Archi W. Bechlenberg / 16.09.2018 / 06:28 / Foto: Pixabay / 15 / Seite ausdrucken

Das Anti-Depressivum: So weg wie möglich

Ich muss Ihnen, liebe Leser, gestehen: es wird von Woche zu Woche schwerer, angesichts der täglichen Ereignisse und Meldungen noch etwas zu schreiben, dem das Attribut „antidepressiv“ zusteht. Selbst wenn ich die Augen vor Funk und Fernsehen völlig verschlossen halte, dringt doch noch vieles, allzu vieles zu mir durch, das mich selber nach Antidepressiva greifen lässt. 

Nehmen wir den heutigen Morgen. „Penis-Proll schmeißt Schönheit raus“ springt mir als erstes beim Öffnen eines bekannten Enthüllungsmagazins entgegen. Ähnlich katastrophal geht es weiter: „Polizei zieht absurd getunten Golf aus dem Verkehr“, während zur gleichen Zeit anderswo das Thema Verkehr sogar auf dem Unterrichtsplan steht: „Schüler (15) entjungfert seine Lehrerin (25)“. Wie soll die Welt da ins Gleichgewicht zurück finden? Und war der Schüler (15) auch absurd getuned?

Aufatmen bei der nächsten Meldung: „Wespe bringt Kölner Kult-Anwalt fast um.“ Fast! Zum Glück nur fast. So etwas wünscht man niemandem, zudem es auch anders hätte ausgehen können, denn kaum jemand weiß, dass der Biss eines einzigen Kult-Anwalts für eine Wespe tödlich sein kann.

Das Aufatmen dauert kaum einen Atemzug, denn es geht Schlag auf Schlag weiter mit grauenhaftem aus aller Welt. „Robert Geiss (54) ist wieder zurück“ , „Papa wurde aus Versehen eingeäschert“, „Fans wollen an Daniela Katzenberger lecken“... die Welt fällt aus den Angeln.

„Nach dem zehnten Biere ähneln sich alle Tiere“

„Prinz William verwechselt Japan mit China“ könnte den Höhepunkt der aktuellen Frontberichte darstellen, doch er hat die Rechnung ohne seine Untertanen gemacht. „Englische Fans verirren sich zum VfL Alfter“, lautet die Meldung, hinter der sich menschliches Versagen – mit Happy End – in Reinkultur verbirgt. Engländer aus Manchester wollten das Bundesligaspiel zwischen Eintracht Frankfurt und Werder Bremen anschauen. Das klingt schon versponnen-skurril genug, doch es kommt noch besser. Die Eingabe „Waldstadion“ in ihr Navigationsgerät führte sie nämlich nicht nach Frankfurt, sondern in das beschauliche Örtchen Alfter bei Bonn.

Dort standen sie dann und fragten sich, wie in das nicht weniger beschauliche Stadion des Mittelrheinliga-Vereins wohl 50.000 Zuschauer passen sollten. Zu ihrem Glück fand gerade an diesem Wochenende ein Dorfturnier mit anderen ortsansässigen Vereinen statt, und so wurde es dann noch ein richtig schöner Fußballabend. Da „für das leibliche Wohl“ reichlich gesorgt war, blieben die Jungs in Alfter, ganz nach dem Motto der Neuen Frankfurter Schule: „Nach dem zehnten Biere / ähneln sich alle Tiere“. Und immerhin sind sie nicht in Aachen, Gießen, Homburg, Pasching, Bad Nauheim oder gar Kaiserlinde gelandet, auch dort gibt es Waldstadien.

Wenn ich diese und all die anderen Meldungen lese, kommt mir nur eine Reaktion in den Sinn: Weg ist das Ziel! Weg von all diesem und ähnlichen Wahnsinn, so weit weg wie möglich. Am liebsten auf der Stelle. Doch Spontaneität muss stets gut überlegt sein. Und so bleibe ich dann doch sitzen, werfe einen beruhigten Blick auf meinen Notkoffer, der nie weiter als eine Armlänge von mir entfernt wartet und rette mich – vorerst – in geistige Fluchten.

Dazu dienen mir einige wunderbare Bücher, die ich im Laufe der Jahrzehnte zusammengetragen habe. Baedekers Reisehandbücher aus einer Zeit, in der das Abenteuer nicht in der Frage bestand, ob man den Flieger rechtzeitig erreicht und wenn ja, ob er fliegt. „Österreich-Ungarn nebst Bukarest, Belgrad und Cetinje“ zum Beispiel, erschienen 1913, 29. Auflage. Nicht weniger exotisch „Die Rheinlande“, Leipzig, 1925. Der Band über London, 1905, 15. Auflage, mit 3 Karten, 32 Plänen und zahlreichen Grundrissen. Und noch einige mehr.

Was mich an diesen Büchern besonders fasziniert, ist der unglaubliche Detailreichtum, der nahezu jeden Stein beschreibt; ich wüsste keinen heutigen Reiseführer, welcher derart sorgfältig recherchiert wurde. Vieles ist kurios und lässt tief in eine andere Zeit blicken. Der Frankfurter Hauptbahnhof verfügt nicht nur über ein Restaurant allerersten Ranges, sondern auch über Wasch- und Badeeinrichtungen.

Alte Reiseführer sind wie Geschichtsbücher

Der Kurmusik in Bad Homburg kann man mehrmals am Tag lauschen, morgens an den Quellen, abends im Kurgarten, außerdem bei Konzerten, Bällen und Gartenfesten. Wanderwege und Tagestouren sind detailliert beschrieben, so gibt es nützliche Ratschläge zu Ausflügen („Mittags hat man für den Blick nach dem Niederwald die Sonne im Rücken“). Von Mainz bis Coblenz (mit C!) sind es über die Rheinhöhenwege etwa 147 km, für die ein rüstiger Wanderer sechs Tage braucht, bis Bingen ist der Weg fast schattenlos.

Alte Reiseführer sind für mich wie Geschichtsbücher. So wie auch alte Landkarten die man manchmal für ganz kleines Geld, nicht selten als Konvolut, auf Trödelmärkten finden kann. Auf meiner Frankreichkarte von Hallwag, erschienen 1956, ist noch nicht eine einzige Autobahn existent, nur am äußersten rechten Rand, da sieht man die Autobahn von Köln nach Bonn und ein Stück der A3 Richtung Frankfurt. In Frankreich hingegen: nichts dergleichen. Ja, die Deutschen und die Autobahnen. Aber das wäre eine andere Geschichte.

Auf einem belgischen Flohmarkt machte ich im vorigen Jahr einen schönen Fund. Da hatte ein Händler nach Ende des Markttages ein paar Kartons zurückgelassen, zur freien Verfügung. Es standen einige Menschen drum herum und balgten sich um rostige Pfannen, ein paar Rosenkränze und ein wenig Porzellannippes. Kein Interesse hingegen bestand für eine Kiste mit Büchern. Aus dieser fischte ich etliche antike Michelinkarten, die außer dem schon damals hervorragenden Kartenmaterial noch nützliche Infos bieten: Ein Citroen DS 19 fährt mit 165-400 X A2 Reifen (Luft vorne 1,8, hinten 1,5 Atü). Ein Panhard 17 B ist auf kleineren Reifen unterwegs und braucht nur 1,2 bzw. 1,6 Atü). Und ein Simca Versailles braucht vorne und hinten gleich viel Luft...

Handschriftliche Bemerkungen früherer Reisender

Neben den Reisekarten enthielt der Karton auch noch eine schöne Anzahl alter Reiseführer, auch von Michelin, in dem charakteristischen Grün. Ein „Campingführer Frankreich 1965“ mag nicht ganz so spannend sein, außer man reist jetzt durch das Land, um die damaligen Preise mit den heutigen zu vergleichen. Sehr schön sind die Reiseführer Paris 1952-53 und 1954-55, aufgewertet  durch die handschriftlichen Bemerkungen früherer Reisender. Spaßige kleine Zeichnungen, in denen Michelins Maskottchen Bibendum sein Unwesen treibt, geben den Büchern eine zusätzliche, humorvolle Note. Mein Bretagne-Band von 1962 gehörte einst einem Mr. Kinnard; er hat leider außer seinem Namen nichts hinterlassen, und auch Bibendum macht sich in diesem Buch leider rar, dafür gibt es großartige Pläne und Zeichnungen, die im Grunde zeitlos sind, also auch heute noch dem Reisenden nützlich sein könnten.

Einen schönen Reiseführer hat der Heel Verlag vor ein paar Jahren in einem Reprint heraus gebracht. „Die Hochstraßen der Alpen“ von Kurt Mair. Das Original stammt von 1930, wurde in den 1950er Jahren aktualisiert und ist sogar heute noch als Alpenpassführer bestens geeignet. Mair ist einer der Pioniere des Auto- und Motorrad-Tourismus. Er war der Erste, der schon in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts in zum Teil abenteuerlichen Touren alle Hochstraßen der Alpen erkundete; das Ergebnis dieser Fahrten war das Buch. Sie können es, zum Teil für winzige Beträge und sogar in der Originalausgabe antiquarisch finden. Und dann setzen Sie sich gemütlich hin – mit den obligatorischen Genüssen versorgt – und lassen Sie sich in die Ferne tragen. Es muss ja nicht gleich nach Österreich-Ungarn nebst Bukarest, Belgrad und Cetinje sein, wenngleich heute einiges dafür spricht. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Leserpost

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Petra Genter / 16.09.2018

Ich habe dazu nicht wirklich viel zu sagen, aber es ist ja Kult, dennoch immer zu allem was zu sagen. Ich habe diesen Artikel so richtig gern gelesen und entgegen meiner nun schon fast ein Jahr andauernden Leseblockade (hinsichtlich Belletristik) endlich mal wieder einen Roman herausgekramt. Und, was soll ich sagen: Ich habe sogar darin gelesen und werde es am Abend wieder tun, ich Frechdachs…

Andreas Kleemann / 16.09.2018

…. “Für ganz kleines Geld”,....“für winzige Beträge antiquarisch erworben”... schreibt der Autor. Das ist schön für ihn, verbirgt aber auch Tragisches: Deshalb sei ein Hinweis sei erlaubt: Beim derzeitigen Antiquariats-Sterben allerorten wird er seine Suche bald auf Flohmärkte begrenzen müssen. Das Verschwinden der Laden-Antiquariate als kulturelle Institution: Das ist die traurige Geschichte in diesem ansonsten schönen Artikel. Die meisten Leute lesen nicht mehr. Punkt. Der Bildungsbürger ist im Aussterben begriffen. Aus und vorbei. Eine dramatische Veränderung des öffentlichen Raums: Junge Menschen schauen beim Laufen auf ihr Handy, nicht mehr auf so etwas völlig aus der Zeit gefallenes wie den Baedecker. Vom ehemaligen Raum der Neugier und Begegnung des Flaneurs zum reinen Transit-Raum des hektischen homo digitalis.

Andreas Rühl / 16.09.2018

“Ach, vergeblich das Fahren! Spät erst erfahren Sie sich. Bleiben und stille bewahren das sich umgrenzende Ich.” Anders, aber auch “nicht schlecht”: ΔΑΙΜΩΝ, Dämon Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen Nach dem Gesetz, wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten; Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt. Lieber Herr Bechlenberg, es gibt leider gar nicht die Möglichkeit durch Reisen vor irgendwas zu fliehen. Reisen bedeutet Wiederkehr. Sonst wärs keine Reise, sondern eine Flucht. Und NOCH gibts keinen wirklichen Grund, diesem Land zu entfliehen, das eben auch Benn ist und Goethe und nicht nur BILD und SPIEGEL und sonstiger Scheißdreck.

Hjalmar Kreutzer / 16.09.2018

Ach nö, der Rooobert und die geleckte Katze sind nun nicht wirklich die Dinge, die mich hier vertreiben würden. Selbst Mitbürger mit nicht ganz so hohen Bildungsabschlüssen hören oder sehen beschämt weg, sollte sich jemand im Privatgespräch über diese „weltbewegenden“ Themen auslassen. Was mir sauer aufstößt, wenn mir eine Freundin schreibt, dass sie in Löbau(!) im tiefsten Osten ihren Einkaufsbummel mit Tochter und Enkeltochter abbrechen musste, weil sie in der Innenstadt an jeder Ecke behindert, belästigt und angepöbelt wurde und zwar nicht von glatzköpfigen Ronnys und Maiks, ohne dass die Polizei eingeschritten wäre. Beim Baedeker Österreich-Ungarn 1913 musste ich an den seligen Jaroslav Hasek denken, der sich noch vor der Jahrhundertwende ein Leben erlauben konnte, in dem er meist per pedes alle Länder der Donaumonarchie bereiste. Was für eine traumhafte Vorstellung! Danke für Ihre wie immer sehnsüchtig erwartete Sonntagsgeschichte.

Bernd Ackermann / 16.09.2018

Wenn man heutzutage durch West-Europa reisen will nimmt man am besten den “Reiseführer durch Mordor” zur Hand, das kommt dann in etwa hin. Obwohl ich mir nicht sicher bin ob der Dunkle Turm von Barard-Dûr in Berlin oder Brüssel zu verorten ist. Aber das kann man ja dann nachlesen.

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