Um ein Haar wäre ich dieses Jahr im Karneval gelandet. Dabei kann ich diesen Zustand seit früher Kindheit nicht ausstehen. Nur einige wenige Male habe ich mich als Knabe in ein Kostüm geworfen. Natürlich waren Cowboy und Indianer die beiden einzigen infrage kommenden Verkleidungen, und ich war sowohl das eine, als auch das andere. Dann aber erschreckte ich meine in der Küche werkende Mutter derart mit einem Colt, dass mir für immer der Umgang mit Schusswaffen untersagt wurde.
Im folgenden Jahr bekam ich die Quittung in Form eines unfassbar unmännlichen Chinesenkostüms, das meine Mutter mir aus glänzendem Futterstoff genäht hatte. Am schlimmsten fühlte ich mich von einem deckelartigen spitzen Hut, einem fisseligen Oberlippenbart und einem aus der Kopfbedeckung lüngelnden Zopf gedemütigt; dazu trug ich als Gipfel der Erniedrigung einen Schirm aus Bambus, wie ihn bekanntlich jeder Chinese trägt. Ich traute mich, derart verunstaltet, nicht ein einziges Mal hinaus auf die Straße.
Es gibt ein Foto, das mich in dieser unsäglichen Aufmachung im Hinterhof unserer Wohnung zeigt; neben mir meine allererste Freundin Carola in einem neckischen Katzendress, das ganz und gar nicht zu diesem traurig einherblickenden Chinesen neben ihr passte. Ich habe weitere Erinnerungen verdrängt; vermutlich hat sie noch am selben Tag mit mir Schluss gemacht und sich dem ohnehin im Alltag kerniger wirkenden Sohn des nachbarlichen Dachdeckers zugewendet, der ständig irgendwelche Narben und Schrunden zur Schau trug und so tat, als würde er im Betrieb seines Vaters bereits eine tragende Rolle spielen.
Welch ein Abstieg von Sitting Feather und Sheriff Earp zum Chinesen. Chinesen, das wusste ich aus einschlägigen Fernsehserien wie Bonanza und Rauchende Colts, waren maximal als Koch oder Schienenputzer beim Bau der Eisenbahnen quer durch Amerika nütze. Chinesen waren im Wilden Westen echt das Letzte; wenn Chinesen etwas ausgefressen hatten, wurden sie nicht einmal anständig aufgeknüpft; man schnitt ihnen stattdessen den Zopf ab und ließ sie dann einfach laufen. Für den Chinesen war das eine schlimmere Strafe als Strick oder Kugel. Chinesen sprachen, um das Fass voll zu machen, eine seltsame Sprache mit einer noch seltsameren Stimme; später übernahmen Chico Marx, Barney Geröllheimer, Danny de Vito und Ernie in der Sesamstraße diese Art der Artikulation.
„Die haben uns gerade noch gefehlt!“
Als sei das Kostüm nicht schlimm genug: Es gab auch noch tüchtig Senge. Da jedes Jahr der Rosenmontagszug an unserer Wohnung vorbeistrich, wohnten wir in den Augen karnevalistisch infizierter Mitmenschen an privilegierter Stelle, etwa so, als würde man in Monaco auf der Avenue des Spélugues residieren. Zu diesen Jecken gehörte ein früherer Studienkollege meines Vaters samt Gattin und zwei Kindern; sie wohnten in den Niederlanden und kamen uns an diesem Tag überraschend besuchen (der Sohn natürlich im Cowboykostüm). Ich hatte sie als Erster durch das Wohnzimmerfenster erspäht und meldete: „Da kommen XXX!“ Mein Vater, offenbar an diesem Tag schlecht gelaunt, antwortete: „Na die haben uns gerade noch gefehlt!“
Das war ungewöhnlich; die Männer waren enge Freunde, und mein Vater freute sich, wenn ihn „Onkel Willem“ zu ein paar Tagen Segeln auf dem Ijsselmeer einlud. Es klingelte, meine Mutter öffnete die Türe, alle traten ins Wohnzimmer, der Sohn mit feuerbereitem Peacemaker in der Patschehand. „Ich habe euch schon kommen gesehen,“ sagte ich, „und Papa hat gesagt: Die haben uns gerade noch gefehlt!“ Eine eisige Stimmung machte sich breit, und mir wurde sofort klar, dass der Tag für mich nicht gut ausgehen würde. Was er dann auch nicht tat, Details erspare ich uns. Mein Vater hat später einmal erklärt, er hätte ohnehin keine Lust mehr gehabt, mit zum Segeln zu kommen.
Jahrzehnte ist das her, aber es sitzt mir immer noch in den Knochen. Nein, nicht die Senge, sondern der Chinese. Der Hang, mich in den Angehörigen einer fremden Ethnie zu verwandeln, hat mich seither nie mehr überkommen. Bis jetzt. Denn vor einigen Tagen erfuhr ich, dass Karneval ein furchtbar rassistischer Brauch ist, der abgeschafft gehört, oder zumindest politisch korrigiert.
Und wie es so ist: Wenn etwas in den Ruch gerät, politisch und moralisch verwerflich zu sein, kann ich einfach nicht anders: Ich muss das dann machen oder haben. Es ist wie ein Zwang. Ich bin nun einmal ein passionierter, praktizierender Stinkstiefel, so wie meine großen Vorbilder Groucho Marx („Was immer es auch ist – ich bin dagegen!“) und W.C. Fields („Ich wähle nie für etwas, sondern immer dagegen.“) So kaufte ich mir vor einigen Jahren eine echte russische Uschanka aus feinstem Hasenfell, nachdem ein junger Mann auf offener Straße an meiner bis dahin ihre Zwecke durchaus erfüllenden Mütze herum fingerte, weil er vermutete, sie sei mit echtem Pelz gefüttert. Was sie nicht war, die wärmende Innenschicht bestand aus echtem Kunststoff. Und seitdem Gretas Mondgesicht durch die Gazetten und die Weltgeschichte geistert, führe ich eine kleine, aber gemeine Liste, in der ich notiere, mit was ich den Blag ärgern könnte. Auch wenn Greta davon vermutlich nichts mitbekommt, werde ich diese Liste nach und nach abarbeiten.
Meinem Drang nach Boshaftigkeit entgegen kommen
Karneval ist also rassistisch. Seinen Körper schwarz zu bepinseln und dann nicht auf die Fidji-Inseln, sondern zu einem Rosenmontagszug zu fahren, das hat etwas. Chinese kam, aus nachvollziehbaren Gründen, nicht in Frage. Japaner? Fast dasselbe. Aber ein Mohr, möglichst noch mit einem Baströckchen sowie einigen dekorativen menschlichen Fingerknochen um den Hals und im krausen Haar sowie einem verdächtig sackartig aussehenden, behaarten Beutel am Gürtel, in dem Voodookräuter aufbewahrt werden, der würde meinem Drang nach Boshaftigkeit schon sehr entgegen kommen.
Auch ein arabisches Gewand käme vielleicht nicht schlecht an. Zudem ich eine wunderbare, echte marokkanische Dschellabah besitze, die ich einst im arabischen Teil von Paris erstand und die sich ausgezeichnet als Hausbekleidung macht, da sie recht weit geschnitten ist und nicht, wie eine Jogginghose, rund um die Hüfte kneift. Allerdings – angesichts der Abermillionen Nazis, die heutzutage die Straßen Deutschlands unsicher machen (und sogar den Bundestag), erschien mir ein südländisches Erscheinungsbild mit unkalkulierbaren Gefahren für Leib und Leben verbunden. Somit: keine Option.
Indianer vielleicht? Aber klar doch! Ein Indianerkostüm zu tragen, ist nicht nur rassistisch, sondern auch noch „eine kulturelle Aneignung“. Würde mir also sehr entgegen kommen. „Wenn Weiße meinen, sie dürften an Fasnacht jetzt auch mal rassistisch sein, ist das keine Grenzüberschreitung, sondern trauriger Alltag.“*
Ich verwarf diese Möglichkeit jedoch ebenfalls, obwohl eine waschechte Indianerkluft gleich mehrfach unkorrekt gewesen wäre: erst die kulturelle Aneignung und dann auch noch die Zutaten. Hose und Jacke aus 1a nichtveganem Büffelleder, dazu Waffen, mit denen man weh tun kann, eine Streitaxt, ein Flitzebogen und eine Silberbüchse sowie für kleinere Gemetzel ein Bowiemesser. Als Federschmuck würde mir ein Arrangement aus Ortolan-Daunen gefallen. Skalps am Gürtel? Aber hallo; das Skalpieren war schließlich eine Erfindung alter weißer Männer.
Nur ließ sich das alles auf die Schnelle nicht mehr zufriedenstellend arrangieren, also musste ich auf den Indianer verzichten, genau wie auf die japanische Geisha, den Eskimo und den mexikanischen Tunichtgut, auch wenn mir der Gedanke gefiel, die tollen Tage breit wie ein Dutzend Kosaken unter einem breiten Sombrero in einer Ecke zu liegen.
Ich gestehe an dieser Stelle: Den Rassisten raushängen zu lassen, kommt zwar meiner generellen Rolle als Stinkstiefel entgegen, aber je mehr ich darüber nachdachte, um so unsicherer wurde ich. Es ist nie zu spät, ein guter Mensch zu werden. Wäre es nicht einmal einen Versuch wert, etwas moralisch Anständiges zu tun? Also – statt mir eine der zahllosen, von den weißen Männern dieser Welt geschändeten Ethnien kulturell anzueignen – ein Kostüm zu wählen, das keinen Ausländer, sondern einen Beruf darstellt?
Eine sehr preiswerte Lösung mit Warnweste und einem Baguette
Bei Berufskostümen liegen weitaus weniger Fallbeile im Weg als bei der Frage, ob ich einen Apatschen oder einen Apachen darstellen will. Cowboy ist zum Beispiel ein Beruf ohne rassistischen Hintergrund, doch leider bei Veganern wenig wohl gelitten. Schornsteinfeger? Nein, da kommt wieder Blackfacing ins Spiel. Pirat? Ganz schlecht, Piraten gehören ebenfalls zu den Opfern von Kapitalismus und Ausbeutung, weil weiße Männer die Fischgründe vor Somalia leergeangelt haben. Franzose? Eine sehr preiswerte Lösung; mit Warnweste und einem Baguette wäre ich komplett verkleidet gewesen. Und Clown? Nicht schlecht, nur ist mir die Verwechslungsgefahr mit Clowndia Roth zu brisant, und bei den Millionen Nazis auf den Straßen...
Drag Queen? Nein. Das ist heute kein Kostüm mehr, sondern Berufs- und Freizeitkleidung, so alltäglich wie Schlips und Kragen. Obelix? Zöpfe = Nazi, jedenfalls bei übergewichtigen, alten weißen Männern. Bäcker? Laaaangweilig. Gefallen hätte mir das beim Stöbern im Internet entdeckte „Deluxe Wüstenprinz Halif Kostüm“ („Ein Mann in diesem Kostüm hat sicherlich viele Edelsteine und ein großes Harem.“) Das gab es aber nur bis Größe XL. Und völlig unverständlich: das nicht weniger prächtige Kostüm „Heinrich VIII Tudor“(„beschert jedem Träger einen würdevollen und wirkungsvollen Auftritt“) ist bloß bis Größe 48 erhältlich, dabei hätte es sich zur Feministinnen-Provokation so gut geeignet. Aber ein Hänfling als Blaubart? Niemals.
Go Go Girl kam mir noch in den Sinn, Conchita Wurst trägt inzwischen ja auch Vollbart, allerdings hörten die Größentabellen für diese Option bereits bei XS auf. Früher hingegen...
Dinosaurier, Löwe, Schaf, Musketier, Flamingo, Einhorn, Biene oder Tasmanischer Teufel? Ich fürchte, das wäre kulturelle Aneignung von tierischem Leben (auch wenn mich ein Wolfskostüm schon tierisch gereizt hätte). Aber Ärger mit Tierschützern? Also auch kein Torero. Dann doch noch lieber als Ägypter gehen.
Ich kam einfach nicht zu Potte und gab es schließlich auf; Spontaneität muss gut überlegt sein, und mein Gedanke, mich in diesem Jahr als Narr zu betätigen, war einfach zu spontan entstanden. Hin- und her gerissen zwischen dem Drang danach, Böses zu tun und dem Gedanken, ich könne es doch mal als guter Mensch versuchen, kam mir zuletzt noch die Idee, mich als niedliche Nageldesignerin zu verkleiden. Die gibt es zwar nicht als fertiges Kostüm; ich hätte mich aber am Kleidungsstil einer aus Funk und Fernsehen bekannten Berliner Staatssekretärin für Bürgerschaftliches Engagement und Internationales orientieren können. Die Beine rasiert, den Bauch ein wenig eingezogen, Augen und Mund kräftig angestrichen... nein, bloß nicht, das wäre gerade zu Karneval nicht ohne. So gewandet hätte ich mich wohl kaum beim Rosenmontagszug nach Kamellen bücken können. Drum bleibe ich ein böser, alter, weißer Stinkstiefel, ganz ohne Verkleidung.
Link: Viele schöne Kostüme