Wann immer mein Bewegungsapparat etwas hartleibig ist, liege ich auf dem Sofa und reise per Google um die Welt. Mal fahre ich hunderte von Meilen durch Kansas, wo die Felder nur ab und an von einer Ansammlung kleiner Hütten unterbrochen werden, zwischen denen sich ein einziges Gebäude durch Monumentalität hervor tut, die Bank. In brasilianischen Städten, weit den Amazonas hinauf, kann man mit etwas Glück kopulierenden Hunden zusehen und in den Außenbezirken von Mexico-City darüber staunen, wie schön von dort der Blick übers Land sein kann. Sofern man auf dem Rand eines Vulkans steht und nicht in dessen Kessel.
Spannend sind auch Touren durch Tijuana entlang der mexikanisch-amerikanischen Grenze, über den Dalton Highway in Alaska (dessen nördliche Endstation den sicher nicht willkürlich gewählten Namen „Dead Horse“ trägt), durch das Hinterland von Kapstadt, gewisse Bezirke von Los Angeles, die Favelas oberhalb von Rio (welche Wagemutigen mögen sich da für Google hingetraut haben?), durch die schottischen Hochebenen und – wer es wirklich exotisch mag – manche englischen Städte. Die Erde bietet von allem etwas, und man kann sich vorstellen, welche Aufgabe noch vor den Gretisten liegt, um das alles zu retten.
Vor ein paar Tagen lag ich wieder einmal faul herum und überlegte, wohin ich mich virtuell wenden könnte. Warum nicht mal in der Nähe bleiben und einen Kontrollgang durch vertraute Ecken unternehmen? Ich musste nicht lange nachdenken, denn sogleich fiel mir eines der seltsamsten Restaurants ein, in denen ich jemals gespeist habe. Ob es das noch gab? Immerhin, es war mehr als ein Jahrzehnt her, dass ich dort zuletzt einkehrte, und mein erster Besuch dort lag sogar fast 40 Jahre zurück. Gerade in der Gastronomie tut sich ja immer viel. Kaum hat an der Ecke ein veganes Restaurant aufgemacht, ist es auch schon wieder weg, mangels Gästen.
Im Haus einer Bekannten in einer rheinischen Großstadt eröffnete ungefähr alle sechs Monate ein veganes Restaurant und schloss dann wieder. Inzwischen ist ein Dönerlokal dort etabliert, das dürfte es deutlich länger aushalten. Sofern das Gesundheitsamt nicht plötzlich mal auftaucht. Derzeit überarbeite ich mein Buch über Belgien für die aktualisierte Neuauflage, und die meisten Korrekturen beziehen sich auf Restaurant- und Hoteltipps, die inzwischen obsolet wurden.
Ein ehemals weißes, nun aber eher multicoloriertes T-Shirt
„Mein“ Restaurant lag in Ostende, gleich um die Ecke der Strandpromenade in einer schmalen, eher unbelebten Straße. Es unterschied sich äußerlich in nichts von all den anderen Kaschemmen ringsum, aber es lag nahe an dem Hotel, in das uns Freunde aus Berlin für ein Wochenende eingeladen hatten, die unbedingt im Hafen der Stadt von Möwen bekackt werden wollten, und drinnen war es erfreulich leer, so dass man mit zügiger Bedienung rechnen konnte. Links des Eingangs befand sich eine Theke, dahinter die Küche, die sich, korrekt beschrieben, von keiner der üblichen Frittenzubereitungsapparaturen unterschied. Ein freundlich lächelnder Mensch empfing uns und nickte eilfertig, als wir nach Futter fragten. Aber ja, es gebe die besten Fritten und die beste Seezunge in der Stadt. Das klang doch gut, zudem das laut Karte keine 200 belgischen Franken, ungefähr zehn Mark kosten solle. (Wer diese Währungen nicht mehr kennt: in Spielgeld umgerechnet knapp fünf Euro)
Der Mensch trug, vermutlich bedingt durch seine Tätigkeit an der Zentralfriteuse, ein ehemals weißes, nun aber eher multicoloriertes T-Shirt sowie eine Jeans, vor der ab Taille eine Schürze herunterlüngelte, über deren ursprüngliche Farbe man nur spekulieren konnte. Sein Lächeln hatte etwas Asiatisches an sich, breit und unergründlich freundlich. Ganz offensichtlich riss ihn unser Besuch aus einer mangels übriger Gäste tiefen Depression heraus, und entsprechend zuvorkommend wollte er uns bewirten. Also legte er die Schürze ab, hängte sie an einen Haken und nahm von diesem eine schwarze Weste, die er seinem T-Shirt überstülpte. Welche Verwandlung! Dann trat er hinter der Theke hervor und geleitete uns an einen der Tische. Hier war der Wirt zugleich Koch, Kellner und Sommelier. Warum nicht? Alles aus einer Hand, das würde vieles vereinfachen.
Auch das Bestellen war sehr leicht getan. Die Speise-Auswahl bestand aus Seezunge mit Fritten. „Haben Sie Wein?" „Natürlich. Weißen und roten.“ „ROTEN? Zu Seezunge?“ Der Kellner lächelte verlegen und wog den Kopf hin und her, während er mit den Armen einige wirre Bewegungen machte. Mein Gott! Dieser Mann musste wirklich schon alles im Leben erlebt haben.
Wir bestellten. Zwei nahmen keinen Wein, sondern Bier und Wasser. Und nur Minuten später standen eine Art Karaffe mit Wein (weißem!), zwei Wassergläser sowie eine Flasche Jupiler und eine Büchse Spa auf dem Tisch. Beides ohne Gläser. Umgehend verfatzte sich der Kellner hinter den Tresen, zog Weste aus und Schürze an, mutierte so zum Koch und bereitete vorzügliche Fritten mit Seezunge.
Diese Kombüse ist eine der meist beschriebenen Belgiens
Im Laufe des Abends füllte sich der Laden bis auf den letzten Platz; wir waren zu unserem Glück bloß die Ersten gewesen. Alle wurden versorgt von dem freundlich lächelnden Menschen, der, dem Roadrunner gleich, sowohl Fritteuse, Ausschank und Service souverän meisterte. Als wir zufrieden und wohlgenährt das Lokal verließen, war der Betrieb noch voll im Gange.
Und diesen suchte ich jetzt bei Google Street View. Und fand ihn nicht mehr, da ich in der falschen Straße stöberte. Ich erinnerte mich aber an den Namen der gastlichen Stätte, der lautete „Stad Kortrijk“, und dem googelte ich hinterher. Mit Erfolg.
Ich erfuhr Erstaunliches. Diese Kombüse gehörte zu den meist beschriebenen Lokalen Belgiens, jedes Medium hat darüber berichtet, und das über mehr als unglaubliche 40 Jahre hinweg; ich muss also bei meinem ersten Besuch Ende der 1970er kurz nach der Eröffnung dort gewesen sein. Stad Kortrijk und vor allem sein Betreiber René waren offenbar Attraktionen der ansonsten eher tristen Gemeinde.
„Stad Kortrijk was jarenlang de place to be in Oostende, een belevenis op zich met de exentrieke uitbater René“ „Stad Kortrijk war jahrelang 'the place to be', ein Erlebnis für sich mit dem exzentrischen Betreiber René“ kann man bei Tripadvisor lesen. Ich war hingerissen von der Geschichte des Ladens und las mich durch sämtliche erhaltenen Rezensionen im Internet. Daraus einige Stichworte, von mir übersetzt:
„Chef René ist wahrlich eine Kultfigur.“ „Die Hygiene war sehr fragwürdig, der Service daneben, der Chef unhöflich und hochmütig“. „Ein Restaurant auf seine Art, wo man einmal gewesen sein muss.“ „Knettergekke bediening (Verrückte Bedienung)“ „René verdient eine große goldene Medaille für alle die Jahre, in denen wir bei ihm so lecker gegessen haben“, „Ein Irrenhaus, aber superfrisch“, „Die Fischsuppe war lauwarmes Wasser ohne jeden Fischgeschmack“, „klebrige Fritten und sehr unfreundliche Bedienung...“, „Die Putzfrau scheint schon seit drei Jahren tot zu sein.“„Das Essen hätte ich nur angerührt, wenn ich bei der Gesundheitspolizei wäre.“
So geht es über viele Seiten, wobei die Bewertungen à la „ein gutes bürgerliches Restaurant mit ehrlicher, bezahlbarer Küche, gesellig und gemütlich“ deutlich überwiegen. Meine liebste Bewertung geht so: „Ich fragte nach Cola, um zu hören 'Cola ist schlecht', und dann bekam ich eine Limonade vor die Nase geschoben.“
Mal gute, mal weniger gute Tage, doch immer mit Herz
Man sieht, Baas René hatte mal gute, mal weniger gute Tage, doch immer mit Herz. Und wenn ich mir vorstelle, ich hätte so einen Laden auch nur eine Woche lang ganz alleine betreiben müssen, wäre ich wahrscheinlich aus der Stadt verjagt oder an die Seezungen verfüttert worden.
In den letzten Jahren muss sich noch einiges verändert haben. Neuere Bewertungen berichten von Aushilfen im Service, von Steaks, von Garnelen. Aber nie von unerwünschten, gesundheitlichen Folgen oder gar Restriktionen seitens der Behörden gegen het Renétje, stattdessen von allerlei Auszeichnungen in Form von Aufklebern und Urkunden.
René hatte irgendwann die Nase voll. Im Januar 2015 berichtet die belgische Zeitung Niewsblad über ihn. Er wolle eine Pause machen, 43 Jahre im Gastgewerbe seien eine lange Zeit, und er müsse sich mal erholen, vielleicht sei es nur ein Erholungsphase, vielleicht mache er in einigen Monaten wieder auf.
Das hat er sich dann wohl doch anders überlegt, aber nicht komplett anders. An Kundenkontakt scheint René Coolsaet weiter gelegen zu sein. Unter der gleichen Adresse in der Langestraat 119 in Ostende eröffnete er nach der Erholungsphase ein Weingeschäft. Es gibt weißen und roten und keine Cola.