Thilo Sarrazin / 04.09.2017 / 06:15 / Foto: Bundesregierung/Bergmann / 47 / Seite ausdrucken

Das Duell mit den Fakten

Angela Merkel versprüht kaum je rhetorischen Glanz. Ihre Reden sind langweilig. Niemals sagt sie etwas Unbedachtes, Aggressives oder Polemisches. Sie kann lange warten, ehe sie sich überhaupt festlegt oder eine Tendenz erkennen lässt. Aber sie erspürt Stimmungen und hat ein Gefühl für die Labilität von Zeitenwenden. Das Timing ihrer überraschenden Positionierungen war immer wieder explosiv und machtpolitisch erfolgreich.Kurze Chronik der Entscheidungen:

- Im Dezember 1999 stürzte sie als Generalsekretärin der CDU ihren Förderer Helmut Kohl mit einem kritischen Artikel in der FAZ vom Sockel und verdrängte später Wolfgang Schäuble aus dem Parteivorsitz.

- Im September 2005 gewann sie knapp die Bundestagswahl gegen Gerhard Schröder, dieser hatte sich mit einer mutigen und später sehr erfolgreichen Arbeitsmarktreform unbeliebt gemacht. Seitdem erstickt Angela Merkel die SPD in einer langjährigen Umarmung und raubt ihr die Wählerbasis, indem sie die klassischen Forderungen der SPD zu ihren eigenen macht.

- Im Mai 2010 gestand sie unvermittelt Finanzhilfen für Griechenland zu und opferte die tragenden Prinzipien des Maastricht-Vertrages – kein Bail out für Staatshaushalte und keine monetäre Staatsfinanzierung – der Einigung mit Frankreich und Italien.

- Im Dezember 2010 folgte sie dem jungen charismatischen Verteidigungsminister Guttenberg in einen undurchdachten Ausstieg aus der Wehrpflicht. Dieser hatte auch Bestand, als Guttenberg wenige Monate später über Plagiate in seiner Doktorarbeit stolperte und sein Amt verlor.

- Im März 2011 nahm sie die Katastrophe von Fukushima als Anlass zum schnellen Ausstieg aus der Atomenergie und zur Aufkündigung des mit der Industrie verbindlich vereinbarten Zeitplans.

- Im Juli 2015 stimmte sie erneuten Griechenlandhilfen zu, obwohl selbst Wolfgang Schäuble dagegen war. Damit wurde klar, dass niemals ein Land wegen finanziellen Fehlverhaltens die Eurozone verlassen muss.

- In der Nacht vom 4. auf den 5. September 2015 stimmte sie ohne Beschluss von Bundesregierung oder Bundestag der Öffnung der deutschen Grenzen zu und ließ damit in wenigen Monaten 1,2 Millionen Flüchtlinge und illegale Einwanderer ins Land. Erst die Schließung der Balkanroute, die gegen ihren Willen geschah, verminderte ab März 2016 den Zustrom.

- Am 27. Juni 2017 erklärte sie in einem Interview unvermittelt die „Ehe für alle“ zur Gewissensfrage und befreite so die Abgeordneten der Union aus dem Fraktionszwang. Wenige Tage später war die Ehe als Verbindung von Mann und Frau in Deutschland Rechtsgeschichte geworden.

- Am 14. August 2017 sprach sie sich – wiederum in einem Interview – grundsätzlich für ein Verbot des Verbrennungsmotors aus, ließ allerdings den Zeitpunkt offen.

Abwarten, in Deckung bleiben und rechtzeitig auf den Zug aufspringen

So geht die Methode Merkel: Abwarten, in Deckung bleiben und sodann durch unvermutete Positionierung das vermutlich Siegreiche zur eigenen Sache machen. Konzeptionslos ist das Ganze nicht. Angela Merkel verfolgt eine Agenda, die auf Überwindung des Nationalstaats und auf eine Weltgesellschaft zielt. Sie hat nichts gegen Deutschland und die Deutschen, aber besonders am Herzen liegen sie ihr auch nicht. Angela Merkel macht Politik für ein Weltverbesserungsprogramm, das utopische Züge trägt. Es hat wenig Sinn, darüber in Wut zu geraten und moralische Urteile zu fällen.

Geschichte ist ein offener Prozess, ihr Entwicklungspfad wird unter anderem gestaltet von Politik. Die deutsche Geschichte der letzten 12 Jahre hätte ganz anders verlaufen können. Erst wenn man sich solche eine Alternative konkret vor Augen führt, begreift man den immensen Schaden, den Angela Merkel für Deutschland und Europa angerichtet hat. Das wären die Alternativen gewesen:

- Im Frühling 2010 hätte man an den Prinzipien des Maastricht-Vertrages festhalten müssen. Griechenland hätte eine Staatsinsolvenz erlitten und wäre aus dem Euro ausgeschieden. Längst hätte es mit einer um 40 Prozzent  abgewerteten Drachme wieder auf einen Wachstumspfad zurückgefunden, es ginge ihm weitaus besser als jetzt. Für alle Gläubiger von Euro-Staaten wäre dies sehr heilsam gewesen. Euroländer würden für ihre Staatsschulden risikogerechte Aufschläge im Verhältnis zu Deutschland oder Österreich zahlen müssen und hätten ihre Politik längst darauf ausgerichtet. Die Sanierung der Staatsfinanzen und die inneren Reformen der Arbeitsmärkte wären viel schneller vorangekommen.

Vielleicht hätte Italien sich irgendwann ebenfalls entschieden, den Euro zu verlassen. Es würde jedenfalls nicht mehr, wie gegenwärtig immer noch, in der Stagnationsfalle sitzen. Der EZB-Präsident hieße Axel Weber statt Mario Draghi. Die Geldversorgung des Euroraums hätte zu seinem Wirtschaftspotential gepasst, aber sie hätte sich auf die risikogerechte Beleihung werthaltiger Papiere und nicht auf den hemmungslosen Ankauf von Staatsanleihen gestützt. Nennenswerte Targetsalden gäbe es nicht. Deutschland säße nicht auf Bürgschaftsrisiken in Höhe von vielen hundert Milliarden. Der Euro wäre kein heiliges Mysterium im Dienste höherer Zwecke und kein Völkergefängnis, sondern eine solide Währung für die Länder, zu denen er passt und die die Spielregeln einer Währungsunion innerlich akzeptieren.

- An der Wehrpflicht hätte man solange festgehalten, bis ein tragfähiges Konzept für die Zukunftsausgaben der Bundeswehr  vorgelegen hätte. Die Bundeswehr wäre im Kern die funktionstüchtige Landarmee geblieben, die sie einmal war, sehr zur Beruhigung der östlichen Natopartner. Auf die Ambitionen Russlands in der östlichen Ukraine hätte das ungemein mäßigend gewirkt.

- In der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik hätte Deutschland strikt an den Dublin-Abkommen festgehalten und die Grenzen gegen illegale Einwanderung vorsorglich geschlossen. Die Milliarden, die in Europa seit 2010 in den EFSF und den ESM flossen, wären rechtzeitig für eine vorbeugende militärische und grenzpolizeiliche Sicherung der europäischen Außengrenzen und für Flüchtlingshilfen nahe den Herkunftsländern ausgegeben worden. Massenflucht über das Mittelmeer und Schlepper im Mittelmeer gäbe es nicht, weil jedes aufgegriffene Boot mit illegalen Einwanderern unverzüglich an den Ausgangsort zurückgebracht worden wäre.

- Die Flüchtlingswelle seit 2015 nach Deutschland hätte nicht stattgefunden. Die Kriminalität in Deutschland und Europa wäre deutlich niedriger. Tausende islamistischer Gefährder hätte gar nicht erst einreisen können, es hätte deshalb auch deutlich weniger Attentate gegeben.

- Die Gründung der AfD durch Bernd Lucke im Jahre 2013 wäre ausgefallen. weil der Parteigründer in der CDU geblieben wäre. Es gäbe keine Partei rechts von der Union mit der Aussicht des Einzugs in den Bundestag

- Das Brexit-Votum in Großbritannien wäre deutlich zugunsten des Verbleibs ausgefallen. Eine Euromitgliedschaft wäre für das Land attraktiv statt abschreckend gewesen, nachdem die Maastricht-Prinzipien ihre Tragfähigkeit bewiesen hätten. Wegen der wirksamen europäischen Grenzsicherung wären in Großbritannien sogar die Stimmen für einen Beitritt zum Schengen-Raum stärker geworden.

- Der statt Angela Merkel amtierende Bundeskanzler hätte einen viel größeren Teil seiner Kraft auf eine intelligente Energiewende, auf die Förderung von Bildung, Wissenschaft und Technik und auf eine Einwanderungspolitik nach kanadischem Vorbild legen können, anstatt europäisches Krisenmanagement zu betreiben. Zur Zukunft des Verbrennungsmotors hätte er gesagt, dass dieser auf natürlichem Wege dann sterben wird, wenn es bessere Alternativen gibt.  Schließlich sind ja auch der Frachtensegler und der Pferdefuhrwerk nicht verboten worden, sie hatten sich ganz einfach überlebt.

Was bleibt?

Das historische Vermächtnis von Angela Merkel besteht in der AfD, im Brexit, in einer nach den eigenen Maßstäben gänzlich missglückten Energiewende und in einer großen kulturfremden Einwanderung aus islamischen Ländern. Die letztere verzehrt in Deutschland in den kommenden Jahrzehnten jene moralischen und finanziellen Ressourcen, die wir eigentlich für die Bewältigung unserer demographischen Probleme brauchen. In gehörigem zeitlichen Abstand wird das Urteil der Geschichte bei keinem Bundeskanzler so negativ ausfallen wie bei Angela Merkel.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

Foto: Bundesregierung Bergmann

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Wolfgang Petermann / 04.09.2017

Solange wir noch solch treffende Analysen lesen dürfen - natürlich nicht im hiesigen Mainstream - sondern (wie früher schon mal) in ausländischen Zeitungen oder in kritischen Blogs - flackert noch das berühmte kleine Licht. Aber ich befürchte, Sarrazin hatte schon mit seinem Buch “D schafft sich ab” recht.  Erst wenn alles zugrunde geht, merken die Leute, was abgeht. Dann ist es aber zu spät. Deutsche Geschichte wiederholt sich.

Rupert Drachtmann / 04.09.2017

Sehr geehrter Herr Sarrazin, ein erster Nachruf auf unsere Kanzlerin. Danke dafür. Leider muss das Land auf ihr Ausscheiden wohl noch warten. Mal sehen was diese Frau und ihr liederliches Gefolge in weiteren 4 Jahren noch geschichtsträchtiges vollbringen. Papst Benedikt hat sich mit seinem Rücktritt anno 2013 doch auch elegant in den Geschichtsbüchern verewigt. Wäre das nicht auch eine Option für Frau Merkel ? Wieso muss diese Frau eine ganze Gesellschaft mit in den Abgrund reißen ? Sicherlich spektakulärer. Auch gibt es für diese Version namhafte geschichtsträchtige Vertreter. Danke für Ihren Artikel.

Karla Kuhn / 04.09.2017

Leider gibt es keine Steigerung für negativ, oder doch? Verheerend?  Herr Sarrazin, Sie schreiben immer so glasklare Analysen. Haben Sie schon mal daran gedacht, sich mit vielen anderen Kritikern zusammenzuschließen?  Wie soll das denn weitergehen in Deutschland?  Ich habe vor Jahren ein Interview mit Margot Honecker, gesendet aus Chile, gesehen. Es war so schlimm aber ihren letzten Satz höre ich noch heute:  “Sie werden sich all noch wundern ” und dabei hat sie richtig diabolisch gegrinst.  Wenn ich heute die Politik von Frau Merkel betrachte, bekommen die Worte von M.H. für mich eine ganz fatale Bedeutung.

B.Rilling / 04.09.2017

Diese Frau ist ein Kreuz für Deutschland und schlecht für Europa! Ich erwarte vom Bundeskanzler meines Landes, dass ich und meine Landsleute ihm mindestens genauso viel am Herzen liege, wie jeder neu hier Lebende! Das fordert alleine der gesunde Menschenverstand! Nur wenn ihm sein Heimatland am Herzen liegt, kann er gute Europapolitik betreiben. Sie hätte nie gewählt werden dürfen! Ihr Wirken der letzten Jahre ist nicht nur verheerend für Deutschland, sondern noch viel verheerender für ganz Europa! Warum auch nicht? Sie hatte nie eine Vision vom geeinten Europa, sie verwaltet diesen Traum der “alten” Männer nur halbherzig. Frau Merkel ist Kosmopolit. Alles andere kommt ihr nicht in die Tüte!

Susanne Koch / 04.09.2017

Wahre Worte.

Petra Schmolke / 04.09.2017

Ja , so sieht es aus. Schade um unsere Kultur und unsere Kinder. Eine einzige Frau mit inhaltsleeren Reden und unbedachtem Tun ist für Europas Untergang verantwortlich. Das hat selbst der Gröfaz in 12 Jahren nicht geschafft. Und ihr räumt man jetzt noch weitere Jahre ein - womöglich noch eine 5.Amtszeit.

Gisela STEIN / 04.09.2017

Das Duell im TV hat bei mir nicht zur gewünschten Anderspositionierung ,der Stimmabgabe zur Wahl , geführt. DIE KLAREN WORTE des Herrn Sarrazin aber schon .Vielen herzlichen Dank. Meine pers. ENTTÄUSCHUNG zur Angleichung der Renten Ost u. West,  das Opfern der Betriebsrenten Ost, der Wegfall der Wehrpflicht und die Ignoranz, Gier und der Grössenwahn herrschender Parteien und Konzerne läßt einem vom Glauben an eine gerechte Gesellschaft abfallen. Die Planlosigkeit und Überforderung der eigenen Bürger im WIR SCHAFFEN DAS trägt ebenfalls dazu bei.

Dietrich Herrmann / 04.09.2017

Und man muss ganz klar sagen: Die ist eine Lügnerin vor dem Herrn. Wahlversprechen? Was soll das denn sein? Mit mir nicht.

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