Ein Achse-Beitrag zum mittelfristigen Rückgang der Erdbevölkerung hat eine Debatte ausgelöst. Die folgende Kritik weist darauf hin, dass globale Durchschnittswerte wenig aussagen über das ungebrochene Wachstum und die damit verbundenen Probleme in Hotspots wie Afrika.
Die beiden hier auf der Achse des Guten veröffentlichten Texte von Andreas Zimmermann über die Entwicklung der Weltbevölkerung (erschienen hier und hier) können nicht ohne Widerspruch bleiben. Es ist vieles richtig, was Zimmermann schreibt, keine Frage. Die Beiträge unterliegen allerdings in zwei zentralen Punkten wesentlichen Fehleinschätzungen.
Richtig ist: Global gesehen hat sich die Dynamik des Bevölkerungswachstums deutlich abgeschwächt, in wichtigen Regionen ist der Anstieg sogar bereits gestoppt. So dass insgesamt eine Schrumpfung bereits heute absehbar ist, mit allen bei Zimmermann aufgeführten Konsequenzen und Problemen.
Was der Autor außer Acht lässt: In einigen Teilen der Welt ist das Wachstum nach wie vor enorm, bislang ohne Aussicht auf Umkehr, unbeschadet dessen, dass auch dort die Steigerungsraten ein wenig nachgelassen haben. Dies gilt besonders für eine Region, deren ökologische wie auch wirtschaftliche „Tragfähigkeit“ von Bewohnern (so nennen es die UN) längst erschöpft ist. Am deutlichsten in Afrika südlich der Sahara, „Subsahara“, „Sahel“. Es ist absehbar, dass hiervon auch das nicht so weit entfernte Europa im Zuge der Migration betroffen sein wird, mehr noch, als dies heute bereits der Fall ist.
Was der Autor auch falsch einschätzt: Besonders das linke und grüne Spektrum, dem er vorwirft, in Sachen weltweites Bevölkerungswachstum Panik verbreitet zu haben, hat sich im letzten halben Jahrhundert eher mit dem genau gegenteiligen „Narrativ“ hervorgetan. Jeden Gedanken an Entwicklungshilfe, die auch Familienplanungsprogramme miteinschließt, haben sie immer wieder als Bevormundung, auch als Rassismus abgetan. Ihre Parole: Man wolle so „die Hungernden bekämpfen und nicht den Hunger“ oder zur Abwechslung auch mal „die Armen sollen abgeschafft werden statt der Armut“.
Zunächst zu den Zahlen. Wenn auch in Europa, in Nordamerika die autochtone und inzwischen sogar in China die Bevölkerung schrumpft, sieht es in der Sahel-Region, eine besonders arme und eine ökologisch besonders empfindliche Region, noch völlig anders aus, ohne Aussicht auf schnelle Umkehr: Im Tschad lag der Zuwachs im Jahr 2024 bei 4,2 Prozent. Zur Verdeutlichung: Ginge es mit diesem Wert weiter, würde sich die Anzahl der Bewohner in 16,7 Jahren verdoppeln, in etwa 50 Jahren verachtfachen. Dass die Wachstumsraten spürbar fallen werden, zeichnet sich dort für die nächsten Jahre nicht ab. Die Vermehrung in Stadt und Land könnten weder der Arbeitsmarkt noch die Infrastruktur und die Verwaltung bewältigen, schon gar nicht die Natur, das dort besonders empfindliche Ökosystem, der Acker- und Weideboden.
So entwickelte sich der Zuwachs in der Zeitspanne einer Generation: Im Jahr 1995 lebten im Tschad sieben Millionen Menschen, 2005 waren es 10,3 Millionen, 2015 dann 14,65 Millionen und 2025 sind es 21 Millionen. Das ist jedenfalls kein lineares Wachstum mehr, es trägt vom Ausmaß her eher Züge eines exponentiellen Wachstums, selbst wenn es die Bedingung nicht erfüllt, dass der Exponent auf die letzte Stelle hinterm Komma konstant bleibt. Warum so etwas in der Natur oder auch beim menschlichen Zuwachs grundsätzlich ausgeschlossen sein soll, wie Zimmermann schreibt, ist nicht nachvollziehbar.
Innerhalb eines Jahrhunderts verzehnfacht
In den anderen Staaten der Sahelregion sieht es nicht wirklich anders aus: Niger, Mali, Burkina Faso, Sudan oder auch Nigeria (nur zum Teil dem Sahel zugehörig), wo sich die Anzahl der Menschen bis 2050 innerhalb eines Jahrhunderts verzehnfacht haben wird, auf 359 Millionen. Zwar zählt der Sahel insgesamt mit rund 400 Millionen nicht mal ein Drittel der Einwohner etwa Chinas. Doch bezogen auf alle Voraussetzungen der Region darf man aber getrost von einer Überbevölkerung sprechen. Und trotz des vergleichsweise überschaubaren Anteils an der globalen Gesamtbevölkerung ist absehbar, dass auch der übernächste Nachbar Europa davon in Mitleidenschaft gezogen werden wird.
Schon heute handelt es sich um bedeutende Herkunftsländer jener Ströme von Migranten, die sich auf den Weg nach Europa machen. Der Wanderungsdruck dürfte kaum nachlassen, eher noch steigen, über weitere Jahrzehnte. Die Hälfte der Sahelbewohner ist heute unter 15 Jahre alt. Nach wie vor gelten in diesen Ländern die Gleichung viele Kinder = viel Ehre für den Mann und viele Kinder = gute Alterssicherung. Wobei letzteres nur noch zum Trugschluss neigt aufgrund wachsender Mobilität bis hin zur Migration. Die angeblich automatische Folgewirkung von wachsendem Wohlstand hin zu geringeren Geburtenraten macht gerade Pause.
Und natürlich, wie könnte es anders sein: Gerade bei den Hintergründen dieser Wanderungsbewegungen wird von jenen Linken und Grünen jetzt der Klimawandel als Ursache ins Spiel gebracht, um Europa wegen seiner industriellen Emissionen die Verantwortung zuzuschieben. Gefühlt passt es ja auch wunderbar: Sahel ist trocken, und mehr Hitze klingt nach mehr Trockenheit, logisch, noch Fragen?
Dabei verhält es sich genau umgekehrt: Der Klimawandel führt über die Verschiebungen beim Monsun im Sahel zu erheblich mehr Niederschlägen und mehr Pflanzenwachstum. Erstens Satellitenbilder, zweitens Klimamodelle und drittens paläoklimatische Parallelen aus anderen Zeitaltern bestätigen dies gleich dreifach. Die Folgewirkung läuft in die Gegenrichtung: Gerade das Bevölkerungswachstum gefährdet wiederum diese zarten Ansätze der Natur, mehr Ackerbau, mehr Viehzucht lässt dem wachsenden Unterholz keine Chance. Als Fluchtursache jedenfalls fällt der Klimawandel im Sahel aus, definitiv. Der Grund ist bei der Palette von Push- und vor allem Pullfaktoren nicht das Bevölkerungswachstum allein, eine große Rolle spielt es dennoch.
Ähnliche Lage auf den Südseeinseln
Es gibt übrigens noch eine zweite Region, in der die Bevölkerungssentwicklung, ihre Dynamik, deren Konsequenzen und auch die Diskussionen über all das durchaus vergleichbar wirken, auch wenn die Gesamtbevölkerung dort nur einen Bruchteil derjenigen des Sahels ausmacht. Auch auf den Südseeinseln, insbesondere den bewohnten Atollen dort, gibt es ein enormes Bevölkerungswachstum. Auch dort: eine längst erschöpfte Tragfähigkeit hochempfindlicher Ökosysteme, ein gehöriger Druck zum Auswandern, der in dem Fall Australien und Neuseeland betrifft – und ebenfalls die falsche Behauptung, dieser sei auf den Klimawandel (Meeresspiegelanstieg, Inseluntergang) zurückzuführen. Die Zusammenhänge sind hier (im letzten Drittel) erklärt. Nur so viel sei schon mal verraten: Die Atolle gehen nicht unter, sie steigen und fallen seit jeher mit dem Meeresspiegel. So wie die älteren von uns dies aus ihren Geografie-Lehrbüchern gelernt haben, was aber heute nicht mehr dem gewünschten „Narrativ“ entspricht.
Nun noch zu Andreas Zimmermanns Fehlinterpretation in der Einschätzung des Bevölkerungswachstums durch das Lager der Linken, der Grünen, der Umweltszene. Dass sie es seien, wie er schreibt, die schon immer am heftigsten, aber unberechtigt vor den Folgen warnen und auf Abhilfe plädieren würden. Daran ist, wenn überhaupt, nur eines wahr: Aus diesem Milieu heraus werden die Menschen der Länder, in denen der Zuwachs seit vielen Jahren gestoppt ist, der Industrieländer also, der Reichen, für die Verpestung der Umwelt und für den Klimawandel verantwortlich gemacht. Deshalb hört man aus jenem Lager oft genug die Bemerkung, je weniger Bewohner der nördlichen Länder, desto besser für die ganze Welt. Das allerdings hat mit dem Thema Bevölkerungswachstum nichts zu tun, weil dieses – wie jeder weiß – in den Industrieländern seit mehreren Jahrzehnten gestoppt ist und es wieder abwärts geht.
Was aber die Weltregionen angeht, denen man hierbei durchaus noch ein problematisches Wachstum nachsagen muss, so hört man aus dem linken und grünen Spektrum keinerlei Stellungnahme, aus der irgendein diesbezügliches Problembewusstsein herauszulesen wäre. Ganz im Gegenteil. Als Beispiel für den Tonfall hierzu sei hier einmal ein Beitrag aus der linken „taz“ von deren Afrikaexperten angeführt, der das dramatische Wachstum in Afrika als „Bereicherung“, als „Zukunftsinvestition“ und „Voraussetzung für Wohlstand“ ansieht, und skeptische Stimmen hierzu gleich mal mit AfD-Politikern in Verbindung bringt.
Er setzt einfach die Bevölkerungsdichte in unseren überaus fruchtbaren borealen Breitengraden mit denen in den hochempfindlichen ariden Ökosystemen und den dortigen wirtschaftlich wie infrastrukturell heillos darniederliegenden Ländern Afrikas gleich, zieht dann einen Strich unter beide und behauptet: Dort sei noch mehr als genug Platz. Der Artikel steht in einer Reihe ganz ähnlicher Verlautbarungen aus dieser Ecke, zum Beispiel mit diesem taz-Artikel aus dem Jahr 1991, dessen Autorin suggerierte, es gehe in jenem Jahr noch um Zwangssterilisationen und Pharmaexperimente an Frauen aus der Dritten Welt, wie sie unverantwortliche Wissenschaftler in den 1950er Jahren ins Spiel brachten. Eine plumpe Verdrehung auch 1991 schon.
Einmischung in die dortigen Gesellschaften?
Der Autor dieser Zeilen hat 1984/85 in der ersten Bundestagsfraktion der Grünen als wissenschaftlicher Mitarbeiter für den Bereich Entwicklungspolitik gearbeitet und dabei eines sehr schnell gelernt: Das Thema Bevölkerungspolitik (auch selbst im gerade geschilderten Sinne) war dort absolut tabu. Neoimpoerialismus, Paternalismus des Nordens gegen den Süden, den man nur schwächen wolle. Wir hatten ziemliche Auseinandersetzungen in dieser Frage. Immer wieder habe ich mich in den Jahren seither kritisch mit der ablehnenden Haltung der „NGOs“, der „Zivilgesellschaft“ gegenüber der Bevölkerungspolitik auseinandergesetzt.
Jedes Plädoyer von anderer Seite für mehr Hilfe bei der Familienplanung, etwa in Afrika, wird in diesem Millieu als Einmischung in die dortigen Gesellschaften gebrandmarkt, wenn nicht gleich als Rassismus und Imperialismus, als gehe es um gesetzliche Kinderhöchstzahlen, alles aus dem „Norden“ überwacht. In einem Tonfall, als wolle man den Kindern in Afrika das Lebensrecht absprechen. Eine führende Vertreterin der Aktionsgemeinschaft Solidarische Welt (ASW) behauptete damals, die Erde könne locker 33 Milliarden Menschen ernähren. Dass dafür alle Regenwälder abgeholzt und nur noch Pestizid-Landwirtschaft betrieben werden dürfte – egal. Wenn nur der Süden möglichst bevölkerungsreich und damit angeblich mächtig werde.
Dabei ginge es zum Beispiel im Rahmen der Entwicklungshilfe ganz konkret ausschließlich um Beratung und Unterstützung der dortigen Frauen, ihrer Rechte, ihrem Zugang zu Kontrazeptiva und die Stärkung ihrer Rolle in der Familie. Doch selbst Projekte dieser Art finden in den Kapiteln zur Internationalen Zusammenarbeit in den Parteiprogrammen etwa der Grünen oder der Sozialdemokraten bis heute fast bis gar keinen Platz. Zu fest sitzt im linken Spektrum die Angst, man würde sich hierbei als entwicklungspolitische Geberländer sozusagen in die „Privatangelegenheiten“ der ärmeren Nehmerländer einmischen. Offenbar bestärkt die ablehnende Haltung der Regierungen muslimischer Länder gegenüber diesen Fragen – wenn es zum Beispiel um stärkere Frauenrechte geht – bizarrerweise ausgerechnet bei Grünen und SPD deren eigene Zurückhaltung.
Der Eindruck, den Achse-Autor Andreas Zimmermann erweckt, dass nämlich die größten Kritiker des Bevölkerungswachstums und stärksten Verfechter einer aktiven Bevölkerungspolitik traditionell in der links-grün-alternativen Szene zu verorten sind, trifft nicht zu. Eher das genaue Gegenteil.
Die Dramatik, die diesem Topos innewohnt, hat sich durch global und summarisch verringerte Zuwächse gerade ein wenig abgeschwächt. Doch es leben immer noch jedes Jahr gut 70 Millionen Menschen mehr als im Vorjahr auf der Welt. Und zwar konzentriert auf einige wenige Weltenregionen, in denen dadurch weiterhin noch gehöriger Konfliktstoff lauert, der auch uns angeht. Es gibt mithin gehörige und durchaus lautere Gründe, Dialoge und Hilfe zur Selbsthilfe anzubieten.
Ulli Kulke ist Journalist und Buchautor. Zu seinen journalistischen Stationen zählen unter anderem die „taz“, „mare“, „Welt“ und „Welt am Sonntag“, er schrieb Reportagen und Essays für „Zeit-Magazin“ und „SZ-Magazin“, auch Titelgeschichten für „National Geographic“, und veröffentlichte mehrere Bücher zu historischen Themen.