Archi W. Bechlenberg / 09.10.2016 / 06:24 / 2 / Seite ausdrucken

Das Anti-Depressivum zum Sonntag: Tiny Tim und Pee Wee Herman

Vor einigen Nächten hatte ich einen furchtbaren Albtraum, und alleine die Erinnerung daran lässt mich jetzt erneut erzittern. Stalin war wieder auferstanden und startete sogleich eine Säuberungswelle, und dann fand ich mich wegen unbotmäßiger Umtriebe vor einem Tribunal wieder und ich wusste, mir drohte eine Todesstrafe, aber der Anklägerin, eine verdiente Politkommisssarin und frühere Traktoristin, war das zu wenig und viel zu gnädig, und daher war ihr Plädoyer  so flammend intensivrot wie ihre Jujuba-Henna Permanent-Haartönung, und noch während ihre letzten Worte verhallten sprang der Richter – ein unscheinbares, spilleriges Männlein, das man bis dahin gar nicht wahrgenommen hatte - hinter seinem Pult hervor und auf und ab wie ein Flummi und klatschte in die Händchen, und es nannte mich einen Lump und sprach sein Urteil. Nein, der Tod sei nicht genug, ich müsse Schlimmeres erleiden, viel Schlimmeres, und das Männlein hämmerte mit einer Sichel auf das Pult und verbannte mich für alle Zeiten in die Uckermark.

Ich wusste, ich rannte um mehr als nur um mein Leben

An dieser Stelle wurde der Traum unterbrochen, meine Frau weckte mich durch heftiges Schütteln. Ich hätte, so sagte sie, einen so unmenschlichen Schrei ausgestoßen, dass sie davon wach wurde. Nie war ein Erwachen erlösender, lag ich doch in Wirklichkeit im warmen Bett und nicht in der Uckermark. Dankbar küsste ich die Liebste, und dann schlief ich wieder ein, und sogleich ging der Traum weiter, nun lief ich in Panik durch einen finsteren Wald, denn jetzt war ich auf der Flucht und versuchte verzweifelt, der Verbannung und der Uckermark zu entkommen, und ich hörte hinter mir grauenhafte Geräusche, die nur von Verfolgern stammen konnten, und ich wusste, ich rannte um mehr als nur um mein Leben, und ich lief weiter und weiter, und überall lagen Floskeln, wirr gewunden wie Wurzeln, auf dem Boden und ließen mich taumeln und stolpern, und die Verfolger, bestens vertraut mit den Umständen, kamen unaufhaltsam näher, und dann drehte ich mich um und sah nur wenige Meter hinter mir einen riesigen, blutrünstig geifernden Wolf mit geblecktem Gebiss, und zusammen mit ihm folgte mir die wirrhaarige Politkommissarin, und ihr Gesicht war vor Wut verzerrt, und ich stolperte schneller und schneller und schneller, aber das heisere Hecheln und Knurren kam näher und näher und wurde immer lauter, und dann roch ich auf einmal den widerlichen, kölnischwasserartigen Atem der entsetzlich erregten Bestie, und ich lief immer noch schneller, und die mordlüsternen Geräusche kamen noch näher, und ich fühlte, wie mir die letzten Kräfte schwanden, und ich wollte sehen, ob mir noch eine Chance blieb, also blickte ich mich im vollen Lauf noch einmal um, und da war die grauenhafte Gestalt schon fast an mir dran und der Fang voller gelber Hauer schnappte auf und zu. Und mit kurzem Abstand folgte der Wolf!

Ich verdanke es meiner Frau, die mich, von meinem infernalischen  Jammern und Wehklagen erneut geweckt, ein zweites Mal wach schüttelte, dass ich den Traum an dieser Stelle abbrechen konnte. Für den Rest der Nacht blieb ich wach und begab mich auf Pokemon-Jagd, denn von monströsen Schreckgestalten hatte ich wahrlich genug.

Sie mögen fragen: Wie um alles in der Welt kann man so etwas träumen? Nun, den Stalin kann ich leicht erklären, hatte ich mir doch am Abend zuvor wieder einmal John Grays Buch „Politik der Apokalypse – Wie Religion die Welt in die Krise stürzt“ (Klett-Cotta) zur Hand genommen und darin gelesen. Der Stalinismus findet in diesem großartigem Werk ausführliche Würdigung, steht er doch für ein der Religion sehr verwandtes System, in dem ebenfalls einem Gott gehuldigt wurde, nur dass dieser kein unsichtbarer Herrscher in himmlischen, also überirdischen Sphären war, sondern real, allzu real. Stalin persönlich.

Selbst Tinnitus klingt dagegen wie eine Ode an die Freude

Doch wie kam ich auf die Politkommissarin, die auf ihrem Revers gut sichtbar ein Abzeichen mit der Aufschrift AAS (Autonome Anklägerin Stalins) trug? Und wie auf den Wolf? Es ist vieles noch unklar, und wenn ich ehrlich bin würde ich dem Traum am liebsten nicht weiter nachgehen. Die Folge näherer Beschäftigung wären mit Sicherheit weitere Träume dieses Kalibers, und darauf kann ich gut verzichten. Die derzeitige, tägliche Realität ist gruselig und erschreckend genug, zudem haben die Stimmen in meinem Kopf heute begonnen, in unregelmäßigen Abständen plötzlich laut und dissonant das Wort „Schulz!“ zu schreien. Sie kennen das vielleicht aus Ernst Lubitschs Film „Sein oder Nichtsein“. Selbst Tinnitus klingt dagegen wie eine Ode an die Freude.

Ich weiß ja nicht, wie es Ihnen derzeit geht – mir selber habe ich nun fürs Erste einen Medienentzug verordnet. Kein Facebook, keine Presse, keine Quasselrunden im Öffentlichrechtlichen. Ich werde das nicht lange durchhalten, denn sich allem entziehen ist auch keine Lösung, es sei denn, man lebt auf St. Helena oder Tristan da Cunha oder Pitcairn oder den alleräußersten Hebriden. Auch in Oimjakon im Osten der fernöstlichen, russischen Teilrepublik Jakutien, aber da ist es heute früh -6“ Celsius, und in Kürze können Sie an die 6 noch eine 0 anhängen. Gut, immer noch besser als die Uckermark...

Ja, Sie haben Recht – was erzähle ich Ihnen in meiner als Antidepressivum angepriesene Kolumne von solch' höllisch-abstrusen Gestalten! Da können Sie ja besser noch ein Buch mit Geschichten von H. P. Lovecraft zur Hand nehmen,  deren antidepressive Wirkung schon deutlich gegen Null geht.

„Tiny Tim represents 'one of the most phenomenal success stories in show business“ (Bing Crosby)

Dabei gibt es durchaus sympathischere Gestalten, denen das Attribut „abstrus“ zugestanden werden kann und die dennoch eine erfreulich positivere Aura umgibt. Da wäre zum Beispiel ein gewisser Herbert Buckingham Khaury, der unter dem Namen Tiny Tim durch die Popgeschichte irrlichterte, ehe ihn 1996 der Herzkasper hinweg beamte. Unter Namen wie Julian Foxglove, Larry Love oder Derry Dover trat Herbert zunächst in der New Yorker U-Bahn zur Unterhaltung der Fahrgäste auf, indem er seinen ausgesprochen schrägen Falsettgesang auf einer Ukulele begleitete. Neben seinem musikalischen Wirken fiel vor allem Herberts schrille Physiognomie auf – gesegnet mit einem monumentalen Zinken im Gesicht unterstrich er seine 1,90 m große Erscheinung durch sehr lange Haare und ein gepudertes Gesicht mit sorgsam aufgemalten roten Bäckchen.

Nachdem er es in New York „gemacht“ hatte, erschloss Khaury, jetzt als „Tiny Tim“ agierend, weitere Claims in der Popwelt – ein Auftritt beim Festival auf der Isle Of Wight 1970 machte den stets liebenswürdig erscheinenden Freak weltweit bekannt. Tiny Tim heiratete einige Male, nahm eine Reihe von seltsamen Platten auf und war ein beliebter Gast auf Festivals, in TV Studios und bei Talk Shows. In späteren Jahren legte er gewichtsmäßig tüchtig zu, trug aber weiterhin Bühnenoutfits, die für weniger gut durch den Winter gekommene Figuren konzipiert worden waren. Kurz: Tiny Tim war eine unverwechselbare Figur in der Popwelt geworden. Und alle liebten ihn, bis auf seine Gattinnen. Die Trauer war groß, als der Schnitter ihn im Alter von nur 64 Jahren holte, und mit Herbert Buckingham Khaury versank seine geliebte Ukulele im Grab. Die 2015 erschienene Biografie „Eternal Troubadour: The Improbably Life of Tiny Tim“ von Justin Martell und Alanna Wray McDonal erinnert an den liebenswerten Clown.

Im Gegensatz zu Tiny Tim weilt eine andere Ikone des Abstrusen noch unter uns, auch wenn er etwas aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden ist. Daran ist nicht unwesentlich ein Skandal schuld: der bis dahin vor allem als Star der amerikanischen TV Kinderunterhaltung bekannte und beliebte Pee Wee Herman war 1991 in einem Pornokino erwischt worden, während er dem Spiel Mütze-Glatze frönte. Das dürfte in einem solchen Etablissement nicht wirklich etwas Seltenes sein, aber Pee Wee war nun einmal der Freund aller Kinder, und als solcher musste er stets über jeden Zweifel erhaben sein. Eine Illusion, die er an diesem verhängnisvollen Tag schmählich zerdepperte.

Unsäglich alberner Klamauk

Eigentlich, man kann es ahnen, heißt Pee Wee Herman nicht Pee Wee Herman, sondern Paul Rubenfeld (analog hätte Tiny Tim bürgerlich Herbert Rubennase heißen müssen), und unter dem Künstlernamen Paul Reubens hat er zwischen 1977 und heute in einer Reihe von Filmen mitgespielt, was ihm immerhin einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame sowie einige Emmy-Nominierungen einbrachte. Zur Kultfigur wurde Reubens allerdings durch seine Verkörperung des Pee Wee Herman, der fünf Jahre lang eine eigene Kindersendung im amerikanischen TV - Pee-Wee's Playhouse - moderierte und durch den ersten Langfilm von Regisseur Tim Burton international zu Ruhm und Ehren kam. Burton, der damals schon eine ausgeprägte Ader für schräge Filme und Figuren hatte, erzählt in „Pee Wees tolle Abenteuer“ die Geschichte des skurrilen Pee Wee, dessen geliebtes Fahrrad gestohlen wird. Pee Wee ist außer sich, und so macht er sich auf, das einzigartige Vehikel wieder zu finden.

Was folgt ist ein Roadmovie, in dem neben der schon mächtig schrägen Hauptfigur noch jede Menge weiterer Freaks auftauchen, die der ansonsten etwas dünnen Story Absurdität vom Feinsten verleihen. Auch wenn er Tim Burtons erster Langfilm ist, zeigt „Pee Wees tolle Abenteuer“ bereits alle außergewöhnlichen Qualitäten des Regisseurs, der später Klassiker des Surrealkomischen wie „Beetlejuice“, „Edward mit den Scherenhänden“, „Mars Attacks!“ oder „Corpse Bride – Hochzeit mit einer Leiche“ realisierte. Burton schuf 1985 mit „Pee Wees tolle Abenteuer“, und dem kongenialen Paul Reubens sowie dem Komponisten Danny Elfman einen Film, der bis heute uneingeschränkt sehenswert und urkomisch geblieben ist. Wer ihn auf Bildträger erwerben möchte, sollte unbedingt eine unsynchronisierte Fassung nehmen. Wie schrieb das Lexikon des Internationalen Films seinerzeit über Tim Burtons Erstling? „Unsäglich alberner Klamauk, […] und weitgehend nervtötend.“ Wenn das keine Empfehlung ist! P.S. Just in diesem Jahr ist der Film „Pee-wee's Big Holiday“ erschienen, der von Netflix für das Internet produziert wurde.

Bitte schauen Sie sich die ausgewählten Links an, die werden Sie hoffentlich für den depressiven Einstieg der heutigen Kolumne voll umfänglich entschädigen.

Tiny Tim singt  Tiptoe Through The Tulips

Tiny Tim singt Do Ya Think I'm Sexy

Tiny Tim singt Over The Rainbow

Tiny Tim singt Little Girl

Pee Wees Frühstück

Eine Folge von Pee Wees Playhouse

Noch mehr zum Thema Geist, Genuss und Gelassenheit finden Sie wauf Archi W.Bechlenbergs Blog "Herrenzimmer"

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Leserpost

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R.Hoffmann / 09.10.2016

Vielen Dank, einfach köstlich. Der depressive Einstieg hat mir besonders gefallen und die Erinnerung an Tiny Tim’s Tiptoe Trugh The Tulips ist großartig. Dies habe ich in schwierigen Lebenssituationen seit der ersten Erscheinung in einem “Beatclub” in den späten Sechzigern schon öfter vor mich hin geträllert. Und es hat immer geholfen. Es wird uns bestimmt auch über die Machenschaften der flammend intensivroten ehemaligen Traktoristin hinweg trösten.

Paule Sonntag / 09.10.2016

“Kein Facebook, keine Presse, keine Quasselrunden im Öffentlichrechtlichen.” Das ist seit vielen Monaten auch mein Rezept gegen Depressionen, schlechte Laune und zu hohen Blutdruck.  (Btw: Gehören Tichys Einblick und Die Achse des Guten eigentlich auch in die Rubrik “Presse”?) Ihr Alptraum war ja wirklich ganz fürchterlich! Am Allerschlimmsten finde ich ja noch die Szene mit der Politkommissarin und dem unscheinbaren, spillerigen Männlein. Diese beiden verfolgen mich auch ständig bis in meine schrecklichsten Albträume. Statt Facebook & Co. lese ich in der letzten Zeit zur geistig-seelischen Efrischung und Erbauung wieder vermehrt “Bücher” (ja!), als da zB wären: Das geheime Leben der Bäume (Peter Wohlleben), Die geheime Migrationsagenda (Friederike Beck), Deutschland im Blaulicht (Tania Kambouri), Deutschland in Gefahr (Rainer Wendt), Deutschland schafft sich ab (Thilo Sarrazin), Exodus (Paul Collier), Unterwerfung (Michel Houellebecq), Lügenpresse (Peter Denk). Kann ich nur jedem empfehlen, der unter Depressionen leidet :-) Vielen Dank für Ihr Antidepressivum namens Tiny Tim. Wirklich köstlich!

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