Archi W. Bechlenberg / 17.03.2019 / 06:25 / Foto: Tim Maxeiner / 24 / Seite ausdrucken

Das Antidepressivum: „Zeuch“

Gut möglich, dass ich es hier schon einmal erwähnt habe: ich kann nichts wegwerfen. Was immer mir auch in die Hände fällt, sofort beginne ich darüber zu sinnieren, für was ich es noch gebrauchen könnte. Das hat unter anderem zur Folge, dass ich nicht überrascht wäre, wenn mein Haus aus Gründen des Gewichts eines Tages im Erdboden – überwiegend aus Sand bestehend - versinken würde, während ich davon komme, da ich zur gleichen Zeit im nahe gelegenen Containerpark eigenen Müll gegen den anderer Leute tausche.

Gerade vor zwei Wochen wurde mir diese Manie wieder sehr bewusst. Sie erinnern sich, es war Karneval, und ich fand auf die Schnelle kein ausreichend rassistisches Kostüm. Und da ich mich deshalb keiner kulturellen Aneignung schuldig machen konnte, musste ich mir die närrischen Tage anders vertreiben. Burkhard Müller-Ullrichs Text „Aufräumen“ kam mir da gerade recht; in der Tat war es dringend nötig, rings um meinen Arbeitsplatz reinen Tisch und Boden zu machen. Erst neulich hatte ich auf einer Kommode unter einem Stapel Wäsche einen vermissten, dicken Umschlag mit CDs wieder gefunden, deren Rezension bereits seit Wochen anstand. Aufräumen statt Indianerkluft, das war eine echte Alternative. Und so begann ich voller Energie, ja geradezu euphorisch und enthusiastisch, das Unvermeidliche zu tun.

Als erstes faltete ich einen für solche Zwecke konstruierten Karton (im Zehnerpack gekauft) zusammen und kippte in diesen alles das hinein, das ich kurz und prägnant „Zeuch“ nenne. Zeuch ist in der Regel klein, maximal von der Größe eines halben Schokoriegels, es kommt aus allen Ecken, sammelt sich im Laufe sehr kurzer Zeit an und liegt zunächst auf dem Schreibtisch. Wenig später gibt es einen etwas kleineren Zeuchhaufen auf dem Boden; dort landet alles, was Kater Django entsorgt, um sich auf dem Schreibtisch Platz zu verschaffen. Da dieses Spiel endlos so weiter ginge, nehme ich bald ein kleines Behältnis, in der Regel eine leere Zigarrenkiste, und kippe das Zeuch von Tisch und Boden hinein. Manches werfe ich auch gleich (sic!) weg, sofern der Papierkorb noch Platz bietet, zum Beispiel die Cellophanhüllen meiner Toscanicigarren. 

Dies geht eine kurze Zeit lang gut, doch dann muss die nächste Zigarrenkiste ran. Und wenn ein halbes Dutzend Dosen, Schachteln und Kisten um mich herum stehen, falte ich einen für solche Zwecke gedachten größeren Karton zurecht und kippe alles hinein. Sind Faltkartons mal wieder alle, bleibt das Zeuch vorläufig in den kleinen Kisten und Schachteln; diese lassen sich, da ja wenig voluminös, gut hier und dort verstauen. Auf dem Drucker, auf Büchern, auf Kisten, die unter dem Tisch stehen. Kein Wunder, dass ich so manchmal den Überblick über vorhandenes Zeuch verliere. Zudem da ja noch die Schubladen überall im Haus sind. Aber das wäre eine andere Geschichte.

Endlich einmal für längere Zeit Ordnung

An Karneval ging ich etwas anders vor als sonst in diesen Fällen. Während ich mir in der Regel vor dem Zusammenschütten von Zeuch Stück für Stück anschaue und sortiere, nahm ich dieses Mal die angesammelten kleinen Dosen und Kisten entschlossen in die Hände und kippte ihren Inhalt unbesehen in den großen Karton. Eine befreiende Tat! Immerhin hatte ich mir vorgenommen, endlich einmal für längere Zeit Ordnung zu schaffen, und sich geschätzte 10.000 Teile einzeln anzusehen, ist mit beträchtlichem Zeitaufwand verbunden. Ich wäre also wieder nicht weit gekommen. Darum verzichtete ich souverän und war sehr stolz auf mich. Die jetzt leeren, kleinen Behälter verstaute ich zur weiteren Verwendung in einer etwa 10 cm schmalen Ritze zwischen Schreibtisch und Wand. 

Dass ich dennoch nach Beseitigung der schlimmsten Fußfallen rings um den Arbeitsplatz nach gut einer Stunde die Lust auf Aufräumen wieder verlor, war eine zwar schmerzliche, aber zu verschmerzende Niederlage. Ein kompletter Rundumschlag wollte mir auch dieses Mal nicht gelingen. Immerhin, ich hatte eine seit Monaten direkt hinter meinem Sessel stehende, sehr schwere Umzugskiste voller Donald Duck Figuren (etwas) aus dem Weg geschoben und fast alle schon lange vermissten Pantoffel und Hausschuhe unter dem Tisch gefunden und geborgen. Dafür steht jetzt die neue Kiste mit Zeuch im Weg und verhindert, dass ich mit dem Rollsessel bis an den Drucker fahren kann, um Papier einzulegen oder Staus zu beseitigen. Kein Dauerzustand fürwahr, schließlich muss ich derzeit aufstehen, wenn ich etwas drucken möchte.

Gerne gebe ich Ihnen exemplarisch Einblick in den Inhalt der neuen Zeuchkiste. Da hätten wir ein Minithermometer mit dem Aufdruck „Canarias“. Einige  Schraubenschlüssel mit Außen-Sechskantprofil, auch bekannt als Inbusschlüssel, in verschiedenen Größen. Sicherheitsnadeln von XS bis XXL. Paketgummibänder; die meisten morsch. Eine einzelne Hosenträgerklammer. Leere Diarahmen. Zwei defekte Damenuhren (Diehl und Dugena). Ein Champagnerkorken. Ein verschlossenes Tütchen mit zwei Schrauben und Dübeln. Der Deckel eines längst entsorgten Nasenhaarschneiders. Zwei Wäscheklammern, eine aus Holz, eine aus rosa Kunststoff. Ein Passepartout (oval) für eine Postkarte. Eine Kugelschreibermine, offenbar leer. Gumminoppen unbestimmbarer Herkunft und Verwendung. Drei Kunststoffringe, mit denen man Duschvorhänge befestigen kann. Eine Schachtel kubanische Streichhölzer. Ein Regalträger aus Messing, zwei Feinsicherungen aus Glas (eine durchgebrannt). Zerknüddelte Bauchbinden von Zigarren. Mehrere abgelaufene Kreditkarten. Blaues und grünes Band zum Verpacken von Geschenken. Eine nur schwer zu schätzende Anzahl von sehr, sehr kleinen Schrauben, mit denen Computergehäuse auf- und vor allem wieder zugeschraubt werden können. Eine spanische 1 Cent Münze, eine Kabelschelle, eine Zahnbürste. Einige AA Batterien, eine Knopfzelle. Vermutlich leer.

Tatenlos auf dem Sofa

Soweit ein flüchtiger Blick von oben in die Zeuchkiste. Sie ist nicht die einzige ihrer Art, ich weiß von mindestens vier weiteren im Haus. Eventuell schütte ich die alle mal zusammen in eine entsprechend große Umzugskiste. Vielleicht schon an diesem Wochenende. Das vergangene habe ich hingegen vertrödelt, da hatte der junge Kollege Michael Ludwig meine Kolumne übernommen und mich glänzend vertreten. Ich las sie vergnügt, fragte mich, warum ich nicht längst nach (Sag-ich-nicht) ausgewandert sei und lüngelte den ganzen restlichen Tag tatenlos auf dem Sofa herum.

„Die Müllmänner sind da!“
„Sag' ihnen, wir brauchen nichts!“
(Marx Brothers)

Sie kennen vielleicht diese schönen, recht stabilen zylindrischen Schachteln, in denen viele Whiskys verpackt sind. Die haben oben und unten hübsche, metallene Deckel und Böden und machen selbst ohne Inhalt etwas her. Im Laufe einiger Wochen hatten sich von meiner Lieblingsmarke Laphroiag zwölf dieser Dosen angesammelt und standen neben der Türe des Arbeitszimmers. Natürlich ist ein Blick auf eine solche Sammlung immer mit etwas Wehmut verbunden, denn aus diesen leeren Schachteln wabert, wenig subtil, ein Hauch von „memento mori“. 

Doch ich hatte mich nicht von ihnen trennen können (im Gegensatz zu den leeren Flaschen; diese zum Container zu bringen hatte mir nichts ausgemacht), und ich sinnierte darüber nach, für was man die Rollen noch brauchen konnte. Ich habe mal in einem Do it Yourself Video gesehen, wie jemand aus den Seelen von Klopapierrollen eine Art Tablett bastelte; die Rollen stehen darin, miteinander verklebt und mit einem Boden aus Karton versehen, aufrecht beisammen und beherbergen Strom- und USB-Kabel aller Art, die bei Bedarf rasch und ohne Verknotungen entnommen werden können. Eine geniale Idee – wenn ich an meine Kisten mit Strom- und USB-Kabeln denke, aus denen ich immer nur mit großer Mühe etwas gezogen bekomme... Leider sind Whiskydosen für diesen Zweck einfach zu dick und zu hoch, also sammelten sie sich ohne klares Ziel zunächst weiter an und wurden zunehmend lästiger, da sie vor einer Schranktüre standen.

Wenn ein Arzt empfiehlt, man solle Sport machen...

Nun geschah es zu dieser Zeit, dass meine Ärztin nach dem letzten Check Up andeutete, es sei keine schlechte Idee, wenn ich fortan so regelmäßig wie möglich Sport treiben würde. Meine Frage, welchen Sport, beantwortete sie lapidar mit „Ganz egal.“

Das machte mir zu schaffen, und ich fuhr betroffen heim. Wenn ein Arzt empfiehlt, man solle Sport machen, bedeutet das in meinen Augen, dass er mit seinem Latein zu Ende ist. Zu Hause angekommen setzte ich mich im Arbeitszimmer vor den Computer und schüttete mir zum Trost ein der Lage angemessenes Dram Laphroiag Quarter Cask ein. Und da kam mir die Erleuchtung. Mit einem Blick zählte ich die leeren Dosen in der Ecke ab. Zwölf standen da, hinzu käme notfalls eine weitere, die noch in der Küche wohlverschlossen im Schrank wartete. Aber die war gar nicht nötig. Bowling, so viel weiß ich als Fan von Al Bundy über diesen Sport, spielt man mit neun Kegeln, ich hatte also sogar einige Ersatzfiguren. Es würde nur noch eine passende Kugel fehlen sowie eine Bahn von etwa fünf Metern Länge, über die ich die Kugel schieben konnte.

Und daran scheiterte der Plan dann doch. Um irgendwo im Haus eine durchgehende, freie Bahn von fünf Metern zu finden, hätte ich erst einmal eine Menge Zeuch auf Seite schaffen müssen. Stapel mit Büchern und Platten, gerahmte, aber mangels Platz nicht aufgehängte Bilder, Zeitschriften aus den letzten drei Jahrzehnten sowie natürlich auch das zwangsläufig vorhandene Mobiliar. Draußen zu kegeln war keine Option, wir haben erstens Winter, zweitens sind die Whiskydosen nicht wetterfest und drittens die Gartenwege mit groben Kieselsteinen belegt. Da rollt keine Kugel.

So habe ich denn die schönen, dekorativen Dosen entsorgt. Wenn auch, um ehrlich zu sein, noch nicht ganz. Derzeit befinden sie sich zusammen mit Altpapier im Geräteschuppen, bereit, zum Containerpark gebracht zu werden. Was aber keine Eile hat. Es ist noch Platz vorhanden und vielleicht fällt mir ja doch noch eine Verwendung ein. Mit Klarlack wetterfest gemacht wären sie hübsche Nisthöhlen für Insekten und Fledermäuse. Außerdem ist es immer hoch riskant, zum Containerpark zu fahren. Manchmal komme ich von dort mit mehr Zeuch zurück, als ich hingebracht habe.

Foto: Tim Maxeiner

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Leserpost

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Ester Burke / 17.03.2019

Den Freunden der schwäbischen Ausprägung dieser Lebenshaltung möchte ans Herz legen : Helmut Pfisterer “Vom Schbara - Schbarra” (aus : Sauglatt   Satire in Schwaben ,Thomas Vogel Theiss Verlag

A.Gerdes / 17.03.2019

Habe ich das geschrieben? Ist ja wie bei mir in Haus, Hof, Garten und Werkstatt. Dann will man etwas machen und muss erst mal Zeuch wegräumen… es ist zum Haareraufen. Mensch Archi alter Dude, wann kommst Du zum Whiskydosenkegeln vorbei? (Natürlich erst nachdem ich das Zeuch weggeräumt habe…)

M. Haumann / 17.03.2019

Kann das Nicht-Wegtun-Können vielleicht auch noch den Kindern und Enkeln einer Kriegsgeneration schwerfallen? Meinen Geschwistern und mir ist kürzlich bei einem Anlass klargeworden, wie sehr die Erzählungen von Not und Mangel auch bei uns eine Neigung zum verunsicherten Aufbewahren “für den Notfall” beigetragen haben könnten. Einer Bekannten hat das Schicksal durch einen Hausbrand unter die Arme gegriffen und sie u.a. von ihrer riesigen Bücheransammlung “befreit” (wer schafft es schon, Bücher wegzuwerfen?). Sie war erleichtert und fühlt sich jetzt sauwohl mit all dem geschaffenen Platz, für den sie sich nicht selbst “schuldig machen” musste…

Werner Arning / 17.03.2019

Tu wech dat Zeuchs. Ich wette, Sie brauchen es nicht. Könnte zwar sein, ist aber nicht so. Glauben Sie mir. Es kommt neues Zeuch.

Jana Daus / 17.03.2019

Lieber Archi W. Bechlenberg, die Problematik kommt mir bekannt vor. Allerdings läuft bei uns zu Hause noch der Streit, wer der Messi und wer der (kultivierte) Sammler ist : sprich , wessen Zeuch weg kann, und wessen Zeuch in die Kategorie eher wertvoll gehört. Da sind die Ansichten durchaus konträr und der Gewinner steht noch lange nicht fest. Nur jemand muß gewinnen, wenn die Alternative sonst Umzug in etwas Größeres hieße - bei den Mietpreisen !  

Manni Meier / 17.03.2019

Mein lieber Herr Bechlenberg, genau betrachtet haben Sie gar kein “Zeuch”-Problem sondern ehr eins, das sich heutzutage sehr elegant auf sprachphilosophische Art lösen läßt. Manche nennen es Recycling-Hof. Ich nenne es mein Wohn-und Arbeitszimmer!

J.Demuth / 17.03.2019

Zitat: “...Eine einzelne Hosenträgerklammer .... Zwei defekte Damenuhren .... Ein Champagnerkorken…” Ich hoffe das da irgendwelche Zusammenhänge bestehen. Aber vermutlich geht da nur meine Alte-weiße-Männer-Phantasie mit mir durch.

Wilfried Paffendorf / 17.03.2019

Ich kann keine Bücher wegwerfen. Egal was drinsteht. Zur Kategorie “Bücher” zählen für mich auch alte Rapporthefte, Schundliterartur, völlig belangloses Zeuch. Sogenannte Fresszettel fallen ebenso unter die Kategorie “Bücher”.  Das ist ein regelrechter Tick, entstanden bereits in Kindertagen. Das geht so weit, dass ich schon des öfteren davon schwärmte, in einer Bibliothek zu hausen, garniert mit allerlei Grünzeuch in Töpfen und Kästen. Und das verblüffendste an allem ist, dass ich jedes einzelne Buch lese bzw. gelesen habe - auch den Schund. Es ist eine Sucht, unheilbar. Dagegen ist kein Kraut gewachsen. Früher schrieb ich sogar ganze Bücher ab - mit der Hand oder der Schreibmaschine -, wenn ich sie mir nicht kaufen konnte; davon zeugen Berge von Aktenordnern. Diese Manie geht so weit, dass es mir bei der Vorstellung, dass das Meiste wohl nach meinem Ableben auf dem Müll landen wird, den Magen umdreht. MfG W. Paffendorf

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