Schon als Bub träumte Max Reinhardt davon, einmal in seinem Leben Wedekinds Lulu in der Salzburger Kollegienkirche zu inszenieren. Mit zwei Handpuppen namens Lauser und Kramperl übte er Tag um Tag für das großes Ziel, und selbst seine Oma Hilde, die er tief verehrte, konnte ihn nicht überreden, auch einmal etwas anderes zu tun; statt dessen musste sie manchmal die Titelrolle übernehmen.
Als dann, Jahrzehnte später, der große Tag tatsächlich gekommen war, fiel die Premiere in Folge einer Grippewelle fast ins Wasser, da die beiden Hauptdarsteller sich während der Proben gegenseitig angesteckt hatten. Hier erinnerte sich Reinhardt an Lauser und Kramperl, rasch schickte er den Küster der Kollegienkirche zu sich nach Hause, dieser holte die Handpuppen, und mit deren Hilfe rettete der Regisseur die Aufführung, die ein überwältigender Erfolg wurde und später in die Theatergeschichte einging.
Theater, Theater. Damals war die Welt der Bretter noch in Ordnung. Heute hingegen - es ist ein Graus. Seitdem der frühere Donald Trump zum King Lear-Jet aufgestiegen ist, überschlagen sich die Horrorszenerien auf der Weltbühne. Was der Mann an Schurkischem zu tun bereits ist, sprengt sämtliche Dimensionen. Selbst in Nordrhein-Westfalen, so hörte ich gestern, würde er Arbeitsplätze vernichten, dabei dürfte der Mann nicht einmal wissen, was NRW ist. Man ist ja schon in Sorge, ob er Deutschland von Dschibuti unterscheiden kann.
Helldeutsche Knallchargereien sind landesweit en vogue
Bei soviel Reality Show wollen klassische Musentempel natürlich nicht zurück stehen. Schließlich sehen sie das Geschäft mit Dramen und Komödien als ihre Kernkompetenz an. Martialischer, muslimischer Mode-Mummenschanz in Leipzig, Mordfantasien an der Berliner Schaubühne, ein ganzer Rund-um-Pegida-Themenspielplan in Dresden und ähnliche, hoch subventionierte, helldeutsche Knallchargereien sind landesweit en vogue; schließlich muss man sich als Künstler gegen alles positionieren, das man zuvor höchstselbst mit zu denen in die rechte Ecke gestellt hat, die dort wirklich hingehören.
Mein persönliches Verhältnis zum Theater ist klar definiert: Entbehrlich. Kann weg. Muss wirklich nicht. Gäbe es kein Theater, es würde mir kulturell an nichts fehlen. Im Gegenteil, ich und alle anderen Mitbürger hätten mehr. Pro verkaufter Theaterkarte 100 Euro mehr; so hoch wird jeder Platz staatlich subventioniert. Passionierte Theaterbesucher – vielleicht sind Sie selber einer – sehen das natürlich anders, von den Theaterschaffenden ganz zu schweigen, und ich will hier auch keine Debatte über Pro und Contra Subventionen lostreten. Diese wäre gerade jetzt, wo unsere politisch Unverantwortlichen für jeden Claqueur dankbar sind, ohnehin nicht zeitgemäß. Und da Theater sich durchaus aktiv und aus eigener Initiative an Einsparungen beteiligen, indem sie, wie die Semperoper oder das Stadttheater von Duisburg das Licht ausschalten, wenn Pegida vorbei marschiert (ob sie es auch bei Antifa-Aufläufen tun, entzieht sich leider meiner Kenntnis; da müsste ich jetzt raten), leisten sie durchaus lobenswerte, freiwillige Beiträge zur Energiekostensenkung.
Als Kind war auch ich ein begeisterter Theaterbesucher, und ich verpasste kaum eine Neuinszenierung am örtlichen Schängchen-Theater, einer traditionellen Stockpuppenbühne. „Schäng“ kommt von Jean, dem französischen Wort für Hans, das Schängchen entspricht also dem Kölner Hänneschen. Der Handlung war stets leicht zu folgen, das Personal war von Stück zu Stück weitgehend identisch, und man freute sich, wenn es dem preußischen Schutzmann an den Kragen ging. Auf das Schängchen folgten zwei, drei Jahre später die Weihnachtsmärchen im Stadttheater, denen ich stets ab Ende der Herbstferien entgegen fieberte. Mir gefiel besonders gut, dass die Zuschauer – so wie auch beim Schängchen – ihren Anteil am Geschehen beitragen konnten, ja sogar sollten. Manchmal wurde das Publikum von der Bühne her geradezu animiert, besonders laut oder besonders leise zu sein. Und welches Kind ließ sich, zumindest zu letzterem, nicht gerne anstiften?
Die perfekte Synthese: Billiger Rotwein und Sexkino
Etliche Jahre später. Ich war nun Oberprimaner, und das letzte halbe Schuljahr vor den Abiturprüfungen wollte einfach nicht vergehen. Es galt, der Langeweile zu entkommen, und so floh ich häufig das Klassenzimmer und schnürte gemeinsam mit einem Mitschüler (dessen Name ich verschweige, er macht heute was mit Natur und Achtsamkeit und Geistern) draußen in der Gegend herum. Manchmal saßen wir vor der Schule in seinem Auto und tranken billigen algerischen Rotwein aus dem Büdchen gegenüber, bis die übrigen Klassenkameraden aus dem Gebäude kamen und wir wussten: Schule für heute um. Manchmal gingen wir auch zu einem erfreulicher Weise nur wenige Minuten entfernten Kino, in dem bereits ab 11 Uhr morgens gewisse Filme gezeigt wurden. Nicht direkt Pornos, aber etwas in der Art. Der Eintritt kostete zwei Mark, und man konnte so lange sitzen bleiben, wie man wollte, umgeben von ähnlich verkrachten Existenzen, denen es weniger auf den Film als eher auf die Wärme und einen weichen Sitz ankam. Mehr als ein Dutzend Leute habe ich allerdings dort nie gesehen; das Lichtspieltheater war somit durchaus eine Art Arthouse.
Ob uns das auf Dauer geistig überforderte oder ob es daran lag, dass man uns einmal die perfekte Synthese - mit billigem algerischen Rotwein im Sexkino zu sitzen - an der Kasse verweigerte; ich weiß es nicht mehr, immerhin ist das mehr als ein halbes Leben her; jedenfalls war bald auch die cinephile Phase vorüber und man suchte nach neuer Zerstreuung. Was nicht einfach war, der Wirt einer Kneipe, in der man Kicker spielen konnte, ließ sich nicht erweichen, in der Woche früher aufzumachen. Da traf es sich, dass mein Brother in Crime von einer Theatermatinee erfuhr, die an einem der nächsten Tage stattfand. Warum also nicht das Niveau etwas steigern? Schließlich waren wir angehende Akademiker.
Wie das Kino stand das Stadttheater – und steht noch heute – nur wenige Gehminuten vom Gymnasium weg. Dass wir dort mit billigem algerischen Rotwein nicht wohl gelitten sein dürften, war uns klar, aber gegen eine Tüte frisch geröstete Erdnüsse, fanden wir, dürfte nichts sprechen. Derart ausgerüstet gingen wir am betreffenden Tag zum Theater, zahlten einen unbedeutenden Obolus und nahmen in dem nicht sehr vollen Haus Platz. Wer hatte auch um 11 Uhr in der Frühe Zeit, sich ins Theater zu setzen? Zudem ein Sexkino ganz in der Nähe lag?
Ich weiß nicht mehr, wie das Stück hieß, und auch der Autor ist mir nicht in Erinnerung. Die Geschichte spielt zur Zeit des Irischen Bürgerkriegs. Wir folgten dem recht unterhaltsamen, teil turbulenten Geschehen auf der Bühne, ab und an so geräuschlos wie möglich eine Erdnuss knabbernd. Wir waren uns einig: Theater gefiel uns, es schien eine durchaus diskutable Alternative zu dem manchmal etwas fischig duftenden Kino (in das übrigens später ein Aquarienhändler zog) zu sein, und die Sessel waren selbst auf den preiswerteren Rängen bequemer als selbst die Logen im Kino.
Die Schauspieler rollten sich vor Lachen durch die Szenerie
Es kam auf der Bühne eine hoch dramatische Szene. Ein IRA Mann ist auf der Flucht vor der Polizei und versteckt sich bei Freunden oder Verwandten in einem Haus. Das Bühnenbild ließ zugleich einen Blick auf das Äußere wie Innere des Hauses zu. Drinnen ein halbes Dutzend Menschen, von draußen nähert sich ein einzelner Polizist und will eintreten. Er weiß nichts von dem Gesuchten und möchte nur mal eben auf ein „Slàinte mhath!“ vorbei schauen. Der Gesuchte steht versteckt hinter der Türe, eine Axt in den Händen und bereit, den Ordnungshüter zu spalten. Die anderen Personen machen einen recht ratlosen, unentschlossenen Eindruck, stehen also unbeweglich herum.
Die Türe geht auf, der Polizist tritt herein, der Schurke hebt die Axt. Und in diesem Moment erinnerten sich mein Freund und ich zugleich an alle die schönen Aufführungen beim Schängchen und den Weihnachtsmärchen, und unisono schrien wir so laut es nur ging: „Vorsicht! Hinter dir!!!“
Die folgenden Minuten lassen sich in wenigen Worten zusammen fassen. Die Schauspieler auf der Bühne ließen Rollen Rollen sein und rollten sich vor Lachen durch die Szenerie; aus dem Publikum gab es eher gemischte Reaktionen. Es ging das Saallicht an, und eine Art Theaterwart näherte sich und forderte uns auf, den Saal umgehend zu verlassen. Wir waren traurig. Nun würden wir nicht erfahren, wie das Stück ausging, doch wir wagten nicht, Einspruch zu erheben; zudem schien sich inzwischen auch der Teil des Publikums, der vorher noch mitgelacht hatte, gegen uns zu wenden.
Also standen wir auf und drückten uns durch die Reihe Richtung Gang. Mein Freund, stets wohlerzogen und vielleicht auch ein wenig schuldbewusst, bot den Zuschauern, die wir dadurch belästigen mussten, im Vorbeigehen aus unserer Tüte Erdnüsse an, die aber nicht genommen wurden. Der Gendarm begleitete uns bis zum Ausgang und schickte uns noch deutlich mahnende Worte hinter her, die ich aber vergessen habe. Die letzten Wochen bis zu den Prüfungen verbrachten wir dann aus Trotz in der Schule.
Danach bin ich nur noch einmal im Theater gewesen, es wurde ein Stück von Robert Gernhardt, „Die Toscana-Therapie“, gegeben, und der persönlich anwesende Autor hatte zuvor in der Presse bekannt gegeben, er würde jedem Zuschauer anschließend ins Programmheft ein Tier nach Wunsch zeichnen. Was ich mir nicht zweimal sagen ließ. Da das gut 15 Jahre nach dem schmählichen Rauswurf stattfand, musste ich nicht befürchten, wiedererkannt zu werden, und zur Sicherheit hielt ich während der Aufführung die Klappe.
Ich war mal quasi Schutzpatron beim Filmfest in Braunschweig, da trug ich ins Gästebuch ein, was ich heute noch unfassbar gut finde: “Autorenkino. Regietheater. Befreiungstheologie. Alles genauso Quatsch wie mittelscharfer Senf.” (Harry Rowohlt)
Noch mehr zum Thema Geist, Genuss und Gelassenheit finden Sie wauf Archi W.Bechlenbergs Blog "Herrenzimmer"