Ich freue mich stets, wenn ich aus Zuschriften und Mails erfahre, dass an dieser Stelle – dem sonntäglichen Antidepressivum – erzählte Anekdoten bei manchen Lesern Erinnerungen an eigene Erlebnisse geweckt haben.
Ich hatte früh ein Faible für Griechenland, ich liebte griechische Sagen und Epen, auch wenn diese für mich im kindlichen Alter reine Abenteuergeschichten waren und mir nicht in den Sinn kam, dass man daraus auch für sein späteres Leben vieles lernen konnte. Später, ich war 14 oder 15 Jahre alt, las ich mit großer Begeisterung Henry Millers Griechenlandbuch „Der Koloss von Maroussi“. Der erste „Fremde“, mit dem ich jemals in Berührung kam, war ein griechischer Junge, der in meine Volksschulklasse eingewiesen wurde. Er sprach kein Wort deutsch, und gerne nahm ich mich seiner an, spielte mit ihm, brachte ihn mit nach Hause und half ihm einige Male gegen weniger aufgeschlossene Mitschüler. Es war nur eine kurze Freundschaft, am Ende dieses Schuljahres ging ich aufs Gymnasium, während Michaíl auf der Volksschule blieb.
In meiner Heimatstadt lebten zahlreiche Griechen, sie waren zum Studieren nach Deutschland gekommen, und da sie irgendwie ihren Lebensunterhalt bestreiten mussten und von zuhause wenig Unterstützung erfuhren, entwickelte sich innerhalb kurzer Zeit eine lebhafte Kneipen- und Restaurantszene. Vom Kochen musste man nicht viel verstehen, um eine griechische Kneipe aufzumachen; auch als Maschinenbaustudent schaffte man es, fettiges Fleisch in viel Fett durch Grillen oder Kochen zu etwas Genießbarem zu verwandeln, dazu gab es Reis oder Fritten und Weißkohlsalat aus der 20-Kilo-Dose von Metro, oben drauf eine Olive oder eine Pepperoni. Dass es auch so genannte „Edelgriechen“ gibt, habe ich erst Jahre später in einer anderen Stadt erfahren.
Von Athen bis Zakinthos musste jeder geografische Begriff als Namensgeber für ein studentisches Lokal herhalten, und als diese alle vergeben waren, kamen pseudogriechische Wörter an die Reihe. Der wohl legendärste Grieche, günstig mitten im Hochschulviertel gelegen, nannte sich Dinosaurus, und dort war jeden Abend bis in die Nacht tüchtig karnaváli angesagt. Man aß hellenische Speisen wie Stifado und Moussaka, trank Retsina, Mavrodaphne und Samos, und für arme Schlucker gab es mächtige Teller mit Nudeln und Soße zu 1,20 DM. Wenn ausreichend Ouzo geflossen war, fand man auch die ständig im Hintergrund dudelnde griechische Musik erträglicher, und wenn erst einmal das ganze Lokal Lieder von Theodorakis zu singen angefangen hatte, hörte man die Bouzukis und Baglamas aus dem Cassettenspieler eh nicht mehr. Evíva!
Drei Magnumflaschen lauwarmer Retsina
Mit Essen und Trinken hat die am letzten Sonntag als Cliffhanger angedeutete Katastrophe zu tun, die mir auf Amorgos widerfuhr und die mir bis heute in den Knochen steckt. In Chora, dem auf der Höhe liegenden Hauptort der Insel, hatten sich außer meiner Freundin und mir noch ein paar weitere Rucksackreisende eingefunden. Ein Fotograf aus München, der unter anderem für GEO arbeitete, sowie eine handvoll weiterer munterer Menschen. Der Gedanke, einmal zusammen zu kochen und zu essen, war schnell geboren, und da zwei Reisende ein niedliches kleines Haus am Ortsrand gemietet hatten, das mit einer Küche ausgestattet war, galt es nur noch, die nötigen Lebensmittel zu besorgen. Wie sich herausstellte, war das ein ausgesprochen schwieriges Unternehmen.
Es gab in Chora zwar einen kleinen Laden, aber dessen Vorräte an Essbarem waren sehr übersichtlich. Anders gesagt: es gab fast nichts. Unten im Hafen Katapola hätte man wohl eine größere Auswahl gehabt, aber niemand hatte Lust auf den mühsamen Fußweg hinunter und wieder hoch. Immerhin, wir fanden im Laden einen kleinen Sack Zwiebeln, zwei große Weißbrote, eine Flasche Olivenöl, etwas in eine kleine Papiertüte abgefülltes Salz (kostbar!) sowie drei Magnumflaschen lauwarmen Retsina und schließlich eine äußerlich leicht verblichene Schachtel mit Nudeln. „Ich mache uns eine Zwiebelsuppe!“ versprach ich, und alle waren begeistert. Die fehlenden Kräuter pflückten wir einfach auf dem Rückweg, Amorgos ist berühmt für seine aromatische Flora.
Die Küche war sehr schlicht eingerichtet, aber es gab ein paar Töpfe, eine Pfanne, Teller und Besteck. Da ich es nicht haben kann, wenn mir Leute beim Kochen – und auch sonst – zwischen den Beinen rumwuseln, schickte ich alle hinfort und begann mit der Arbeit.
Das Haus, ich erwähnte es, war ausgesprochen heimelig. Wenn man von draußen durch eine enge Pforte ins Innere des Komplexes gelangt war, stand man in einem winzigen Innenhof, von dem eine steile Treppe nach oben ins eigentliche Wohnhaus führte; genauer gesagt, die Treppe endete an einer grandiosen Terrasse, von der man einen unbezahlbaren Blick über die Insel und aufs Meer hatte. Hinter der Terrasse befanden sich dann zwei Wohnräume.
Die Küche hingegen lag Parterre, gleich links der Eingangspforte. Die Freunde machten es sich auf der Terrasse gemütlich, soweit das mit lauwarmem Retsina möglich ist. Ich hatte mir den größten der vorhandenen Töpfe genommen, dünstete darin mit Öl die geschälten und kleingeschnippelten Zwiebeln an und füllte den Topf anschließend mit Wasser, einem Glas abgezweigten Retsina sowie einer Handvoll Kräuter. Das alles brauchte natürlich viel Zeit, und zwischendurch bedauerte ich doch, dass ich mir nicht einmal beim Zwiebelschälen hatte helfen lassen. Die winzige Flamme des vorhandenen Gaskochers war auch nicht gerade angetan, in akzeptabler Zeit fünf Liter Wasser zum Kochen zu bringen. Kein Wunder daher, dass nach geraumer Zeit von oben her die Frage kam, wann es denn wohl etwas zu essen gäbe. Ich vertröstete die Leute, so gut es möglich war, konnte aber nicht verhindern, dass sie sich bereits an dem eigentlich zur Begleitung der Suppe gedachten Brot gütlich taten.
„Nur noch ein paar Minuten!“
Kurz hatte ich überlegt, die Nudeln ganz wegzulassen, weil sie die Kochzeit zusätzlich verlängerten, aber da das Brot bereits bis auf Reste verschlungen war, kamen sie doch zu der bis dahin bereits ausgiebig simmernden Suppe, die im Übrigen sensationell duftete und beim turnusmäßigen Abschmecken meinen Gaumen zu verzückten Zuckungen brachte. Der Duft stieg natürlich auch die Treppe hoch und förderte die Ungeduld der Mitesser nur noch mehr, so dass ich mehr damit beschäftigt war, der hungrigen Meute „Nur noch ein paar Minuten!“ zuzurufen, als mich dem Abschmecken zu widmen. Doch endlich waren auch die Nudeln fertig; ich nahm den Topf vom Feuer und machte mich auf den Weg nach oben.
Ich schaffte es bis zur vorletzten Stufe, dann stolperte ich über eine Unebenheit und wurde von dem kiloschweren Topf in meinen Händen nach vorne gezogen. Mit einem Fluch, so laut, dass er bis zu den Nachbarinseln zu hören war, fiel ich bäuchlings auf die Terrasse, während der Topf es noch ein gutes Stück weiter schaffte. Seine Flugbahn endete erst an der gegenüber stehenden Mauer, gegen die er, nun bis auf ein paar an seinem Boden klebende Nudeln völlig leer, klödderte.
Fragen Sie nicht, wie die Opfer dieses Unglücks reagierten. Im Grunde waren sie recht gelassen, der lauwarme Retsina hatte sie offenbar in eine gewisse Gleichgültigkeit geduselt, dennoch ließ man deutlich erkennen, dass man mich ohne Zweifel für den größten Trottel des Mittelmeeres hielt, seit ein römischer Soldat die Kreise des Archimedes gestört hatte. Und so wurde ich von hungrigen Menschen hungrig ins Bett geschickt.
Zwei Wochen später besuchten wir, quasi schon auf der Rückreise, noch für einige Tage Ithaka, eine der ionischen Inseln; diese liegen in der Adria und unterscheiden sich deutlich von den Eilanden der Ägais. Hier waren wir bei einem herzlichen alten Ehepaar untergekommen, das sich mit der Zimmervermietung etwas zur Rente hinzu verdiente. Maria, so der Name der Hausherrin, bekochte uns jeden Abend; ihr Moussaka, das stundenlang im Backofen vor sich hin schmorte, ist mir unvergessen geblieben. Einmal schlugen wir ihr vor, für das abendliche Mahl vom Hafen etwas mitzubringen, einen Fisch vielleicht oder irgendein anderes Meeresgetier. Maria fand das eine gute Idee, und so zogen wir los.
An der Wäscheleine Tintenfische in allen Größen
Bald schon erregte ein Fischerboot unsere Aufmerksamkeit, das am Kai dümpelte. Zwischen Kapitänskajüte und Heck war eine Art Wäscheleine gespannt, und an der hingen Tintenfische in allen Größen. Das wäre doch mal etwas! Frisch gefangener Tintenfisch, so etwas bekam man zu Hause nun wirklich nicht. Wir kannten nur diese frittierten Ringe, die beim heimischen Griechen als „Kalamares“ serviert werden. (Ein befreundeter Chirurg, der dienstlich ab und zu männliche Penisse beschneidet, nennt die dafür im Dienstplan vorgesehene Zeit gerne „Kalamares-Tag“)
Der Kapitän ließ uns die Auswahl, die Kraken kosteten alle das selbe, egal ob groß oder klein. Natürlich nahmen wir den größten, einen mächtigen Gevatter, der schon einige stolze Jahre auf den Tentakeln haben musste. Wir kauften noch etwas Gemüse und kehrten heim. Stolz präsentierten wir Maria unseren Fang. Doch anstatt uns zu dem Schnäppchen zu gratulieren, verdrehte sie ihre Augen, wirbelte den Armleuchter verächtlich hin und her und zurück und ging dann mit ihm nach draußen, wo Gatte Spiros im Garten werkelte. Die Freundin und ich fühlten uns unwohl, wir wussten aber nicht, was wir falsch gemacht hatten.
Das wurde uns wenig später klar, nachdem Maria uns erklärt hatte, es würde heute mit dem Essen wohl ziemlich spät werden. Wir konnten das nicht recht einordnen. Was war an einem Tintenfisch schon groß vorzubereiten? Er musste weder entschuppt noch entgrätet werden, wo also war das Problem? Maria sah uns an, dass wir nicht recht folgen konnten und forderte uns auf, in den Garten zu gehen. Dort gab es eine kleine Terrasse mit einem Betonboden, und auf diesen schlug Spiros unseren Tintenfisch mit aller Kraft, mal die Arme voran, mal den Korpus. Nach einigen Schlägen stoppte er sein brachiales Tun, nahm einen Eimer, schüttete aus diesem etwas Wasser auf den Boden und drehte nun das malträtierte Tier wie einen Aufnehmer über die feuchte Stelle. Es dauerte nicht lange, dann war das Wasser weggetrocknet, und dann ging die Schleuderei wieder los. Bis wieder gewrungen wurde. Und wieder geschleudert...
Je größer, desto ungenießbarer
Der Gast ist heilig, daher hat Spiros wohl darauf verzichtet, diese Prozedur mit uns zu zelebrieren. Der arme Mann, damals bereits hoch in den Siebzigern und eher zart gebaut, war den halben Nachmittag damit beschäftigt, den Kraken mürbe zu klopfen. Wir schämten uns in Grund und Boden, fühlten uns aber nicht wirklich schuldig; wer konnte denn so etwas auch wissen? Mein Angebot, ihn zwischendurch abzulösen, lehnte Spiros wortlos ab, er hatte offenbar seine ganze Energie darin investiert, diese Prozedur ohne Herzschlag zu überleben (hatte ich bereits erwähnt, dass in diesen Tagen eine Hitzewelle über den Inseln lastete?).
Vermutlich musste man ein erfahrener griechischer Krakenwringer sein, um alles richtig zu machen, und dass wir uns mit dieser Art Meeresbewohner nicht auskannten, war ja mehr als offensichtlich. Unvorstellbar für Spiros, mir diese verantwortungsvolle Arbeit zu überlassen! Nicht, dass ich durch ein Drehen in die falsche Richtung oder einen Schlag zu viel oder zu wenig den Oktopus noch ruiniert hätte...
Ja, wir haben den Kraken gegessen, es muss nach 10 Uhr abends gewesen sein. Längst war es draußen stockfinster, noch finsterer waren die Mienen der beiden geplagten Gastgeber. Denn mit dem Wringen und Würgen war die Plackerei nicht zu Ende gewesen. Nachdem Spiros das Tier zur weiteren Behandlung an Maria übergeben hatte, wurde es mehrere Stunden lang in einem Dampfkochtopf unter maximaler Energiezugabe gegart. Wir saßen meist bei Maria in der Küche, mit Armen und Beinen, so schlaff wie die der Tintenfische an der Leine und ließen uns belehren; je größer so ein Bursche sei, um so ungenießbarer sei er.
Würde man ihn Prozeduren unterziehen wie denen, deren Zeugen wir geworden waren, ließe sich vielleicht etwas machen, aber auch das nur, wenn man ansonsten verhungern müsste. Niemand, der bei Verstand sei, würde so etwas machen, außer, man hat deutsche Gäste und ein zu gutes Herz. Ich ahnte: Der Fischer, dem wir den Kavenzmann abgekauft hatten, saß seit Stunden in einer Kneipe und musste dort immer wieder unter dem brüllenden Gelächter seiner Kumpel die Geschichte der beiden Touristen erzählen, die ihm den Köder für seinen nächsten Fischzug abgekauft hatten...
Trotz aller Mühen: Wirklich geschmeckt hat es uns nicht. Das lag am schlechten Gewissen, ebenso wie an der noch immer gummiartigen Konsistenz der Krakenstücke. Maria und Spiros verzichteten ganz auf die Mahlzeit, sie seien zu müde und würden so spät abends auch nichts mehr essen, aber sie sähen gerne noch zu. Was sie auch mit unbewegten Mienen taten. Die Freundin und ich versuchten tapfer, das zähe Zeug zu essen, aber weit kamen wir nicht; jeder Bissen lag bleischwer im Magen, und der allergrößte Teil des Tieres verblieb im Topf.
Die ganze Nacht und über den nächsten Tag hinweg bedrückte uns der Gedanke, dass wir zum Abend den „Rest“ serviert bekämen. Wir hatten nicht mit der grenzenlosen Güte unserer Herbergseltern gerechnet. Es gab statt Massaker Moussaka.
kalí nýchta kai glyká óneira.