Das Antidepressivum zum Sonntag: Ein Fall für Erdmute Lurch

Der Rundfunkredakteur Egbert Müller-Berleburg erfüllt sich zum 40. Geburtstag seinen lang gehegten Traum: eine Geschlechtsumwandlung. Die Freude über den erfolgreichen Eingriff wird bald getrübt; rasch holt Erdmute, so heißt Egbert nach dem Umbau, der allenthalben grassierende Sexismus ein. Sie wird schamlos selbst von uralten Kollegen nur noch als Sexualobjekt betrachtet und mit mehr oder weniger offenen Andeutungen („Neue Haarfarbe? Macht gleich viel jünger!“) belästigt.

Als sich dann auch noch Kaplan Pastorius aus der Redaktion „Gott und Gnade“ nach einer Redaktionskonferenz in eindeutiger Weise nähert („Sie haben so wunderschöne Knie... wie gemacht für einen Besuch in meinem Beichststuhl!“) reicht Erdmute die Kündigung ein. Sie löst alle Konten und Versicherungen auf, verlässt Köln und eröffnet in der südfranzösischen Provinz nahe Déchets s/ Ordures einen Gnadenhof für obdachlos gewordene Weinbergschnecken sowie zwei Ponys und einen Strauß.

Zunächst von den Einheimischen misstrauisch beäugt, macht sich Erdmute rasch Feinde in Form des Kläranlagenbesitzers Jean Marie Belfius und des Bürgermeisters Edmond Poubelle, beides einflussreiche Politiker der rechtsradikalen Front Radical (FR), denen die Anwesenheit einer „Fummeltrine" in ihrem bis dahin beschaulichen Bergdorf nicht passt.

Gute Freunde findet Erdmute hingegen bei den Bewohnern einer Wohngemeinschaft für durch das Tourette-Syndrom behinderte und daher diskriminierte südländische Frauen im Nachbarort Comédons. Norbert Selecteur, ein ehemaliges Playboybunny aus Paris und seit ihrer Geschlechtsangleichung Imam der Wohngemeinschaft, verrät ihr, dass Belfius und Poubelle einmal wöchentlich in die nahe gelegene Kleinstadt Saint Vaccination fahren, um dort unter strengster Geheimhaltung in einem vegetarischen Restaurant zu speisen. Nicht einmal Wein wird dort getrunken, statt dessen gibt es Smoothies aus zerriebenen Pflanzensamen, Kokosmilch und Cantaloupe Melonen, die bei Nacht und Nebel aus Cavaillon gebracht werden. Sollte dies öffentlich bekannt werden, wäre es mit der einflussreichen Politik der FR für immer vorbei, der Skandal würde weite Kreise ziehen bis hoch ins Département Usinedeciment und womöglich eine Staatskrise auslösen.

Erdmute möchte in ihrem neuen Leben nichts mehr mit Politik zu tun haben und versucht, sich den Schikanen der Nationalisten durch Nichtbeachtung zu entziehen. Doch diese lassen nicht locker, im Gegenteil. Erst hängen plötzlich morgens schwarze Dessous an ihrer Wäscheleine, dann verschwindet eine der Schnecken und schließlich der Hinterreifen ihres Fahrrads. Als Erdmute wenig später von einer ihrer Schnecken versehentlich berührt wird und davon Plack bekommt, geht sie zur örtlichen Pharmacie und wird auf dem Weg von Belfius, der sie mit seinem Peugeot Diesel überholt, mit einem hämischen "Salut Madame Tantouze!" begrüßt. Das reicht.

Erdmute kauft sich im örtlichen Tabac-Journeaux einen Dictionnaire, schlägt Tantouze nach und beschließt empört, das dunkelgrüne Geheimnis der beiden rechtsradikalen Rassisten öffentlich zu machen und ihnen somit die Masken der französischen Lebemänner, die sich nur von Wein, Pastis, Trüffeln, Ortolanen und Andouillettes ernähren, von den Gesichtern zu reißen.

Eine Kampagne unter dem 'aschtag #moiaussi

Da geschieht etwas Unerwartetes: Theophile Poseur, der Apotheker aus Faible-Odeur, dem Nachbarort von Comédons, liegt am folgenden Morgen, grausam zugerichtet und tot, auf dem Dach des Hauses, in dem Erdmute liebevoll ihre Zöglinge betreut. Rasch macht das Gerücht die Runde, Poseur, ein etwas zwielichtiger Pharmazeut mit Verbindungen in die Halbnegerwelt von Marseille, habe ein Verhältnis mit Erdmute angestrebt und sei von ihr abgewiesen worden. Dies habe ihn nur noch mehr angestachelt, und er habe nicht locker lassen wollen. Man kenne ihn ja, den alten Voyou, bereits vor Jahren habe die Witwe des gardien de paix, Mme Terrain-Inutil, versucht, eine Kampagne unter dem 'aschtag #moiaussi gegen Poseur zu starten, sei dann aber ganz plötzlich verschieden.

Jedenfalls sei der lüsterne Pharmazeut in der Nacht in Erdmutes Haus geschlichen, von der hellhörigen Bewohnerin aber ertappt und mit dem gezielten Wurf eines gusseisernen Topfes entleibt worden. Sie habe ihn dann unter großen Anstrengungen nach oben aufs Dach geschafft und dort abgelegt; den Sinn dessen könne sich zwar niemand erklären, aber Erdmute sei nun einmal aus Deutschland zugezogen und auch sonst nicht ganz bei Sinnen, außerdem lasse der Fundort der Leiche keine andere Erklärung zu.

Die Sache scheint eindeutig, und als die Gendarmerie aus der Kreisstadt Andouille en Bredou anrückt, um Erdmute zu verhaften, ist sie bereits in die nahe gelegenen Berge geflohen. Offenbar wurde sie gewarnt. Sie versteckt sich in einer alten Trüffelölmine und hofft, dass sie ihre Unschuld irgendwie bald beweisen kann. Doch wie lange wird das dauern? Und wie lange können ihre Schnecken, die Ponys und der Strauß ohne frisches Rucola überleben? Erdmute wird klar: Sie kann und darf nicht in ihrem Versteck bleiben, sie muss selber die Dinge in die Hand nehmen und dem Mörder von Theophile Poseur, dem Apotheker aus Faible-Odeur, dem Nachbarort von Comédons, auf die Spur kommen. Und so sieht man in der nächsten Neumondnacht nicht, dass sich eine geduckte Gestalt in Richtung D 339 schleicht, die Arrièrecour mit Dépotoir-Armoiresèche verbindet...

„Entsorgt – Ein Fall für Erdmute Lurch“

Was Sie, verehrte Leser, gerade gustiert haben, ist ein frühes, wenn auch schon recht ausgereiftes Exposé für meinen ersten Kriminalroman, der bereits in wenigen Wochen in der Krimifreunden wohlbekannten Edition Phimoese (das e ist ein Dehnungs-e, wie es auch in den Gemarkungen Vaensen, Buensen und Suerhop oder auch in Kotzebue vorkommt) unter dem Titel „Entsorgt – Ein Fall für Erdmute Lurch“ erscheinen wird. Der Gedanke, einen solchen zu schreiben, kam mir im Verlauf der letzten, von Grippe und allerlei viralem und bakteriellem Beifang geprägten Wochen.

Man liegt da so vor sich hin und kann nichts Rechtes mit sich anfangen. Kopf und  Augen triefen, das Lesen anspruchsvoller Lektüren erfordert zu viel Energie, Radio hören verbietet sich, da sonst auch noch die Ohren triefen würden. Und da fiel mir ein guter, laufender Meter Hörbücher ein, die sich in den vergangenen Jahren als Rezensionsexemplare ansammelten. Natürlich hatte ich sie alle brav vorgestellt, aber auch gehört? Eher die wenigsten. Das ließe sich nun nachholen. Also schnappte ich mir mit fiebernassen Fingern die erste Box und legte auf.

Viel kann ich nicht berichten – ich schlief zuverlässig nach kurzer Zeit ein, und wenn ich wieder wach wurde, war entweder die CD bereits am Ende angekommen oder – sofern es sich um eine MP3 Aufnahme von längerer Laufzeit handelte – der Handlung nicht mehr zu folgen, da sich in den vergangenen zwei Stunden zu viel ereignet hatte. Was mir alles egal war. Die Zeit in der Matratzengruft verging deutlich schneller.

Zunächst. Doch sobald der Kopf wieder etwas klarer wurde (an dieser Stelle ein herzlicher Dank an die pharmazeutische Industrie!) gingen mir durchaus konstruktive Gedanken durch den Kopf. Krimis schreiben, abgrundtief dämliche Plots ausdenken, die sich nur durch eines auszeichnen, das sollte doch wohl zu machen sein. Sie müssen eine Reihe von Reizworten enthalten, die heutzutage unverzichtbar sind. „Rechtsradikal“ muss dabei sein, „Neonazi“ am besten schon im Titel vorkommen. „Konzern“, „3. Welt“, „Fracking“, auch „Atom“ und „Profit“ machen sich nicht schlecht. Sie glauben, das sei nun wirklich etwas arg dick aufgetragen? Dann lauschen Sie doch mal den Krimis im öffentlich-rechtlichen Radio, zum Beispiel diesem und diesem.

Frauen die sich mit Kartoffelanbau befassen

Aber zurück zu meinen CD Hörbüchern. Von denen sind mir zwei Passagen in besonderer Erinnerung geblieben, es sind Beschreibungen von Frauen. Der erste Auszug stammt von Raymond Chandler und ist aus dem Jahr 1939, der andere Text stammt nicht von Raymond Chandler und ist aus der letzten Zeit.

„Sie stand langsam auf und kurvte mir mit einem langen schwarzen Kleid entgegen. Sie hatte lange Schenkel und bewegte sich mit einem gewissen Etwas, das ich in Buchläden nicht oft erlebt habe. Sie war aschblond, mit grünlichen Augen, getuschten Wimpern und leicht gewelltem Haar, das die Ohren frei ließ, in denen große Jetclips glitzerten. Ihre Nägel waren silbern lackiert. Sie näherte sich mir mit genug Sexappeal, um eine ganze Aufsichtsratssitzung zu sprengen. Ihr Lächeln war verführerisch, konnte aber auch noch als freundlich durchgehen.“

„Elisabeth studierte in Straßburg Agrarwissenschaft, interessierte sich für ökologische Landwirtschaft und hatte im Sommer ein Praktikum in einem Betrieb für Kartoffelanbau absolviert, wo sie, wie sie stolz erzählte, alte Sorten erneut züchteten. In Deutschland, sagte sie, sei man viel konsequenter im Bioanbau als in Frankreich.“

Ich bin kein Krimikenner und will nicht ausschließen, dass auch bereits 1939 Frauen in Kriminalromanen vorkommen, die sich mit Kartoffelanbau befassten. Ich weiß nur eins: Chandler ist große Literatur, unerreicht. Das andere kann ich auch. Und deshalb muss ich jetzt Schluss machen, sonst steigt mir Sabine Petersdottir-Pringel aufs Haupt, die auf der Leipziger Buchmesse mit „Entsorgt – Ein Fall für Erdmute Lurch“ den neuen Blockbuster der Edition Phimoese präsentieren will. Bitte beachten Sie, dass Sie das Buch nicht unter meinem Namen finden, sondern unter Gerlind Fourgon-Schmidtke. Frau Petersdottir-Pringel fand das verkaufsfördernder. Allerdings weigere ich mich noch, vor der Lesung mit Autogrammstunde den Bart abnehmen zu lassen.

Foto: Bildarchiv Pieterman

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Leserpost

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Peter Bauch / 14.01.2018

Werte*r Autor*in, mein Gefühl sagt mir, daß Sie sich mit diesem Werk ein Denkmal setzen werden. Man wird Sie dereinst in einem Atemzug mit R.Chandler oder Flann O`Brien (dessen Protagonist, ein Polizist ständig einem Postler das Fahrad stiehlt, weil er befürchtet, daß durch das Fahrradfahren und damit verbundenen Austausch von Molekülen, der Postler zum Fahrrad mutiert) nennen. Werden Sie doch einfach freiwillig bettlägrig und beglücken Sie uns mit weiteren spannenden Lesestunden.

Werner Schiemann / 14.01.2018

Wahrlich, Chandler ist einmalig. Selbst nach dem 3. oder 4. Lesedurchgang der Diogenes Gesamtausgabe bereitet das immer noch richtiges Lesevergnügen. Zusammen mit einem vollen Glas Whiskey oder, wie Chandler es sagen würde: “So gut gefüllt, wie etwa das Korsett einer dicken Frau”. Und wenn man damit durch ist, dann greift man alternativ zu Hamett oder McDonald.

Hjalmar Kreutzer / 14.01.2018

Vielen Dank, Herr Bechlenberg, mein Sonntag ist wieder gerettet. Der „andere Text ... aus der letzten Zeit“ ist noch viel universeller einsetzbar, nicht nur im Krimi, sondern auch als Vorspann eines Marie-Louise-Fischer-Romans oder, mit Verlaub, eines deutschen Softpornos. Es ergeben sich schier unglaubliche Publikations- und Verdienstmöglchkeiten!

Immo Sennewald / 14.01.2018

Toller Spaß. Den Bart stehen lassen, ist ein Erfolgsrezept, Gerlind, nicht nur beim European Song Contest.

Simon Templar / 14.01.2018

Sen-sa-tio-nell!

Leo Anderson / 14.01.2018

Charakterisierungen wie die der jungen Frau in Geigers Buchladen sind seit Chandler oft schlecht und billig nachgeahmt worden. Auch das Original leidet etwas unter der Übersetzung (von G. Ortlepp?) Deshalb hier der unnachahmbare und kaum angemessen übersetzbare Originaltext: „She got up slowly and swayed towards me in a tight black dress that didn’t reflect any light. She had long thighs and she walked with a certain something I hadn’t often seen in bookstores. She was an ash blonde with greenish eyes, beaded lashes, hair waved smoothly back from ears in which large jet buttons glitterted. Her fingernails were silvered. In spite of her get-up she looked as if she would have a hall bedroom accent. She approached me with enough sex appeal to stampede an businessmen’s lunch and tilted her head to finger a stray, but not very stray, tendril of softly glowing hair. Her smile was tentative, but could be persuaded to be nice.” Manchmal fürchte ich, dass alle guten Krimis bereits geschrieben wurden.

Andreas Stüve / 14.01.2018

Moin moin Herr Bechlenberg, am frühen Sonntagmorgen im kalten und windigen Norden dieses unseres Landes mein Kompliment, ein wahres Antidepressivum. So etwas schönes braucht man jeden Tag. Schreiben Sie bitte das Werk fort, das könnte ein echter Brenner werden. Und viele Grüße an die beiden Damen Doppelnamen. Herzlichst Andreas Stüve

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