Archi W. Bechlenberg / 03.06.2018 / 06:25 / 10 / Seite ausdrucken

Das Antidepressivum: „Der Schrei“ – die wahre Geschichte

Im Jahr 1891 hat der norwegische Maler Edvard Munch eines Nachts eine furchtbare Vision. Er schiebt sie auf seine desolate psychische Verfassung und den seit seinem Studienaufenthalt in Paris einige Jahre zuvor zunehmenden Alkoholgenuss. Die Vision, in der ein unbeschreibliches Grauen und viele Menschen vorkommen, lässt ihn nicht in Ruhe, und so beginnt er wenige Tage später mit ersten Skizzen dessen, was ihm im Traum erschienen ist. 

1893 erschafft Munch dann die erste von insgesamt vier Versionen seines wohl bekanntesten Bildes mit dem Titel „Der Schrei“. Bis 1910 – da entsteht die letzte Fassung – beschäftigt ihn das Thema. Man kann sich wundern, dass ihn die grausige Abbildung einer Figur mit den an den Kopf gepressten Händen und weit aufgerissenen Augen und Mund so lange verfolgt hat, so dass er sich offensichtlich gezwungen sah, sich immer wieder diesem Motiv zu stellen, zumal zwischen der vorletzten und der letzten Fassung immerhin 15 Jahre vergingen.

Als studierter Kunsthistoriker hat mich die Entstehungsgeschichte des Bildes und seiner vier Fassungen immer wieder beschäftigt, und es ist mir gelungen, das letzte Licht in die noch offenen Fragen zu tragen. Insbesondere der Umstand, dass Munch nach 15 Jahren und einer dazwischenliegenden Jahrhundertwende das Motiv noch einmal aufgriff, verlangte nach einer Erklärung. Seltsamerweise haben selbst führende Kunsthistoriker wie der mit Munch eng befreundete Julius Meier-Graefe die Aufklärung diesen Frage nicht für wichtig erachtet. Nur ein einziges Mal, in seinem Briefwechsel (1905–1929) mit Hugo von Hofmannsthal deutet Meier-Graefe an, er müsse „...Ihnen demnächst etwas über unseren gemeinsamen Freund M. erzählen, das zieht Ihnen die Schuhe aus.“

Im Herbst 1906 ist Edvard Munch wieder einmal in Deutschland, genauer, in Berlin tätig. Dort fertigt er Bühnenbildentwürfe für Max Reinhardts Aufführung der „Gespenster“ von Ibsen an, die im kleinen Saal des Deutschen Theaters Berlin dargeboten werden soll.

Genialer, seelisch gequälter, nordeuropäischer Melancholiker

Zu dieser Zeit ist Munch längst ein europaweit renommierter Maler, und der damalige Farbenlieferant des Deutschen Theaters, ein gewisser Herbert Heinz v. Ackerknecht, ist begeistert von der Tatsache, dass der von ihm schon lange verehrte Meister ausgerechnet mit seinen Farben, Pinseln und Stiften arbeitet. Von Ackerknecht nutzt die Gelegenheit einer neuen Materiallieferung und bringt diese persönlich zum Theater; dort kommt er mit Munch ins Gespräch. In dessen weiterem Verlauf, über das ansonsten nichts bekannt ist, lädt er den Künstler in seine Pankower Villa für den kommenden Freitag zu einem ihm zu Ehren veranstalteten Dinner ein, das unter dem Motto „Skandinavien, wie es trinkt und isst“ steht. Munch, der sich in der Stadt außerhalb der Dienstzeiten am Theater ziemlich langweilt, fragt, ob es denn auch Aquavit gebe, was v. Ackerknecht mit einem „Aber so was von!“ bejaht. Daher sagt der Maler zu.

Von Ackerknecht hat sich nicht lumpen lassen, sowohl die geladenen Gäste als auch die Dekorationen des herrschaftlichen Hauses erfüllen alle Erwartungen. Munch ist geradezu begeistert, und Ehrengast einer solchen hochkarätigen Soirée zu sein, schmeichelt ihm ungemein. Doch lässt er sich das nicht anmerken, um sein Image als genialer, seelisch gequälter, nordeuropäischer Melancholiker voller Neurosen, Ängsten und Manien nicht zu untergraben.

Nach den üblichen Präliminarien solcher Abende bittet die Dame des Hauses, Erdmute von Ackerknecht, schließlich zu Tisch. Als auch Munch, der dem Aquavit bereits tüchtig zugesprochen hat, endlich zu seinem Platz geführt worden ist, erhebt von Ackerknecht zunächst sich und dann die Stimme. Der Gastgeber hält eine launige Rede über die Rolle des Eichhörnchens in der skandinavischen Malerei des 17. Jahrhunderts und schwenkt dabei geschickt über zu Munch, der, so von Ackerknecht, niemals ein Eichhörnchen dargestellt hat und somit eine jahrhundertelange Tradition etc. etc.

Munch, der bereits hungrig in Pankow erschienen war, lässt von Ackerknechts Eloge schweigend über sich ergehen und spricht derweil dem Aquavit weiter zu. „...als radikaler Vertreter einer neuen Kunstauffassung, in der Eichhörnchen höchstens noch als Lieferanten besonders weicher, naturbelassener Haare, aus denen unsere besten Pinsel gefertigt...“ hört er schließlich und weiß, gleich gibt es endlich etwas zu essen. 

Zum Abschluss der Rede erhebt von Ackerknecht, der ohnehin ein recht lautes Organ sein Eigen nennt, seine Stimme um eine halbe Oktave und richtet sich direkt an den Künstler: 

„Sie, verehrter Meister, sind unser heutiger Ehrengast. Ein Ehrengast, den es aus dem fernen Skandinavien zu uns gezogen hat und der uns alle, auf dem vorläufigen Höhepunkt seines Genies, hier an seinem Wesen und Wirken teilnehmen lässt! Lassen Sie mich meine grenzenlose Hochachtung zum Ausdruck bringen, indem ich Ihnen aus dem hohen Norden Ihrer Heimat eine Spezialität habe besorgen lassen, die Sie womöglich schon lange nicht mehr genießen konnten!“

„Ich bin Norweger und kein Schwede!“

Bei diesen Worten betritt eine ausnehmend schöne Frau den Saal. Gekleidet ist sie in der traditionellen Tracht der Lappen, vor sich her trägt sie ein goldenes Tablett, auf dem sich unter einem farbenfrohen Tuch etwas verbirgt. Mit anmutigem Lächeln stellt sie das Tablett vor den verzückten Munch und entfernt sich rasch wieder (was den Geehrten nicht wenig ärgert, aber er lässt sich nichts anmerken).

Schwankend erhebt sich der Maler, spricht ein paar kurze, an den Gastgeber und dessen Gattin gerichtete Dankesworte („Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben. Gegenstände ohne Inhalt sind leer!“) und zieht dann mit einer etwas gekünstelten Geste den bunten Lappen zur Seite.

Im selben Moment erstarrt Munch, wie vom Schlag getroffen steht er da und verwandelt sich in die grausige Abbildung einer Figur, die mit an den Kopf gepressten Händen und weit aufgerissenen Augen und Mund dem Entsetzen direkt ins Antlitz schaut. Von Ackerknecht missdeutet Munchs Paralyse vollkommen und hält sie für den Ausdruck höchsten Entzückens. Mit weit geöffneten Armen umrundet er den langen Tisch und tritt auf den schockstarren Ehrengast zu.

 „Was sagen Sie, Meister? Natürlich habe ich Ihnen von allen Gaben die beste heran schaffen lassen! Lekmogen Prima Ultra Sörströmming, Extra Verfeinerter, sybaritischer Geschmack, nur 650 Dosen werden davon jedes Jahr produziert! Darf ich Ihnen die Dose öffnen?“

Bei diesen letzten Worten löst sich Munchs Starre, er nimmt die an den Kopf gepressten Hände zur Seite, reißt die Augen noch weiter auf, sieht von Ackerknecht an, wendet sich dann an die weiteren Gäste und schreit: „Ich bin Norweger und kein Schwede!“ Und im nächsten Moment rennt er wie um sein Leben aus dem festlichen Saal und verschwindet in der Dunkelheit des Parks, der das von Ackerknecht'sche Anwesen umgibt.

Ratschlag, es doch mal mit Ergotherapie zu versuchen

Der Rest ist schnell erzählt. Von Ackerknecht, der sich Munchs Verhalten nicht erklären kann, lässt einen Büchsenöffner bringen und beginnt, den Deckel der Dose zu entfernen, womit er seine gesellschaftliche Vernichtung einläutet. Kaum eine halbe Woche später macht er Bankrott, verliert Haus und Hof sowie das Anwesen in Pankow, seine Frau verlässt ihn mitsamt der Kinder, worauf hin der einst so angesehene Hof- und Theaterlieferant für Farben, Pinsel und Stifte Berlin verlässt, ja, auch Deutschland. Er zieht sich in die Tundra Nordfinnlands zurück, wo er wenig später gefunden wird, von Mücken bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt.

Munch hingegen fällt in einen noch tieferen Zustand seelisch gequälter, nordeuropäischer Melancholie voller Neurosen, Ängste und Manien. Max Reinhardt muss seine Kulissen mehr schlecht als recht selber malen, und die Aufführung der Gespenster wird ein Flop, da die gesamte feine Gesellschaft der Stadt zur Rekonvaleszenz in der Schweiz weilt und nur etwa 50 Karten an die Mitglieder einer okkulten Gesellschaft verkauft werden, die während der gesamten Aufführung lauthals maulen, da habe ja wohl einer überhaupt keine Ahnung vom Jenseitigen, der Autor sei wohl von allen guten Geistern usw. usf.

1910 schließlich ist der Maler seelisch aus dem Gröbsten heraus, er reist nach Wien und wendet sich an Alfred Adler (der drei Jahre später den Fall Munch in seinem theoretischen Hauptwerk „Über den nervösen Charakter“ aufgreift.) Adler, mit Kunst nicht bewandert, ist Edvard Munch kein Begriff; er rät nach einigen Gesprächen dem Ratsuchenden, es doch mal mit Ergotherapie zu versuchen, das könne er auch alleine für sich und ohne Kontakt mit anderen Menschen praktizieren. „Machen Sie mal etwas mit Speckstein!“ schlägt er Munch vor, und als dieser fragt, ob auch Bildermalen ginge, nickt Adler zustimmend. „Nehmen Sie Fingerfarben, damit können Sie sich tagelang beschäftigen und Sie müssen nicht gleich etwas Vorzeigbares erschaffen.“

Munch ist von Adler schwer beeindruckt und verspricht diesem, sich genau an dessen Anweisungen zu halten. Während der Zugfahrt nach Berlin ändert er allerdings den Therapieplan eigenhändig, weshalb er wenig später die vierte Fassung von „Der Schrei“ dann auch nicht mit Fingerfarben, sondern mit Öl und Tempera auf Pappe erschafft. Im August 2004 wird das Werk von maskierten Tätern anlässlich eines bewaffneten Raubüberfalls auf das Munch-Museum in Oslo entwendet. Zwei Jahre später wird es, stark beschädigt und übel riechend, wieder gefunden. Eine vollständige Restaurierung der Schäden ist nicht mehr gelungen.

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Leserpost

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Robert Krischik / 03.06.2018

Tja, manchmal gehen die Dinge eben richtig schief. Dabei war die Idee mit dem Sörströmming doch nur gut gemeint, wie z.B. auch die DSGVO. Nur wird die EU leider nicht so schnell Pleite gehen wie der wackere Herr von Ackerknecht.

Heinz Brunner / 03.06.2018

Surströmming mag zwar beim Öffnen der Dose etwas riechen, doch lecker ist es trotzdem.

Gabriele Schulze / 03.06.2018

Ich habe heute morgen gegrübelt, woran mich diese Geschichte erinnert, jetzt hab ich’s. Es ist nichts Konkretes, sondern die Atmosphäre der Erzählungen von E.T.A. Hoffmann, die ich in der Jugend mit Schaudern genossen habe. Danke!

Arndt Warnhold / 03.06.2018

Wenn ich mir etwas wünschen dürfte: Ein Antidepressivum jeden Tag. Montag Kunst, Dienstag Musik, Mittwoch offenes Thema, Donnerstag Literatur, Freitag Reisen, Samstag und Sonntag Nonsens vom feinsten. Ginge das?

Ulla Smielowski / 03.06.2018

Man muss erst einmal wissen, was es mit diesem Fisch in Dosen auf sich hat. Die Schweden behaupten ja steif und fest, gerade dieser vergorene Fisch, sei die größte Leckerei überhaupt. Erfahren habe ich nur davon, als eine Delegation von Künstlern aus Schweden, hier nach Hannover eingeladen wurden, die, großartig, großartig, sich auch in Deutsch verständigen konnten. Untergebracht waren die Künstler in einem Hotel, dass ihnen zur Übernachtung kostenlos zur Verfügung stand.. Heute wollen auch Künstler nicht mehr privat bei Vertretern eines Freundeskreises wohnen, es sei denn in einem Schloss.. Aber v. Schaumburg-Lippes Schloß war dann wiederum zu weit weg..  Künstler wohnen gerne zentral..

Nadja Schomo / 03.06.2018

Diese Geschichte erinnert mich sehr an die Ermordung des ukrainischen Journalisten Arkadi Babtschenko.

bernd hoenig / 03.06.2018

Fantastisch, danke, ein Schmaus für jeden Munch-Kenner/Fan -))

Bernhard Freiling / 03.06.2018

So war das also. :-) Diese längst überfällige Aufklärung hätte auch die WimS geadelt.

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