiner Heimatstadt Ückeritz ihr Unwesen, indem sie Urlauber ausraubte.

Der Vorgang wurde streng, aber ohne Ergebnis untersucht. Schewe wurde vorgeworfen, dass er den Staatsratsvorsitzenden aufhängen wollte. Sein Lehrer konnte die Untersuchungskommission aber überzeugen, dass er damit nur das Bild gemeint hatte. Immer wieder hat Schewe in seinem Leben Menschen getroffen, die ihn schützten, indem sie nicht im Sinne der Diktatur des Proletariats handelten.

Ein Klobecken als verspätetes Hochzeitsgeschenk

In der Armee wehrten sich Schewe und seine Kameraden gegen den militärischen Fassonschnitt, der dem Leutnant nicht kurz genug geraten war, indem sie sich die Haare vollständig abrasierten. Diese Provokation blieb ungestraft, weil die Vorgesetzten nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten. Schewes Buch ist voll mit solchen Anekdoten, die ein Schlaglicht auf die wirklichen Zustände der DDR werfen.

Zum Beispiel die Wohnungsnot. Schewe zog mit seiner Familie in ein baufälliges Haus ein, das er dank seiner praktischen Fertigkeiten als Tischler und Bauplaner notdürftig herrichten konnte. Er schuf sogar die Voraussetzungen für eine Wassertoilette, anstatt des Herzhäuschens auf dem Hof. Aber dann war kein Klobecken zu kriegen. Da beschaffte sich Schewe einen großen Karton, um in einer öffentlichen Toilette das Klobecken abzumontieren. Zum Glück musste er nicht zur Tat schreiten, weil ein Onkel als verspätetes Hochzeitsgeschenk ein Klobecken spendierte.

Als er eine Genehmigung beantragte, das Haus instandzusetzen, sagte ihm die zuständige Kommission, dass dies nicht genehemigt werden könnte, denn der bauliche Zustand sei zu schlecht. Ob er stattdessen nicht ein Eigenheim bauen wollte? Es war gerade der Parteibeschluss gefasst worden, dass kinderreiche Familien Eigenheime bauen sollten. Es fanden sich aber nicht genug solcher Familien. Um das Plansoll zu erfüllen, wurde den Schewes ein solcher Bau angeboten. Die Schwierigkeiten, mit denen Häuslebauer in der DDR zu kämpfen hatten, sind ein eigenes Kapitel.

In der Mangelwirtschaft gibt es immer etwas zu tauschen

Zur Ergänzung möchte ich nur noch ein Stück aus der Produktion aufführen. Schewe war Bauleiter bei einer LPG und erlebte, dass landwirtschaftliche Maschinen nicht eingesetzt werden konnten, weil es an Schrauben von einer bestimmten Länge fehlte. Schewe fand schließlich einen selbstständigen Dreher, der ihm diese Schrauben dank seiner Beziehungen zum nahe gelegenen Stahlwerk herstellen konnte. Fortan hatte Schewe immer ein paar von den begehrten Schrauben in der Tasche, wenn er Nachbarbetriebe besuchte. In der Mangelwirtschaft gibt es immer etwas zu tauschen.

Schewes Erinnerungen reichen bis ins Jahr 1990. Da wird es noch einmal sehr spannend, denn er gehörte zu den Leuten, die von den nach Sachsen gekommenen Mitgliedern der CSU angesprochen wurden, eine sächsische CSU zu gründen. Dafür konferierte er sogar mit dem damaligen Finanzminister Theo Waigel und war erstaunt, wie sehr dieser Politiker die DDR als „fremdes Territorium“ sah, in das man nicht intervenieren dürfe. Zur Währungsunion und zur Vereinigung kam es allein durch den Druck auf den DDR-Straßen, nicht weil der Westen die DDR schlucken wollte.

Vermisst Schewe etwas an der DDR? Nein. Er resümiert:

„Wir in der DDR lebten in zwei Gefängnissen, das eine räumlich durch Stacheldraht und Schießbefehl begrenzt und das andere, das sich im Kopf durch Begrenzung des Sag- und Denkbaren langsam verfestigte. Während ersteres nicht immer gegenwärtig war, wann kommt man schon mal an die Grenze, war man im zweiten ständig gefangen … das  verursachte innere Emigration, Selbstzensur genannt … Alles, was nicht gesagt wurde, weil es nicht gesagt werden durfte, wurde auch nicht mehr gedacht. So verkümmerte nicht nur die Sprache zu leeren Worthülsen, sondern auch das Denken, die Innovation und die öffentliche Debatte sowieso.“

Kommt uns das bekannt vor? Schewe ist sich am Schluss aber sicher:

„Die Freiheit des Denkens lässt sich auf die Dauer nicht einsperren.“

Ich hoffe, er hat recht.

 

„(Mein) Leben in der DDR“ von Peter Schewe, 2021, Verlag Hille: Dresden. Hier bestellbar.

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Horst Jungsbluth / 06.11.2021

Das Schlimme ist nicht etwa, dass gelogen wird, sondern dass dummdreist gelogen wird, übrigens nicht nur von Ex-SED Genossen, sondern auch von ihren Anhängern und anderen Dummköpfen im Westen. Die Devisen besserte die SED auch mit Bedrucken von Papier mit Zahlen (man nannte das Deutsche Mark) sowie mit Menschen- und Drogenhandel auf, trotzdem ging alles den Bach runter. Jeder der die DDR besuchte und mit normalen Verstand ausgestattet war, konnte ganz einfach feststellen, warum. Die Treuhand wurde noch von der letzten SED-Regierung unter Modrow gegründet und bestand zunächst nur aus den Leitern der Kombinate. Die SED hat dann nach der ersten freien Wahl im März 1990 brutal eine Politik der verbrannten Erde betrieben, wobei sich natürlich auch viele aus dem Westen daran beteiligten. Auch das Vortäuschen von “rechten Straftaten” war eine Spezialität, die die Stasi seit Jahrzehnten immer wieder ausübte. Übrigens hat ein Italiener, der die EPW in Neuruppin sanieren sollte und an den Gegebenheiten scheiterte, dies in einem Buch festgehalten und “EPW” mit “Entwickeln,  Produzieren und Wegwerfen” interpretiert. Im Westen herrschte Uneinigkeit der Parteien und wir Bürger konnten entsetzt feststellen, dass SPD und Grüne das Schicksal der SED wichtiger war, als das der “befreiten” Bürger und man beging den Riesenfehler, dass man etwas erhalten wollte, was gar nicht zu erhalten war, anstatt klug zu überlegen, was in der Bundesrepublik schief gelaufen ist. Und das war wahrhaft auch eine ganze Menge. Und dazu gehört eben auch, dass man sich ganz offensichtlich mit den Stasi-Akten und all dem, was die SED und ihre Vasallen in der Bundesrepublik so trieben, nur sehr unzureichend beschäftigt hat.  Natürlich hätte die SED verboten werden müssen!

Christian Feider / 06.11.2021

für mich,als Nachkomme von Menschen,die klug genug waren,vor dem Mauerbau den rot lackierten Faschisten den Rücken zu kehren,stellt sich bis heute die “naive” Frage meiner Mutter,die als Krankenschwester neben der Kindererziehung mit diesen Staat aufgebaut hat: WIESO zum Teufel wurde den DDR-Bürgern umstandslos, ohne einen Pfennig in die Rentenkassen eingezahlt zu haben,die Teilhabe am BRD-Rentensystem genehmigt? DAS war Raub am westdeutschen Rentensystem. Die,die heute noch die Mörderfahne der SED/PDS und aller Blockflötenparteien dort drüben erheben,sollten so konsequent sein und jeden cent Steuer-und Sozialsystemgeld zurückgeben

Helmut Driesel / 06.11.2021

  Ja, wer hätte vermutet, dass im Jahre 2021 noch Bücher über das Leben in der DDR geschrieben werden? Und 1990 hat uns die Ost-CDU dann von dem Stacheldraht befreit. Und die folgende Einheits-CDU hat dann als Hüterin der Gerechtigkeit die SED-Rentner mit Sonderrenten bestraft und die letzten Selbstständigen des alten Systems noch einmal klassenbewusst in den Hintern getreten. Das steht da nicht? Na ja, sehr geehrte Frau Lengsfeld, dann vielleicht im nächsten Buch. Also ich vermute, das Denken war sogar sehr frei, möglicherweise freier als drüben im Westen. Aber das wurde ja nie publiziert, es wurde übriges nach 1990 auch nichts archiviert, also kann das auch heute niemand einschätzen. Aber das ist halb so schlimm, ich vermute, das will auch heute gar jemand mehr wissen. Denn wir haben ja Erkenntnisse genug aus der Gegenwart.

Heiko Stadler / 06.11.2021

In der alten DDR gab es den Stacheldraht, in der neuen DDR wird daran gearbeitet. Jeder Neuwagen hat ein eingebautes Trackingsystem, das in einem bestimmten Zeittakt die Koordinaten an einen zentralen Server übermittelt. Beim Renault ZOE kann bereits heute von ferne das Laden des Akkus blockiert werden. Bis zum Knopf, mit dem man Republikflucht unterbinden kann, ist es nicht mehr weit. Jedes Ticket für ein öffentliches Verkehrsmittel ist personalisiert. Auch darüber lässt sich Flucht verhindern. Und zuletzt: Die Corona-Pandemie wurde keineswegs nur deshalb erfunden, damit die Pharmaindustrie absahnen kann. Sie dient auch zur Schaffung des gläsernen Bürgers, der ohne seinem digitalen “Impfausweis” zum Gefangenen wird.

Ludwig Luhmann / 06.11.2021

„Die Freiheit des Denkens lässt sich auf die Dauer nicht einsperren.“—-—- Derartige Einzelsätze eignen sich als Projektionsfläche. In Zukunft wird der Meta-Mensch der Vierten Industriellen Revolution Projektionsflächen als Realität anerkennen. Platon wird lächeln. Der echte, nicht genetisch manipulierte Mensch - der Ungeimpfte - wird entweder zur Elite gehören oder neutralisiert sein: “Klaus Schwab Declares Unvaccinated People To Be A Threat To Humanity.”—-—- Gegenthese: „Die Freiheit des Denkens lässt sich auf die Dauer einsperren.“

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