Ich musste erst einmal nachdenken. Wann bin ich zum letzten Mal Bahn gefahren? Das Fotoarchiv wusste zu helfen, es war im Sommer 2013. Da fand in einem nicht allzu fernen Ort in den Niederlanden ein Tag der Offenen Eisenbahn statt. Man konnte sich von einer schön restaurierten Dampflok in einem alten Speisewagen durchs bukolische Südlimburg ziehen lassen und in einem MAN Schienenbus (im Volksmund auch als „leicht zweiachsiger Verbrennungstriebwagen“ bekannt) auf einer Holzbank gleich hinter dem Fahrer sitzen, dessen Bedienpult in jedem Steampunk-Film ein optisches Highlight abgegeben hätte.
Massives Holz, Schalter, Schieber, Blinker, Knöpfe und Potentiometer jeglicher Art, dazu Anzeigeinstrumente für alles, was einen Schienenbuskondukteur während der Fahrt von Übach-Palenberg nach St. Odilienberg interessieren könnte. Die Kommandostation des Raumschiffs Orion war dagegen ein Synonym für Minimalismus. Wahrscheinlich ließen sich heute sämtliche Informationen dieses Desktops mittels einen daumennagelkleinen Microchips sammeln und auswerten. Noch wahrscheinlicher, dass das alles niemanden mehr interessiert. Die Zeit der Schienenbusse ist abgelaufen. Schade eigentlich. Besonders beliebt waren doch an den Wochenenden Triebwagenfahrten nach Geilenkirchen oder Tuntenhausen.
Während Fahrten mit dem reastaurierten Speisewagen Geduld erforderten – man musste an diesem Tag lange, sehr lange anstehen – konnte man einen Schienenbustrip sofort ohne Wartezeit absolvieren. Ihnen fehlte halt das Glamouröse von Messinginstrumenten, -lampen und -griffen sowie das vergeistigte Glänzen von poliertem Mahagoni. Auch vermute ich, dass noch mancher der älteren Besucher einst mit so einem Leichtverbrennungstriebwagen über die Dörfer zur Schule fuhr und Erinnerungen daran ungern wieder auffrischen wollte. Für mich war beides – Luxus und Lumpenbahn - gleichermaßen spannend, und der Führerstand des Schienenbusses hätte mit gut als Schreibtisch gefallen, nur zusätzlich mit einer zeitgemäßen Tastatur und einem Flachbildschirm versehen.
Ich stehe lieber im Stau als auf einem Bahnsteig
Von diesem Ereignis (und einer spontanen Thalys-Fahrt nach Paris einige Jahre davor) abgesehen bekommt mich niemand in einen Zug. Ich stehe lieber im Stau als auf einem Bahnsteig. Neulich brachte ich eine Freundin zum Bahnhof, sie hatte eine Reise quer durch die Republik vor sich, mit zweimaligem Umsteigen. Gemeinsam beobachteten wir die Anzeige, auf der sich die gemeldete Verspätung alle paar Minuten verdoppelte. Schließlich zeichnete sich bei der Abfahrt ab, dass ein Anschluss nicht mehr einzuhalten wäre.
Was folgte war ein sich bis in die Nacht erstreckender Live-Krimi – ich saß hyperventilierend daheim und wurde ständig per SMS über den Stand (sic!) der Dinge auf dem Laufenden (sic!) gehalten. Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt mit der Meldung „Es sieht so aus, dass ich in Hannover übernachten muss.“ Hannover! Übernachten! Kann es eine Kombination zweier Wörter geben, die grauenhaftere Bilder hervorruft? Und als sei es damit nicht genug – nur ein paar Tage später konnte ich der Live-Berichterstattung eines Freundes auf Facebook beiwohnen, der durch die Folgen des Sturms Xavier im ICE gestrandet war. Wo? Richtig.
Seine Hilfeschreie wurden mit jedem Posting verzweifelter, zudem keine alternativen Transportmittel nach Berlin aufzutreiben waren, außer einem Bus, der aber noch einen Schlenker über Leipzig gemacht hätte. So ließ ich dem Bahnbrüchigen bei Google errechnen, wie weit es zu Fuß zeitlich und räumlich von seinem unfreiwilligen Standort bis Berlin sei (56 Stunden, 274 km). Ich weiß nicht mehr, wie die Sache ausging, ich klinkte mich entnervt aus, denn die Spannung übertraf alles, was ich meinen Nerven zumuten mochte; ich erinnere mich aber noch an ein Posting, in dem er etwas von „Weiß jemand eine Wohnung in Hannover?“ schrieb.
Das beste am Hauptbahnhof ist der internationale Zeitungskiosk
Den Hauptbahnhof der nahegelegenen Großstadt betrete ich ab und an, dort ist ein gut sortierter Zeitungskiosk mit internationaler Presse, er führt als einer von zwei Läden in der gesamten Umgebung die alle zwei Monate erscheinende Donald Duck Entenhausen Edition, und ihm gegenüber ist einer der zwei Tabakwarenläden im näheren Umkreis, die meine Toscani im Sortiment haben und die mir, wie sollte es anders sein, bevorzugt am Wochenende ausgehen. Zu den Bahnsteigen halte ich bei diesen Erledigungen den angemessenen Abstand. Nicht, dass es mich noch nach Hannover verschlägt.
Ich weiß, meine Abneigung gegen das Reisen mit Zügen und anderen öffentlich-rechtlichen Fahrzeugen ist seit Kindheit geprägt, und ich will sie ganz und gar nicht als allgemein gültige Erkenntnis verkünden. Wenn es nicht anders geht, wie zum Beispiel in Paris mit ihrer Metro, betrete auch ich ein Verkehrsmittel, in dem sich andere Menschen befinden.
Als ich meinen alten britischen Wagen in einer Werkstatt 5 km entfernt restaurierte, nahm ich einige Male sogar den Bus dorthin, doch schnell erkannte ich: was sind schon 5 km zu Fuß. Und da für den Werkstattbesitzer der Gedanke, einen Bus nehmen zu müssen, ebenso grausig war wie für mich, bot er mir voller Empathie bei schlechtem Wetter an, mich heim zu fahren. Ja, es geht auch ohne Busse und Bahnen. Man muss es nur wollen.
Die Eisenbahn hat neben ihrer rein praktischen Rolle im Transportwesen noch eine weitere Bedeutung. Sie ist verbunden mit dem Gedanken an Reisen, an fort, sehr weit fort, für immer fort. Oder umgekehrt, mit hin. In welcher Richtung auch immer, sie dient dem poetischen Grundmotiv der Ortsveränderung seit eh und je als Vehikel. Das hat in Dichtung, Literatur, Musik und auch Film tiefe Spuren hinterlassen. Vielleicht fasst Simon and Garfunkels „Homeward Bound“ alles das besonders kompakt zusammen, was Reisen per Eisenbahn aus lyrischer Sicht bedeuten:
I'm sitting in the railway station.
Got a ticket to my destination.
On a tour of one-night stands my suitcase and guitar in hand.
And every stop is neatly planned for a poet and a one-man band.
Homeward bound,
I wish I was,
Homeward bound,
Home where my thought's escaping,
Home where my music's playing,
Home where my love lies waiting
Silently for me.
Hitchcock erfand den Tunnel als Metapher für Sex
Einen ganz anderen Ansatz fanden dagegen die Marx Brothers, die im Film „Marx Brothers Go West“ den kompletten Zug zerlegen, um genügend Holz für den Betrieb des Dampfkessels zu haben. Buster Keatons filmischer Geniestreich „The General“ von 1927 erzählt die Abenteuer einer Lokomotive und ihres Partners Johnnie Gray. In Tim Burtons Spielfilm-Debüt von 1985 flüchtet Pee Wee Herman vor einem singenden Hobo aus dem fahrenden Zug. Alfred Hitchcock lässt Cary Grant mittels eines in einen Tunnel fahrenden Zuges Eva Marie Saint symbolisch besteigen; kein Wunder, in einem Film von 1959 gab es gar keine andere Möglichkeit, Sex darzustellen. Um ganz sicher vor der Schere des Zensors zu sein, lässt Hitch die Zuschauer noch wissen, dass die Beiden inzwischen verheiratet sind. Besser war das. Und wer weiß, ob diese prüden Zeiten nicht bald wiederkommen.
In der Musik ist die Eisenbahn ein so häufig verwendetes Motiv, dass es unmöglich ist, nur im Ansatz eine repräsentative Übersicht zu bieten. Daher versuche ich es erst gar nicht. Meist ist das Reisen per Zug als Leitmotiv mit Unglück, Armut oder sonstigem Elend verbunden, so zum Beispiel im Freight Train Blues, wenn Mississippi Fred McDowell singt
I got on that freight train; I tried to beat my way.
Lord, them rocks and gravel, Lord, flew all in my face.
Vom Fahren mit dem Güterzug singt auch die 1895 geborene US-amerikanische Folk- und Blues-Musikerin Elizabeth Cotten in ihrem oft gecoverten Song Freight Train, den sie in den 1920er Jahren schrieb. Achten Sie im Clip einmal auf ihre Gitarre.
Es ist klar, dass es sich bei Fahrten mit dem Freight Train um verbotene Beförderungserschleichungen handelt, warum sollte Mississippi Fred McDowell sonst auch „Steine und Kies“ ins Gesicht schlagen, wenn er ein ordnungsgemäß erworbenes Ticket besäße? Der Zug bzw. der gekaperte Zug war das einzige Verkehrsmittel, mit dem es möglich war, ohne einen Cent in der Tasche weite Strecken in den USA zurück zu legen. Sofern man nicht von einem Aufpasser der Zuggesellschaft erwischt wurde. Jack Kerouacs berühmtes „Buch On The Road“ erzählt vom Leben der Hobos in den 1940er und 50er Jahren aus erster Hand.
Freight train, freight train, run so fast
Freight train, freight train, run so fast
Please don't tell what train I'm on
They won't know what route I'm going
(Freight Train - Elizabeth Cotten)
Züge und Literatur, ein Thema für ein paar Dutzend Sonntage
Wenn ich an Musik über Züge nachdenke, fällt mir der Titel Hold That Train der britischen Blues & Boogie Band Steamhammer ein, die ich oft und gerne in den 1970er Jahre live sah, sie hatten nicht zuletzt in Holland und Deutschland eine treue Fangemeinde, und ihre oft stundenlangen Jams waren stets Erlebnisse vom feinsten. Ebenfalls vom illegalen Zugfahren erzählt der Klassiker Riding On The L&N, auch dieses Stück wurde von Steamhammer interpretiert, so wie von Dr. Feelgood, Nine Below Zero oder John Mayall. Dass der Titel, das Original also, von Jazzvibrationist Lionel Hampton aus den frühen 1940er Jahren stammt, dürfte kaum jemand wissen. Es macht Spaß, sich einmal die verschiedenen Versionen vom Original bis zu Steamhammers wuchtiger Liveversion auf dem Album Mountains anzuhören.
Züge und Literatur, das wäre ein Thema für ein paar Dutzend Sonntage, ich muss mich daher aus Gründen bedeckt halten. Eine Zuggeschichte, die mir als erste einfällt, stammt von Friedrich Dürrenmatt, sie heißt „Der Tunnel“, und wenn ich sie nur erwähne, ohne näher darauf einzugehen, dann deshalb, weil sie im sonntäglich verabreichten Antidepressivum ausgesprochen kontraindiziert ist. Wer wissen möchte, um was es geht, kann sich von allwissenden Internet erklären lassen, wie aktuell eine Geschichte aus dem Jahre 1952 65 Jahre später sein kann.
Auch das Zugmotiv in Herbert Rosendorfers „Ruinenbaumeister“ und bei Hermann Harry Schmitz kann ich nur in aller Kürze erwähnen, beide Autoren habe ich bereits vor längerer Zeit an dieser Stelle gewürdigt. Doch einen – ebenfalls schon einmal ausführlich vorgestellten - Autor muss ich hier und heute präsentieren. Er ist seit Jahrzehnten passionierter Bahnfahrer und hat soeben ein neues Buch zu genau diesem Thema veröffentlicht.
Bahnfahring lehrt Demut, Bescheidenheit, Gelassenheit
Sprachkünstler Thomas C. Breuer bewundere ich seit mehr als 40 Jahren, seine Wortschöpfungen sind ebenso großartig wie seine präzise Beobachtungsgabe. Bekannt von Funk und Bühne sowie als Autor einer kaum mehr zu überschauenden Anzahl von Büchern und Hörbüchern ist Thomas fast immer irgendwo mit dem Zug unterwegs.
Ganz im Gegensatz zu mir sitzt er tausendmal lieber im Zug, statt im Auto, aber auch das – noblesse oblige - kann mich nicht davon abhalten, sein neues Buch Bahnfahring allerwärmstens zu empfehlen. Denn der Autor („lebt als freier Schriftsteller in Rottweil und in Zügen von DB und SBB“) bewältigt die Defizite der Bahn – hat man sich ihnen erst einmal ausgeliefert – mit der wahren Gelassenheit des abgeklärten Weisen. „Das Essen im Bordbistro will nicht kommen? Das ist Slow Food im wahrsten Sinne des Wortes.“
Ja, das ist die richtige Einstellung! Man darf sich nicht zum Sklaven von Abfahrtszeiten machen lassen. Als Bahnkunde lernt man die Kunst der stoischen Gelassenheit. Das Stehen auf freier Strecke bringt einem die Wunder der Natur wieder näher, und wenn es in Koblenz mal zwei Stunden nicht weitergeht – warum verzweifelt in Rhein oder Mosel springen? Warum nicht das Bahnhofsviertel der Stadt am Deutschen Eck erkunden? Ja, Bahnfahring lehrt Demut, Bescheidenheit, Gelassenheit. Kurz all das, an was es dem modernen Menschen von heute so sehr mangelt.
Bahnfahring nimmt den Leser mit in ungeahnteste Regionen. Böbig, Grünstadt, Neidenfels, wer kennt die Namen, nennt die Linien! Wir lernen den Schweizer Kanton Obwalden ebenso kennen wie Voghera, wo immer das auch sein mag. Auch Kanada hat TCB bereist, ein Land, das nach seinen Worten „wie die USA ist, nur ohne Fehler.“ Was sich offenbar auch im Eisenbahnwesen manifestiert.
Und selbst die Pacific Bahn in Costa Rica war vor dem Rottweiler Reisenden nicht sicher; auch hier hatte er die Gelegenheit zur Entschleunigung, für 116 km Distanz braucht der Zug gute vier Stunden. Das klingt langsam und irgendwie südamerikanisch hasta manana siesta-geprägt, doch weiß der kundige Autor das überzeugend zu relativieren. Für die 26 km von Chur nach Arosa braucht die Rhätische Bahn nämlich eine (in Zahlen: 1) Stunde. Na also.
Ich erwähnte es und kann es nicht oft genug sagen: Thomas C. Breuer (den ich übrigens vor vielen Jahren in Stuttgart kennenlernte, wohin ich per Zug …. aber das wäre eine andere Geschichte) ist ein Schreiber, wie es nur ganz wenige gibt, in seiner Rarität vergleichbar mit einem pünktlich eintreffenden Zug oder einem heiß servierten Espresso im Bordbistro.
Und Bahnfahring ist ein Buch, das ich mit größtem Amüsement gelesen habe. Es könnte mich fast verführen, auch mal wieder einen Zug zu besteigen, für den Anfang vielleicht eine kurze Strecke, eventuell von Aachen Hbf nach Aachen Rothe Erde. Sofern der Zug nicht zwischendurch verendet.
Thomas C. Breuer, Bahnfahring, 214 Seiten, Paperback, 29 Abbildungen, Lindemanns Bibliothek Band 299, 978-3-88190-984-6
Links:
Simon and Garfunkel: Homeward Bound
Marx Brothers Go West
The General (ganzer Film)
Pee Wee Herman
Cary Grant und Eva Marie Saint in North to Northwest
Freight Train Elizabeth Cotten
Lionel Hampton - Ridin' On the L & N
John Mayall – Ridin' on the L & N
Nine Below Zero – Riding On The L&N
Steamhammer Riding On The L&N
Hörbuch – Ventimiglia oder: Haben Sie nichts zu verzollen? von Hermann Harry Schmitz
Die Website von Thomas C. Breuer