Archi W. Bechlenberg / 14.05.2017 / 06:05 / 0 / Seite ausdrucken

Das Anti-Depressivum zum Sonntag: Haram oder hallihallo?

„Musik wird störend oft empfunden, zudem sie mit haram verbunden“ – wer kennt ihn nicht, den Hadîth von Sheikh Wilhakim Buschyeahyeah? Doch so eindeutig die Vorschrift dieses bärtigen Schriftgelehrten auch ist, so sehr kommt noch immer Verwirrung bei Gläubigen auf. Was dann zu Fragen wie dieser führt:

„Ich höre gerne musik aber jetzt habe ich gehört das es haram im islam ist. ich wolte auch als dj arbeiten später, weil ein bekannter damit viel geld verdient, kann einer eine antwort geben?“ Oder auch dieser: „Salam liebe Geschwister, wie ihr wisst ist Musik im Islam verboten aber meine frage wäre darf man während seiner Periode Musik hören oder ist das genau so verboten ? Ich meine während seiner Periode zählt man doch nicht als rein oder?“

Viele Fragen, viele Antworten. So lautet eine: „Es ist nicht haram, wenn es keine Musikinstrumente gibt, keine Frauenstimme und unnötiger Text.“ Eine andere sagt: „Wa Aleikum Salam, das Musik hören ist ausnahmslos verboten.“ Ganz konkret wird eine weitere Antwort: „Salam musik ist nach der sunnah des propbeten muhammad saaws haram er der imam sagte musik ist der leiter der unzucht und wer musik hört soll am tag der auferstehung heißes blei in seine ohrmuschel bekommen.“ Ebenfalls sehr eindringlich diese Warnung: „Das Haus, in dem Musik gespielt wird ist nicht sicher vor plötzlichen Katastrophen. Gebete an einem solchen Ort werden nicht beantwortet. Es wird keine Engel an diesem Ort geben.“ Was dann zu neuen, noch verwirrteren Fragen führt. „Musik ist ja haram, wenn jetzt in Youtube Videos Musik/Beats leise im Hintergrund läuft aber ich nicht beabsichtigte die Musik zu hören und nur das Video guck haram?“

Was kann ich doch von Glück sagen, dass mich weder die wirren Fantasien eines frühmittelalterlichen, arabischen Schafhirten, noch die Interpretationen seiner Exegeten interessieren, geschweige denn mein Verhalten direkt beeinflussen (indirekt ist wieder eine andere Geschichte). Und auch von sonst Niemandem, der etwas von unheiliger, unanständiger oder entarteter Musik faselt. Und davon sollen auch Sie, liebe Leser, profitieren, indem ich Ihnen heute einige neue Platten verschiedener Genres ans Ohr legen möchte.

Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin selber so einer

Zwei „neue“ Alben von Chet Baker sind in den letzten Monaten erschienen, beide fast 30 Jahre nach dem Tod des Trompeters, dessen tragisches Ende in Amsterdam sich am gestrigen 13. Mai zum 29. Mal jährte. Beide Alben sind Liveaufnahmen und gehören, das lässt sich besten Gewissens sagen, ganz und gar nicht in die üble Reihe von grauenhaften Veröffentlichungen, die aus obskuren Quellen kommend seit 1988 auf den Markt geworfen wurden; wohl wissend, dass es genug Fans des großen Jazzers gibt, die trotz besseren Wissens jeden Mist haben wollen, den Baker oder irgendein Mitschneider konservierten. Egal, in welcher Form der Musiker und der verwendete Kasettenrecorder bei der Aufnahme waren. Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin selber so einer.

At Uncle Pö's Carnegie Hall, Hamburg (1979) und Live in London (1983) sind feine Beispiele für Konzerte Chet Bakers, wenn er in Form war und der Aufnahmetechniker ebenfalls.  Live in London, das sind zwei CDs mit insgesamt 10 Stücken, die alle um die 10 Minuten dauern und viel Raum für Soli Bakers und seiner Mitmusiker bieten. Uncle Pö's bietet fünf Stücke, zwischen 13 und 28 Minuten lang, und vermittelt ebenfalls einen feinen Eindruck davon, was die Faszination des live spielenden Chet Bakers ausmachte. Zu den Mitmusikern gehören Phil Markowitz, Jean Louis Rassinfosse und Charlie Rice (Hamburg), sowie John Dankworth, John Horler und Tony Mann (London); großartige Leute, die Baker sensibel und ebenbürtig begleiten, zum Teil über Jahre hinweg. Beide Alben (Pö's auch auf Vinyl erhältlich) sind Jazzfreunden uneingeschränkt zu empfehlen.

An Alison Krauss' neuem Album Windy City scheiden sich derzeit die Geister. Countrymusik ist ja eigentlich nicht mein Ding, aber seitdem ich den wunderbaren Film  „O brother where art thou“ der Coenbrüder zum ersten Mal sah, kann ich manchem aus diesem Genre durchaus etwas abgewinnen. Vor allem Alison Krauss, die im Film eine der verführerischen Sirenen spielt.

Nach nunmehr 18 Jahren ist Windy City das erste neue Solo-Album der Instrumentalistin und Sängerin, und manchen Fans ihrer einmaligen Stimme ist die neue Platte zu glatt und zu traditionell. Wohl weil sie bis heute in der Bluegrass-Musik immer wieder neue Maßstäbe gesetzt hat, oft fern des Main Streams. Und dennoch gefällt mir Windy City.

Wer diese Art von Musik mag und sich an altbekannten Kompositionen wie Willie Nelsons „I Never Cared For You“ oder Glen Campbells „Gentle On My Mind“ erfreut, findet auf Windy City alles, was das Countryherz begehrt. Und wer Alison Krauss (bisher mit 27 Grammys ausgezeichnet, der nächste für Windy City dürfte bereits gebongt sein) noch gar nicht kennt, kann auf Youtube eine Menge beeindruckender Aufnahmen und Livemitschnitte entdecken. In Windy City rein zu hören lohnt allemal.  Neben der Standard-CD und einer LP-Version gibt es zudem eine „Deluxe-Edition“. Diese umfasst zusätzlich zu den Albumtracks sieben spannende Liveversionen, darunter auch ein Duett mit dem Countrysänger Jamey Johnson.

Auch im islamischen Raum ist Musik nicht generell haram

Dass Musik auch im Islamischen Raum durchaus nicht generell als haram angesehen wird, beweist das neue Album der weltweit hoch geschätzten Gruppe Quadro Nuevo. Denn diese Platte deutet nicht nur durch ihren Titel Flying Carpet in Richtung Orient; sie wurde teilweise auch in Kairo mit arabischen und ägyptischen Musikern der Sufi-Band Cairo Steps eingespielt. Quadro Nuevo, „die europäische Antwort auf den Argentinischen Tango“ ist seit über zwanzig Jahren aktiv, gab bis heute über 3000 Konzerte auf allen Kontinenten  und hat längst die ursprünglichen, lateinamerikanischen, musikalischen Wurzeln überwunden. Das ideale Reisegefährt für die genreübergreifende Musik von Quadro Nuevo ist, so sagt es das neue Album Flying Carpet schon im Titel, der Fliegende Teppich.

Getrieben zwischen östlichen und westlichen Winden schwebt er  durch schillernde Klanglandschaften, die vom Alten Europa über den Balkan, das kaukasische Gebirge und mediterran-glitzernde Inselwelten bis in den Orient reichen. Es gibt riskante improvisatorische Höhenflüge und elegisch-mystische Passagen, und manchmal klingen Tango-Rhythmen auf, die von abenteuerlichen Tagen im fernen Argentinien erzählen. Der fliegende Teppich trägt über die Grenzen von Kulturen, Regionen und Ideologien.

Ist die Fantasie und Spielfreude von Evelyn Huber (Harfe, Salterio), Mulo Francel (Saxophone, Klarinetten, Mandoline), D.D. Lowka (Kontrabass, Percussion) und Andreas Hinterseher (Akkordeon, Vibrandoneon, Bandoneon) auch für sich alleine schon Garant für virtuose wie mitreißende Musik (Alben der Quadro Nuevo wurden unter anderem mit zwei Echos sowie zahlreichen weiteren Preisen und Auszeichnungen bedacht), so werden die vier Instrumentalisten auf Flying Carpet zusätzlich von der Sufi-Band Cairo Steps sowie weiteren musikalischen Gästen aus Ägypten und dem östlichen Mittelmeerraum begleitet. Eine wunderbare Mischung, die wie ein köstliches Gericht aus bekannten und unbekannten Gewürzen duftet und mundet und die eindrucksvoll zeigt, dass Musik ganz und gar nicht haram ist. Ohne Musik ist die Welt nun einmal – so formulierte es Friedrich Nietzsche – ein Irrtum, und wer etwas anderes erzählt, kann nicht ernst genommen werden. Jedenfalls nicht als geistige Autorität. So jemand ist eine soziale und kulturelle Bedrohung.

Nächste Woche widmen wir uns dann der Frage Ist es Haram , wenn man tätowierte Augenbrauen hat?“

Links:

Website von Quadro Nuevo

Quadro Nuevo und Cairo Steps

Making of Flying Carpet

Cairo Steps spielen die Gnossienne von Erik Satie live at Cairo Opera House 

Haram oder nicht? Seltsame Fragen und Antwortem

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