Archi W. Bechlenberg / 18.06.2017 / 06:25 / 3 / Seite ausdrucken

Das Antidepressivum zum Sonntag: Klare Linie

Irgendwann Anfang der 1960er Jahre ließ sich meine Mutter an der Haustüre ein Abonnement der Zeitschrift „Der Deutsche Hausfreund“ aufschwatzen. Ein schwarzer Tag für mich, der seinen Schatten über die folgenden Jahre warf, der aber auch, so stellte sich heraus, durchaus Positives mit sich brachte. Da in diesem, auf billiges Zeitungspapier schwarzweiß gedruckten Machwerk auch das Fernsehprogramm veröffentlicht wurde, verzichtete die Familie fortan auf den bis dahin obligatorischen wöchentlichen Kauf der Hör Zu im Laden von Frau Wuttke, ein Hort von Kultur und Sinnlichkeit, in dem man Lesestoff und Tabakwaren kaufen, Krimis mit Jerry Cotton und Western mit Tom Mix ausleihen sowie Damenstrümpfe zum Stopfen abgeben konnte.

Ich mochte Frau Wuttke, und Frau Wuttke mochte mich. Eine wunderbare Freundschaft, der durch den Deutschen Hausfreund jäh die Grundlage entzogen wurde. Nicht, dass ich mit Frau Wuttke etwas hatte; ich war erst 9 oder 10 Jahre alt, und erst mit 13 hatte ich meine erste, altersgemäßere Freundin, aber das ist eine andere Geschichte. Zwischen Frau Wuttke und mir gab es ein tiefes Geheimnis, und das schweißte uns fest zusammen. Wenn ich kam, um die Hör Zu zu holen, langte die gute Frau hinter ihre Ladentheke und holte ein unscheinbares, wenige Seiten dünnes Heft hervor, das sie mir mit verschwörerischem Blick unter die Hör Zu schob, damit ich es, von anderen ungesehen, mit nach Hause nehmen konnte.

Bei diesem Heft handelte es sich um das „Sternchen“, eine Kinderbeilage der heute vor allem in Sachsen beliebten Illustrierten Stern; Frau Wuttke fischte nämlich für mich jeweils aus einem Exemplar des Stern wöchentlich das Sternchen heraus, um es mir zu geben. Anders herum gesagt: irgend einem Käufer des Stern fehlte die Beilage somit, und ich hoffte inständig, dass Frau Wuttke niemals das Sternchen aus einem Stern mopste, der von einem Familienvater oder einer Mutter gekauft wurde, deren Kinder bereits sehnsüchtig auf das Heftlein warteten. Soweit ich weiß, ging der Deal aber immer gut aus, Frau Wuttke wurde jedenfalls nie verhaftet.

Und nun das. Keine Hör Zu mehr, kein Sternchen mehr. Zwar durfte ich manchmal noch in den Laden, aber dann, um kleine Tütchen abzuholen, in denen kunstvoll reparierte Nylonstrümpfe meiner Mutter lagen. Die waren damals nämlich so teuer, dass sich die fachmännische Beseitigung von Laufmaschen durchaus rechnete. Frau Wuttke brachte das Thema Sternchen niemals mehr zur Sprache, und ich war natürlich zu wohlerzogen, um noch einmal danach zu fragen. Und das alles wegen eines Hausfreundes, wenn auch eines deutschen.

Zum ersten Mal ein Abenteuer von Tim und Struppi

Im Sternchen erschien damals ein Comic, den ich heiß und innig liebte, er hieß Jimmy das Gummipferd, seine Helden waren Jimmy das Gummipferd und sein beleibter Reiter Julio. Die Idee, dass ein luftgefülltes Gummitier – vergleichbar dem Krokodil, mit dessen Hilfe ich das Schwimmen lernte – wie ein echtes Lebewesen agieren konnte, gefiel mir sehr und kam mir durchaus plausibel vor, zudem die besonderen Eigenschaften eines solchen Zossen ihn in vielen Situationen jedem richtigen Pferd überlegen machten, insbesondere, wenn es darum ging zu schweben oder nicht unterzugehen.

Mit dem Ende der Beziehung zu Frau Wuttke war es auch mit diesem wöchentlichen Highlight für mich vorbei. Doch bot, so fand ich schnell heraus, der ansonsten so öde Deutsche Hausfreund eine echte Alternative: auf der letzten Seite des Heftes war nämlich jeweils eine ganze Comicseite zu finden, und die hatte es in sich. Zwar nur in schwarzweiß und unendlich in die Länge gezogen – da es ja immer nur eine Seite war – las ich zum ersten Mal ein Abenteuer von Tim und Struppi. Ich erinnere mich nur zu genau, es war die Geschichte „Die Schwarze Insel“, die im Ganzen 62 Seiten umfasst und somit für weit über ein Jahr hinaus Lesestoff bot, jedenfalls so scheibchenweise serviert wie auf der Rückseite des Deutschen Hausfreunds. Da es sich bei der „Schwarzen Insel“ um eine besonders spannende Geschichte handelt, war es für mich stets eine Qual, die ganze Woche warten zu müssen, bis ein Zeitungsbote das neue Heft frei Haus lieferte. Nein, nicht ganz frei, meine Mutter gab ihm jedes Mal 10 Pfennige für die Lieferung.

Die Serie um Tim und Struppi (Original: Les aventures de Tintin) des belgischen Zeichners Georges Prosper Remi (1907 – 1983) alias Hergé gehört zu den erfolgreichsten Comics aller Zeiten, der selbst in Sprachen wie Lëtzebuergesch, Elsässisch und sogar Hessisch übersetzt wurde. Zwischen 1929 und 1983 erschienen 24 Geschichten um den Reporter Tim und seinen Hund Struppi (Filou), einen 25. Band konnte Hergé nicht mehr fertig stellen. Seine unverwechselbare, zeichnerische Handschrift, Ligne claire genannt,  die mit ihren klar begrenzten Figuren ohne Schatten ebenso hervor sticht, wie mit der schnörkellosen Erzählweise und der Ordnung der Dinge, war und ist stilbildend bis heute.

Hergés Geschichten sind nicht unumstritten, vor allem seinen frühen Werken sagt man vom Rassismus bis zum Antisemitismus allerlei Abscheuliches nach; wohl nicht zu Unrecht, wie auch Hergé im Laufe seines Lebens selber erkannte, er änderte daher später nicht nur seine Sicht der Dinge, sondern überarbeitete auch ältere Geschichten, um die schlimmsten Entgleisungen zu tilgen. Immerhin sind nicht alle Vorwürfe gerechtfertigt, was wäre schließlich an dem ihm ebenfalls zur Last gelegten Antikommunismus falsch?

Tim, die Hauptfigur aller Geschichten, fand ich eher langweilig, auch wenn sein Beruf  - Journalist - damals noch ein ehrenwerter war. Der junge Mann mit dem Eierkopf und der Haartolle erinnerte mich charakterlich fatal an Micky Maus, jenen besonders spießigen Einwohner von Entenhausen, dem in den gezeichneten Geschichten aus dem Hause Disney jegliches „Fehlverhalten“ fern lag (in den Trickfilmen hingegen ist Maus eher ein Anarch). Tims Hund Struppi war zwar für allerlei Slapstickeinlagen gut, besaß aber auch nicht gerade das Charisma, das nötig war, um meine Sympathien zu gewinnen.

Ein waschechter Stinkstiefel namens Kapitän Haddock

Ganz anders hingegen der waschechte Stinkstiefel Kapitän Haddock, der ab dem neunten Band, „Die Krabbe mit den Goldenen Scheren“ (1940) zu Tims unverzichtbaren Sidekicks gehörte. Haddock trinkt unmäßig, raucht Tabak, ist meist schlecht gelaunt und besitzt ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an Flüchen, die er oft und gerne ablässt. Das war ein Held nach meinem Geschmack! Trotz aller schlechten Eigenschaften und Angewohnheiten ist Haddock ein wichtiger Verbündeter Tims, manchmal eher aus Tollpatschigkeit, meist aber, weil er das Herz auf dem rechten Fleck hat und nicht einmal hunderttausend Höllenhunde, Ikonoklasten, Schnapphähne, Vegetarier, Patagonier, Antipoden, Teppichhändler, Bahnhofspenner und Affengesichter fürchtet.

Eine Reihe mehr oder weniger schräger Figuren belebt das Panoptikum rings um die Hauptfiguren, darunter die tollpatschigen Detektive Schulze und Schultze, der leicht vertrottelte, zudem schwerhörige Professor Balduin Bienlein, die Opernsängerin Bianca Castafiore (Haddocks Nemesis), der geschwätzige Vertreter Fridolin Kiesewetter (laut Hergé „Ein typischer Belgier, der zu seinen Hosenträgern immer noch einen Gürtel trägt“) sowie eine ganze Latte von Schurken diverser Provenienz und Bösartigkeit.

Hergé war, ganz ähnlich dem legendären Donald Duck Zeichner Carl Barks, ein universell interessierter und gebildeter Mensch. Seine Geschichten, die Tim und Co. durch die ganze Welt führen, besitzen nicht nur in ihrer klaren Erzählweise ein ähnliches Genie wie das von Barks, sondern auch im historischen wie länderkundlichen Bereich. Selbsterfundene Länder wie die Balkanstaaten Syldavien  und Bordurien, das fiktive Emirat Khemed sowie die lateinamerikanische Bananenrepublik San Theodoros lassen Hergés politische und geografische Kenntnisse erkennen, Anspielungen auf Hitler, Stalin und Fidel Castro inklusive. Tim und Struppi sind zeitlos, daran können auch (heute) politisch unkorrekte Plots und Figuren wie Haddock nicht kratzen. Neben den Bänden mit Hergés Geschichten gibt es Filme, Zeichentrickserien, Hörbücher und -cassetten, Sammelfiguren, ein Musical und vieles mehr. Und da vor allem die Belgier nichts auf ihren Hergé kommen lassen, hat man ihm in Louvain-la-Neuve ein ganzes Museum gewidmet. Dort dreht sich alles um Hergés Werk, oder zumindest fast alles; 2015 sollte eine Ausstellung zum französischen Satiremagazin "Charlie Hebdo" stattfinden, sie wurde aus Angst vor islamischen Terror abgesagt. 

1967 kaufte ich meinen ersten richtigen Tim und Struppi Band, ich besitze ihn heute noch, die Geschichte heißt „Im Reiche des Schwarzen Goldes“, das Heft hat einen feinen Leinenrücken und ist bestens erhalten, obwohl ich es ungezählte Male gelesen habe. Später kaufte ich alle fehlenden Bände nach, vom wegen Rassismus geschmähten „Tim im Kongo“ bis zum letzten vollendeten, dem 1976 erschienenen  „Tim und die Picaros“, in dem etwas ganz Ungeheuerliches aufgedeckt wird - Kapitän Haddocks bis dahin nie genannter Vornamen. Er heißt Archibald.

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Deutsche Fanseite hier

Website des Hergé Museums in Louvain-la-Neuve hier

Dokumentation über Hergé (deutschsprachig) hier

Zeichentrickfilm: Der geheimnisvolle Stern

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netiquette:

Bernd leber / 19.06.2017

Ein ausgesprochen gelungenes Antidepressivum, stellt es doch mein ganz persönliches Idol in den Mittelpunkt: den Captains Haddock. Auf Tintin bin ich durch die Kinder gestoßen, denen ich die meisten Bände vorgelesen hatte, wobei das Vergnügen auf beiden Seiten war. Mittlerweile gibt es ja reichlich Sekundärliteratur zu Tintin im allgemeinen und zu Haddock im besonderen, etwa eine Anthologie der Haddock’schen Flüche. Sehr amüsant und überaus lehrreich.

Ansgar Schwerdtfeger / 18.06.2017

Struppi heißt Milou nicht Filou.

Hjalmar Kreutzer / 18.06.2017

Einfach mal danke für Ihre Antidepressiva zum Sonntag!

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