Von Thea Dorn
Das Böse ist immer und überall. Dies wusste schon die „Erste Allgemeine Verunsicherung“ in ihrem Lied „Ba-ba-ba-banküberfall“ zu berichten. Das Lied war einer der Blödelhits, die im Sommer 1985 auf keiner Party fehlen durften. Zu jenem Zeitpunkt war die 18-jährige Elisabeth Fritzl bereits seit einem Jahr Geisel ihres eigenen Vaters. Gefangen gehalten und regelmäßig vergewaltigt im Keller unter jenem Haus, in dem die restliche Familie ein an Biederkeit und Unauffälligkeit kaum zu überbietendes Kleinstadtleben geführt haben soll…
Die „Erste Allgemeine Verunsicherung“ stammt aus Österreich. Wie Josef Fritzl, den der Boulevard bereits zum „Inzest-Monster“ umgetauft hat. Und wie Wolfgang Priklopil, der Natascha Kampusch acht Jahre lang in einem Verließ unter seinem Haus gefangen hielt, um dort was auch immer mit ihr anzustellen. Bizarrer Zufall? Oder bewahren Nationen im Zeitalter der globalen Nivellierung wenigstens noch in Sachen Monstrositäten ihren Nationalcharakter? Was bedeutet es, dass im wallonischen Teil Belgiens mit Marc Dutroux und Michel Fourniret gleich zwei drastische Kinderschänder/Serienmörder lange Jahre ihr Unwesen trieben? Wieso muss nicht die süditalienische, sondern die (ost)deutsche Polizei mit schauriger Regelmäßigkeit Säuglingsleichen aus Blumentöpfen und Gefriertruhen bergen? Und was verrät es über Österreich, dass dort blasse oder sonnenstudiogebräunte Biedermänner junge Frauen gefangen halten, um mit diesen ein ebenso groteskes wie brutales Zweitleben unter Tage zu führen?
Ein Merkmal, das die österreichischen Kerkermeister von den franco-belgischen Kinderschändern und den ostdeutschen Kindstöterinnen in der Tat unterscheidet, ist die (klein-)bürgerliche Wohlanständigkeit der Fassade: Sowohl Marc Dutroux als auch Michel Fourniret hatten in ihrer Vergangenheit bereits mehrfach wegen diverser Delikte von Vergewaltigung bis Diebstahl im Gefängnis gesessen, in ihrer Nachbarschaft galten sie eher als Troublemaker, als „kauzig“ bis „verwahrlost“. Auch die ostdeutschen Frauen, die ihre Neugeborenen getötet haben, würde kein Scout für die neuste Milupa-Werbung casten. Bei Wolfgang Priklopil und jetzt Josef Fritzl scheinen sich die Nachbarn jedoch einig zu sein: „Anständige“, „unauffällige“ Männer. Der eine vielleicht ein bisschen verklemmter „Mamabua“, der andere vielleicht ein bisschen Haustyrann, aber alles in allem „saubere“ Kerle.
Wollte man eine Tragödie über die Vorgänge in Amstetten oder in dem Vorort von Wien, in dem seinerzeit Natascha Kampusch gefangen gehalten worden war, schreiben – der Refrain, den der Chor der Nachbarn zu intonieren hätte, wäre klar: „Unfassbar. Unvorstellbar. Nie hätten wir gedacht. Nie. Wer konnte denn ahnen. Der doch nicht. Der war doch immer so nett. Wie hätten wir denn ... Unfassbar. Unvorstellbar.“
Es ist eine der ältesten – und naivsten – Menschheitssehnsüchte, dass man „das Böse“ am Antlitz erkennen können müsse. Bei der Vermutung, dass der Teufel Prada trägt, mag es sich um eine New-York-Hollywood-Phantasie handeln. Die Vorstellung, dass er mit Bocksfuß herumläuft, ist allerdings noch absurder.
Weit eher hilft es, sich regelmäßig ins Gedächtnis zu rufen, dass der Lack der Zivilisation ein äußerst dünner ist. Und dass unter der Oberfläche die Barbarei bereits toben kann, selbst wenn der Lack noch keine offensichtlichen Risse zeigt.
Es besteht ein verwirrendes Missverhältnis zwischen dem allgemeinen Paranoialevel, an jeder Ecke dunkle Machenschaften „der Mächtigen“ oder andere Weltverschwörungen zu wittern, und der Naivität, wenn es darum geht, den Barbaren im Biedermann von nebenan zu erkennen. Konkret: Die Leute sind eher bereit zu glauben, dass George W. Bush hinter den Anschlägen vom 11. September steckt, als dass sie sich zum Beispiel fragen würden, was so ein adretter Herr wie Wolfgang Priklopil mit einem jungen Mädchen treibt, das urplötzlich an seiner Seite auftaucht.
Die Überzeugung, dass die Welt schlecht ist, gehört zum Grundrepertoire des Spießers. Abgefedert wird sie von der Überzeugung – dass seine Welt eine gute ist.
Verfolgt man die Berichterstattung der letzten Tage, gewinnt man allmählich den Eindruck, bei Josef Fritzl, dem „Inszest-Monster“ aus Amstetten, müsse es sich um eine Art perversen David Copperfield handeln, um einen Illusionskünstler von höchstem Rang. Und man wird den Verdacht nicht los, dass diese Berichterstattung nicht nur dem Zweck dient, den Gänsehautfaktor beim versammelten Publikum hochzuhalten. Sondern, dass sie ebenso sehr darauf abzielt, diejenigen moralisch zu entlasten, die von den tatsächlichen Vorgängen etwas hätten mitbekommen müssen. Denn wen darf man schon zur Rechenschaft ziehen, wenn er einem Jahrhundertmagier auf den schwarzen Leim gegangen ist?
Besonders interessant wird die Frage sein, welche Rolle die Ehefrau in der Gruselshow des Sado-Magiers gespielt hat. Ersten nachbarlichen Verlautbarungen zufolge sei „die Rosemarie“ diejenige, die letztlich „am ärmsten dran“ sei. Gewissermaßen die Allergetäuschteste, die unwissende und unwillentliche Assistentin eines Verbrechers, die vierundzwanzig Jahre lang glaubte, allein einem braven Ehemann und Familienvater zu dienen.
Aber muss, ja kann man diese Geschichte von der getäuschten Unschuld wirklich glauben?
Unweigerlich kommt einem Thomas Bernhard in den Sinn: „Der Österreicher duckt sich lebenslänglich und deckt lebenslänglich die größten Scheußlichkeiten und Verbrechen, um überleben zu können [...] Der Österreicher ist der geborene Verbrechendecker, der Österreicher deckt jedes Verbrechen und sei es das gemeinste.“
Auch wenn wir die Frage, ob es sich beim „Wegducken“ tatsächlich um einen spezifisch österreichischen Volkssport handelt, dem Österreicher Bernhard überlassen – die Wahrscheinlichkeit ist erheblich, dass Rosemarie Fritzl in dieser Sportart eine versierte Turnerin ist.
Betrachtet man andere Fälle, in denen Vergewaltiger, die ihre Opfer über lange Zeit gefangen hielten, eine Ehefrau oder andere Partnerin an ihrer Seite hatten, gibt es eigentlich nur zwei mögliche Rollen, die diesen Ehefrauen/Partnerinnen zukamen:
Sie ahnten natürlich, was ihr Mann in seinem Schuppen, Keller, Ferienhaus trieb. Aber ahnen ist nicht wissen. Ahnen lässt Schlupflöcher. In ausschließlich privaten Fragen wie derjenigen, ob ihr Mann sie mit der Sekretärin betrügt, mag es der Einzelnen anheim gestellt sein, ob sie ihrer Ahnung, dass ihr Mann eine Affäre haben könnte, forschend nachgeht – oder ob sie es vorzieht, im Zustand des Wunschdenkens und der Selbsttäuschung zu verharren. Was bedeutet es aber, wenn ich die Ahnung habe, dass es beim Verschwinden der eigenen Tochter nicht mit rechten Dingen zugegangen sein kann – und dass der eigene Mann möglicherweise etwas damit zu tun haben könnte? Natürlich kann man die Weigerung, in solch alptraumartigen Fällen aus einem „Ahnen“ ein „Wissen“ machen zu wollen, mit der Angst der jeweiligen Partnerin psychologisch erklären. Aber ist Angst wirklich ein Freibrief?
Ein noch düstereres Licht auf das moralische Versagen der Ehefrauen/Partnerinnen von sadistischen Verbrechern wirft die andere Variante der Verstrickung, wie sie aus den Fällen Dutroux und Fourniret bekannt ist – oder wie sie jetzt in dem französischen “Fall Gouardo” bekannt wurde: Diese Ehefrauen wussten allzu genau, was ihre Männer trieben. Jedoch waren sie emotional und moralisch selbst so verwahrlost, dass ihnen das Schicksal der Mädchen, die litten und im Extremfall sogar starben, schlichtweg egal war. Und selbst wenn es sich – wie im Fall Gouardo – um die eigene Tochter handelte. Im Gegenteil: Die einzige Gefühlsregung, die sie gegenüber den Opfern aufbrachten, war Eifersucht.
Im Fall Fritzl werden die Ermittlungen möglicherweise klären, ob und wenn ja: wie viel die Ehefrau von den Umtrieben ihres Mannes wusste. Möglicherweise wird man diesen Punkt aber auch mit keiner allzu großen Energie verfolgen. Bislang scheinen die Ermittler zu behaupten, sie seien „felsenfest davon überzeugt“, dass Rosemarie Fritzl ahnungslos war. Gleichzeitig zeichnet der Boulevard – bei allen rhetorischen Fragezeichen, die er hinter die Rosemarie-Fritzlsche Ahnungslosigkeit setzt – eifrig das Bild der fürsorglichen und liebevollen Mutter. Hoffen wir, dass der Chor nicht schon im nächsten Akt der Tragödie intonieren muss: „Unfassbar. Unvorstellbar. Nie hätten wir gedacht. Nie. Wer konnte denn ahnen. Die doch nicht. Die war doch immer so nett. Wie hätten wir denn ... Unfassbar. Unvorstellbar.“
Aus Angst, das Image der Stadt Amstetten, ja das ganz Österreichs, könne darunter leiden, dass das Land nun schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit wegen eines selbsternannten Kerkermeisters in die weltweiten Schlagzeilen geraten ist, hat der Bürgermeister von Amstetten die Initiative „Gemeinschaft menschlich berührt“ ins Leben gerufen. „Menschlich berührt“ ist schön. Noch schöner wäre es, nicht dem nächsten Scheinidyll aufzusitzen.
Unstrittig sind es mit dem stumpfen Lack der Bonhomie getarnte Extremsadisten wie Josef Fritzl, die den Zivilisationsbruch aktiv betreiben. Die schleichende Erosion der Zivilisationsdämme betreiben jedoch all die Weggucker und Wegducker, die sich lieber selbst täuschen und dem Grauen seinen Lauf lassen, weil sie es vermeintlich nicht ertragen können, ihm ins Auge zu blicken. Es sei denn, der Boulevard liefert es frei Haus. Mit der beruhigenden Versicherung: Das Böse ist immer und überall. Außer bei Mutti.