Das Desaster von Tokio und das Wunder

Je seltener Desaster werden, desto mehr Aufsehen erregen sie. Die Luftfahrt ist mit täglich 100.000 unfallfreien Flugbewegungen extrem sicher geworden, und so ist die Kollision zweier Maschinen auf dem Flughafen von Tokyo ein Ereignis, das uns alle berührt.

Es deutet vieles darauf hin, dass hier „menschliches Versagen“ im Spiel war, vielleicht ähnlich wie bei einem Zwischenfall, der sich 2020 am Himmel über Paris abgespielt hat. Es war aber auch übermenschliche Hingabe im Spiel, der das Überleben aller Passagiere des Airbus zu verdanken ist. 

Wir sprechen im Deutschen von Start- und Landebahn; das suggeriert, es würde sich hier um zwei verschiedene Dinge handeln. Tatsächlich aber ist es meist dasselbe Stück Asphalt, auf dem die Flugzeuge starten und landen, im Englischen „Runway“ genannt. Eine Maschine, die starten möchte, muss warten, bis eine ankommende gelandet ist. Die hat sich typischerweise in 10 oder 20 Kilometer Entfernung auf einer gerade Linie in Ausrichtung der Bahn, auf der sie landen will, und mit etwa 3 Grad Gefälle eingefädelt. Wenn dann so ein Ding mit 250 km/h und ebenso vielen Tonnen hereinrauscht, dann kann es nicht ausweichen, da muss die Bahn frei sein.

Eine Maschine, die abfliegen will, wartet querab von der Bahn, weit genug entfernt, um das ankommende Flugzeug nicht zu stören. Sie darf erst starten, wenn die Bahn wieder frei ist, darf sich aber schon vorher in Startposition bringen, um ein paar Handgriffe im Cockpit zu erledigen, die unmittelbar vor dem Start fällig sind. Dadurch spart man Zeit.

Das Rollen von der Warteposition auf die aktive Bahn ist ein kritischer Akt und muss natürlich vom Lotsen im Tower freigegeben werden. Und wiederum, zur Zeitersparnis, wartet der Tower nicht, bis die ankommende Maschine die Räder aufgesetzt hat, um seine Erlaubnis zu geben, sondern es ist gängige Praxis, dass dem Wartenden gesagt wird, dass er nach der gelandeten Maschine auf die Bahn rollen darf. Im Pilotenjargon heißt das dann: „xyAIR after landing Airbus line up and wait runway 34 right“ Dabei ist xyAIR das „Callsign“ der wartenden Maschine und „runway 34 right“ ist die Identifikation der Bahn, um die es geht. In Haneda gibt einige Runways, in dem Fall war es die Bahn mit Richtung 340 Grad, und zwar die Rechte von zwei parallelen.

Disziplin in Wort und Tat

Diese Abstimmungen sind offensichtlich eine Sache auf Leben und Tod. Es darf nicht vorkommen, dass der wartende Pilot etwa den ersten Teil der Freigabe verpasst und nur zu hören bekommt: „…line up and wait runway 34 right.“ Daher muss der Pilot eine Freigabe wörtlich wiederholen und an den Tower zurückfunken; er hätte also jetzt die Fehlinformation wiederholt „line up and wait runway 34 right, xyAIR“ und der Tower hätte sofort korrigiert „Negative xyAir hold position“, denn der Pilot hatte das Wichtigste nicht mitbekommen: „After landing Airbus…“

Das hört sich vielleicht etwas improvisiert an für eine so wichtige Steuerung. Ja, es gibt an Flugplätzen auch „Ampeln“, welche die Runway absichern, aber auch die müssen von Menschen geschaltet werden. Ohne 100 Prozent disziplinierte Kommunikation und Aktion ist der Flugverkehr nicht machbar.  

Auch in Startposition auf der Bahn darf der wartende Pilot jetzt nicht die Gashebel nach vorne schieben, weil er glaubt die Bahn sei frei. Er könnte sich ja täuschen, etwa bei Nacht oder schlechter Sicht. Er muss auf die Freigabe „xyAIR cleared for takeoff runway 34 right” warten und diese wörtlich wiederholen, bevor er startet. Am 27. Mai 1977 hatte ein ungeduldiger Pilot in Teneriffa nicht auf diese Freigabe gewartet und damit das bislang schwerste Desaster im Luftverkehr verursacht. 

Wie in Paris?

Was nun genau am Flughafen Haneda in Tokio passiert ist, das wird eine längere Untersuchung klären müssen. Es spricht vieles dafür, dass eine De Havilland DHL-8, eine Turboprop-Maschine mit Gütern für Erdbeben-Opfer, auf die Bahn 34R gerollt ist und ihren Startlauf begonnen hatte. Der viel schnellere Airbus 350 / JAL Flight 516 ist dann auf genau dieser Bahn in DHL-8 „hineingelandet“. 

Es gibt Aufzeichnungen des Funkverkehrs mit der Freigabe „Continue approach“ an den JAL 512 Airbus. Das wäre aber keine Landefreigabe und keine Garantie, dass die Bahn frei ist; die gibt es erst durch ein „Cleared to land“. Der Pilot der DHL-8, einziger Überlebender von sechs Personen an Bord seines Flugzeugs, versichert, er hätte Freigabe für die Runway und Starterlaubnis bekommen. Hatte der Tower vielleicht die Absicht gehabt, die beiden Maschinen auf die beiden parallelen Runways 34Right und 34Left zu verteilen, wo sie sich nicht ins Gehege gekommen wären? Und dann versehentlich denselben Runway zugewiesen, also beide nach 34R geschickt? 

Es wäre nicht das erste Mal. Am 20. Juli 2020 wurde am Airport Charles de Gaulle in Paris eine Runway Kollision diesen Typs gerade noch verhindert. Damals hatte der Tower genau diesen Fehler gemacht und zwei Flügen versehentlich die gleiche Bahn 09R gegeben, obwohl die Absicht war, sie auf 09R und 09L zu verteilen. 

So tragisch der Verlust von fünf Menschenleben in dem kleineren Flugzeug ist, so erfreulich ist es, dass alle Personen aus dem Airbus gerettet wurden. Da zeigt sich, dass das „Kabinenpersonal“ mehr drauf hat als freundlich lächeln und Mineralwasser verteilen. Die haben 279 Personen in 90 Sekunden aus dem brennenden Wrack evakuiert. Chapeau!

 

Dr. Hans Hofmann-Reinecke studierte Physik in München und arbeitete danach 15 Jahre in kernphysikalischer Forschung. In den 1980er Jahren war er für die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) in Wien als Safeguards Inspektor tätig. Er lebt heute in Kapstadt. Dieser Artikel erscheint auch  im Blog des Autors Think-Again. Der Bestseller Grün und Dumm, und andere seiner Bücher, sind bei Amazon erhältlich.

Foto: John Christian Fjellestad CC-BY 4.0 via Wikimedia Commons

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Wulf Stender CPT i.R. B 747 TRI / TRE / 04.01.2024

Die neuesten amtlichen Zahlen der Todesopfer im Jahr 2023 beim Betrieb von Passagierflugzeugen ( erfasst werden in dieser Statistik nur Flzge mit mehr als 14 Sitzen, keine Frachtflzge, keine Militärflzge) weisen die rekordverdächtig niedrige Zahl von 80 Menschen aus. Die niedrigste Opferzahl seit 1970 bei einem um das 40 fache angestiegenem Flugverkehrsaufkommem. Eine ähnlich herausragende Leistung hat am 6.6.2013 die Cabin-Crew bei der Crash- Landung der Asiana B 777 in San Francisco erbracht. Allerhöchtsten Respekt und Anerkennung für diese Crews.

A. Ostrovsky / 03.01.2024

>>„xyAIR after landing Airbus line up and wait runway 34 right“<<  Wenn es tatsächlich so ist, dass noch nicht einmal die Warteposition an der Seite der Startbahn, die aus “Zeitgründen” eingeführt wurdee, eine eigene Bezeichnung hat, und wenn man stattdessen solche Kombinationsmessages verwendet, die katastrophal falsch sind, wenn man den Anfang nicht versteht, wundert es mich, dass nicht jede Woche so ein Unfall passiert. Abschaffen, verbieten, bestrafen und Selbstkritik an der Wandzeitung!

A. Ostrovsky / 03.01.2024

Unter dem Strich sieht man, dass im Luftverkehr die Leittechnik und Sicherheitstechnik nicht auf dem Stand ist, wo sie sein könnte. Das Callsign ist eine Adresse, die man für adressierte (elektronische) Nachrichten nutzen könnte und die geschwurbelten Messages könnte man auf eindeutige digitale Codes abbilden. Die Übermittlung könnte transaktional sein, mit Rückmeldung. Und dann braucht man in jedem Flieger eine kleine Elektronik, die laut piept, wenn die Position des Flugzeuges nicht mit der zugewiesenen übereinstimmt. Da wird GPS ausreichen. Dann muss im Tower die Verbindung zwischen den Messages durch einen vergleichsweise kleinen Computer hergestellt werden, nach definierten Regeln, der die Messages für jede Bahn auf Kollisionsgefahr überwacht. Alles keine Raketenwissenschaft. Selbstverständlich müssen die codierten Messages in Englisch und in die jeweilige Landessprache übersetzt sein. Nur ein solches automatisiertes Überwachungssystem erlaubt es, so riskante “Zeitersparnis” zu erwägen, wie im Artikel beschrieben. Insofern ist die Aussage “Menschlicher Fehler” ein Muster ohne Wert, weil es ja gar keine Technik gibt, die solche Fehler machen könnte. Es ist scheinbar wie bei der Bahn, wie bei Kernkraftwerken usw. Seit 70 Jahren keine Anpassung der Technik an den technischen Stand. Dann bleibt nur zumachen, verbieten und bestrafen. Und das ist dann leider gut so.

A. Ostrovsky / 03.01.2024

Also ich hätte in jungen Jahren mir nicht vorstellen können, wie jemand links und rechts verwechseln kann. Jetzt passiert mir das gelegentlich. Nicht oft, aber immerhin. Bei Frauen ist da ja die Norm, dass da beide Richtungen mit 50% Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Muss wohl was mit dem Testosteron zu tun haben. Ja, so ist das nun. Wieso man dann aber an Flughäfen immer zwei Landebahnen mit der gleichen Nummer und dem Zusatz L oder R bezeichnen muss, ist mir ein Rätsel. Zumal es ja auch davon abhängt, von wo aus man es betrachtet. Es ist einfach unnötig und arrogant.

Anna Hegewald / 03.01.2024

Vielen Dank für diesen interessanten Einblick. Vom „glimpflich“ kann man nicht reden, aber es hätte offensichtlich noch weit schlimmer kommen können. Nur gut, dass es Leute gibt, und Mitmenschen, die auch in lebensbedrohlichen Krisenfällen diszipliniert bleiben.

Matthias Ditsche / 03.01.2024

Heißt in unserer Sprache Besatzung.

Ralf Pöhling / 03.01.2024

Dass da nicht mehr Menschen bei umgekommen sind, hat einen ganz einfachen Grund: Die Japaner sind wegen der andauernden Erdbebengefahr beim Zivilschutz voll im Training. Die sind wunderbar organisiert und können im Krisenfall mit sehr viel Disziplin ihre eingeübten Notfallabläufe flott abspulen. Die Japaner funktionieren als Gesellschaft wunderbar. Bei uns klappt das nicht mehr, weil wir hier überindividualisiert sind. Individuelle Freiheit und gute Organisation stehen sich dabei eigentlich gar nicht im Weg, das wird bei uns nur vielfach fehlinterpretiert, weil jedes bisschen eingeübtes Gemeinwohl einseitig als Fremdbestimmung gesehen wird. Dabei ist das völliger Unfug, denn in einem gut organisierten und geölten System zur Krisenbewältigung profitiert ja jeder, da sich die Überlebenschancen für alle erhöhen. Individuell kann man ja nur sein, wenn man (über)lebt. Das gilt nicht nur für den Zivilschutz, sondern natürlich auch für die Landesverteidigung, sofern beides nicht in Vollzeit ausgeübt wird. Der Trick liegt darin, im Krisenfall einsatzbereit zu sein, nicht 24/7 nur das Rädchen im Getriebe. In Japan klappt das wunderbar. Hier bei uns fehlt es an Balance. Hier geht nur ganz oder gar nicht. Was darin seine Ursache findet, dass hier alles auf den Beruf und die Karriere ausgerichtet ist. Da ist man entweder Feuerwehrmann, Soldat, Polizist oder eben Zivilist. Wir haben hier eine zu harte Trennung von Hirten, Schäfchen und Schäferhunden, was dann schlimmstenfalls zur Ausdünnung bei anstrengenden Berufszweigen führt, was wiederum die Sicherheitslage dramatisch verschärft und die Schäfchen im Krisenfall schutzlos zurücklässt, weil diese mangels Training den Selbstschutz gar nicht mehr können. Die Japaner haben das nie verlernt, weil die einfach wissen, dass im Krisenfall jeder mitspielen muss, da kaum Zeit für Anweisungen und Erklärungen bleibt. Die Schweizer können das mit ihrem Milizsystem auch noch. Wir nicht mehr. Weshalb Niedersachsen auch gerade absäuft.

Arnold Balzer / 03.01.2024

@j.heini: “Wahrscheinlich zeugt es auch von der Disziplin der Passagiere.”  Das stimmt ohne weiteres! H. Danisch hat einen dazu passenden Blogartikel verfasst. Es kommt nicht nur auf das richtige Handeln des Kabinenpersonals an, das in Notfallübungen immer wieder geübt wird - es sind die Ausraster und Undisziplinierten unter den Passagieren, die jedes korrekte Verhalten und die Anweisungen des Personals sabotieren können.  -  Und so haben Sie recht: Es waren halt Japaner ...

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