Endlich. September! Für einen passionierten Vollzeit-Misanthropen wie mich beginnt nun endlich die lebenswerte Zeit der Monate mit R. Keine erwachsenen Männer mit kurzen Hosen mehr in der Öffentlichkeit, keine Kalorien und Kohlehydrate verstoffwechselnden Menschen vor den Eiscafés und deutlich weniger Radfahrer neben den Fahrradwegen. Auch keine Cabrios mehr, in denen erwachsene Männer nebst Begleiterin – beide in kurzen Hosen – Eis schleckend flanieren und von Radfahrern überholt werden.
Das Kindergeschrei aus den Häusern in meiner Nachbarschaft ist weitgehend verstummt, da Schulen und Tagesstätten ihren Betrieb wieder aufgenommen haben und die Trabanten zumindest den großen Teil des Tages anderswo an Nerven zerren. Die Temperaturen sind heute auf lebenswerte 16 Grad gefallen, und da es nicht regnet, sitze ich mit T-Shirt und kurzer Hose im Garten, trinke einen Verdauungstee und tippe das hier. Übrigens ist auf den Tag in vier Monaten Neujahr.
Der September ist ein wenig geehrter Monat, ganz anders als die Mehrzahl seiner elf Kollegen. Man denke an den Mai, ein Monat, in dem es im vieljährigen Mittel deutlich mehr regnet als im September (besonders krass die Differenz 2016, da fielen im September gerade einmal 40 Liter pro Quadratmeter, gegenüber 55 im Mai.). Dennoch wird der Mai geradezu penetrant besungen, gefeiert und verherrlicht.
Schädliches Ungeziefer wie der Maikäfer wird zum niedlichen Nasenkneifer hochstilisiert und Ansätze einer erfolgreichen Ausrottung weden in Klageliedern verteufelt („Es gibt keine Maikäfer mehr“, „Karl der Käfer“ ...) Es gibt eine Maikönigin und einen Maibaum, und die Donaldisten absolvieren ihr so jährlich wie möglich abgehaltenes Mairennen im gleichnamigen Monat. Wieso nichts davon im September? Was spräche gegen eine Septemberkönigin? Einen Septemberbaum? Ein Septemberrennen? Warum nicht eine Septemberhochzeit? Meinetwegen könnte auch ein Septemberkäfer die ohnehin schon erschlaffenden Blätter und Blüten im Garten anknabbern.
Am Wetter alleine kann es nicht liegen, der September gehört immerhin zum größten Teil seiner Tage zur sommerlichen Jahreszeit (ganz im Gegensatz zum Mai) und bietet somit Wärme und Sonne in ausreichender Menge. Die Chance auf eine komplett verregnete Fahrt im Cabrio von der Kirche bis zum Hochzeitsessen ist im Mai deutlich größer als im September. Die Maienverehrung entbehrt im Grunde jeglicher Rationalität. Das Wetter ist schäbig, und im Obst- und Gemüseregal liegen überwiegend Produkte ausländischer Produktion, da Apfel, Birne und Pflaume sich hüten, im Mai zu reifen. Damit nicht genug – sogar Monate mit noch mieserer Wetterlage als der des Mai werden von Lyrikern geradezu inflationär besungen.
Warum wird der September nicht gefeiert?
Denken Sie an Rilkes Herbsttag. „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.“ Und „...jage die letzte Süße in den schweren Wein.“ Herbst? Da schaut doch einzig der blanke November aus jeder Silbe, kein Ton von mildem September und goldenem Oktober! Ausgerechnet der November, in dem man ohne Termin eine Stunde und mehr beim Händler auf die Winterreifen warten muss, wird besungen; ein Haus zu errichten dürfte im September hingegen kaum einen Bauherrn vor größere Aufgaben stellen. Warum wird das nicht gefeiert? „Wer jetzt kein Haus hat, baut sich rasch noch eins. Sonst hat er im November nämlich keins.“ Und die „letzte Süße in den Wein“ – warum besingt der Dichter nicht die zuverlässige Septembersonne, die mit der vorletzten Süße überhaupt erst die Voraussetzung dafür geschaffen hat, dass der novemberliche Nachtfrost noch ein paar Öchslegrade zusätzlich anleiert? Mit ein wenig gutem Willen und positivem Denken wäre das auch für Rilke und Heine eine durchaus reimbare Aufgabe gewesen: „Erst scheint im September lieblich die Sonne / dann frier'n im November die Trauben voll Wonne.“ Nur mal so als Beispiel, postum auch den Herren Fontane, Morgenstern, Overbeck oder von Brentano hundert Mal an die Tafel geschrieben.
Warum muss es heißen:
Komm, lieber Mai, und mache
Die Bäume wieder grün,
Und lass uns an dem Bache
Die kleinen Veilchen blüh'n!
Anstatt:
Komm lieber September,
und mach die Blätter bunt
bald kommt schon der November
dann möchte raus kein Hund.
Wenigstens Eduard Mörike, immer für eine erfreuliche Überraschung gut, hat verdienstvoller Weise auch den September besungen:
Im Nebel ruhet noch die Welt,
Noch träumen Wald und Wiesen:
Bald siehst du, wenn der Schleier fällt,
Den blauen Himmel unverstellt,
Herbstkräftig die gedämpfte Welt
In warmem Golde fließen.
Doch verlassen wir die Welt der Poesie und widmen uns dem Hier und Heute. Der September hat dem Menschen unsere Zeit so viel Schönes zu bieten. Da wäre der europaweite Tag des Offenen Denkmals, an dem man Gebäude besuchen kann, die ansonsten der Öffentlichkeit verschlossen bleiben und eh keinen interessieren. Der Tag ist in diesem Jahr in Deutschland am 10. September und ermöglicht Einblicke in mehr als 7500 Monumente und Gebäude. Sogar Würselen hat an dem Tag etwas zu bieten, wenn auch nicht die Buchhandlung, in der Martin Schulz einst seine ersten zaghaften Schritte in Richtung Europa tat. Zwei Kirchen laden ebendort ein, sich davon zu überzeugen, dass bei der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung („Eine spezifisch deutsche Kultur [...] jenseits der Sprache ist schlicht nicht identifizierbar“) eine Kompetenz in deutscher Geschichte nicht identifizierbar ist. Das volle deutschland- und europaweite Programm des Tages finden Sie hier. Das übergreifende Motto lautet in diesem Jahr Macht und Pracht und fasst somit knapp und prägnant die bundesdeutsche Vergangenheit bis etwa 2015 zusammen. Für das kommende Jahr werden gerne Vorschläge angenommen.
Ein Blick ins Schminkzimmer von Emanuel Macron
Alle 50 Länder Europas nehmen am septemberlichen Denkmaltag teil. So kann man im Schweizer Prattel „die in den letzten Jahren erstellten Hochhäuser im Gebiet des Bahnhofs“ besichtigen. In Frankreich stehen eine Woche später sonst streng verschlossene und bewachte Türen offen, so auch die des Elysée Palastes. Ein Ereignis, dass man sich nicht entgehen lassen sollte, sofern man an einem Blick ins Schminkzimmer von Emanuel Macron interessiert ist. Und wer wäre das nicht?
Alle weiteren Informationen über den Tag des Offenen Denkmals in Frankreich finden Sie auf einer Website, die auch in deutscher Sprache zu informieren weiß, hier und dort ein wenig ungeschickt übersetzt – so heißt dort das Plakat („l'affiche“) in der deutschen Version „Der Anschlag“; auch können Sie Informationen über „Anschläge“ herunterladen. Ich hoffe, dass das weder vorher noch während noch nachher nötig sein wird. Dass der Navigationsbutton „Menu“ mit „Speisekarte“ übersetzt wurde, dürfte hingegen niemanden wundern, wir sind schließlich auf einer französischen Seite. Bon appétit!
Wer kennt die Ereignisse, nennt die Namen – so vieles von weltbewegender Bedeutung hat sich in einem September ereignet und wurde schmählich vergessen, da es nicht in einem Januar, März, Mai oder wenigstens im August geschah. Cetshwayo kaMpande wird letzter souveräner König der Zulu, Martha, das letzte lebende Exemplar der Wandertaube, stirbt im Zoo von Cincinnati, die erste Sendung von Der große Preis mit Wim Thoelke wird ausgestrahlt, Jack Kilby präsentiert den ersten Flipflop sowie die erste Folge der Fernsehserie Bonanza, Owain Glyndŵr brennt die nordwalisische Stadt Ruthin weitgehend nieder, und ein bis dahin nur als Leichtmatrose bekannter Kapitän Knut Matthiesen... aber das ist eine andere Geschichte.
Erfreulicher Weise haben sich zumindest einige wenige Musiker des Septembers angenommen. Was sie dazu getrieben hat, man weiß es mal und mal nicht. Den Älteren unter uns beginnt gewiss der Zeh zu zucken bei diesen Worten:
Ba de ya, say do you remember
Ba de ya, dancing in September
Ba de ya, never was a cloudy day
Sagenhafte 126.418.908 Aufrufe bei Youtube kann September von der bis heute weltweit gefeierten Combo Earth, Wind & Fire vorweisen, und das nicht zu Unrecht; der nunmehr 40 Jahre alte Song besitzt noch immer alles, was einen großartigen Pophit ausmacht. Und da die Kastratenstimme von Sänger Philip Bailey noch immer mächtig grooved, sei an einen weiteren Hit der bis heute aktiven Soul- und Funk-Band erinnert, Boogy Wonderland.
Woody Allen hält September Song für das Beste überhaupt
Von gänzlich anderer musikalischer Stimmung ist September vom britischen Sänger, Musiker und Poeten David Sylvian, nur 1:16 Minuten lang und doch so eindringlich und unauslöschlich wie weniges, das jemals von modernen Komponisten geschrieben und interpretiert wurde. Wenn ich im Leben nur eine einzige musikalische Empfehlung abgeben dürfte, wäre es diese: kaufen Sie David Sylvians Album Secret Of Behieve (1987), auf dem September und, ohne die Sekunden lange Pause bei Youtube dazwischen, When Poets Dream of Angels zu hören sind. Kommentar eines Hörers bei Youtube: „Timeless perfection. David Sylvian stepped into my psyche 30 years ago and never left."
Ganz und gar außer Konkurrenz (mehr kann und will ich dazu nicht sagen, außer: „Schande über mich!“, da ich sie gerade erst entdeckt habe und noch sprachlos bin): Agnes Obel – September Song.
Eine vierte, dem September gewidmete Komposition darf auf keinen Fall fehlen: der September Song von Kurt Weill (Musik) und Maxwell Anderson (Text). Er wurde vor 80 Jahren für ein längst vergessenes Musical geschrieben und entwickelte sich schnell zum Evergreen und unverzichtbaren Bestandteil des Great American Songbooks. Wer den September Song seither interpretiert hat, kann – ganz sicher nicht vollständig – bei Wikipedia nachgelesen werden, ich habe Ihnen einige recht unterschiedliche Aufnahmen zusammen gestellt, die eindrucksvoll zeigen, welches Potenzial in einer genialen Komposition steckt. Woody Allen hält September Song für den besten amerikanischen Popsong, der je geschrieben worden sei. Und der Mann hat Ahnung von Musik.
Zurück ins Hier und Jetzt. Der September 2017 bietet leider wenig weltbewegendes. Heute am 3.September duellieren sich Merkel und Schulz mit Wattebällchen, und am 24. sollen weitere vier Jahre Richtung Tausendjährige Kanzlerinnenschaft angetreten werden, woraus aber nichts wird, da am 23. die Welt untergeht. Die Sterne stehen dann so, wie sie nur am 23. September 2017 stehen, und das verheißt nichts Gutes. Oder vielleicht doch, denn immerhin können Sie dann am Wahltag zu Hause bleiben, und die Kanzlerin wird ganz schön dumm aus der Wäsche gucken. Sie fragen mich, woher ich das weiß? Ich sage es Ihnen – ziehen Sie eine absolut dichte Gummihose an und folgen diesem Link.
Falls Sie danach noch ansprechbar sein sollten (was ich ernsthaft bezweifle): „Das Engel-Monatsorakel für September 2017“ hat weitere spektakuläre Offenbarungen parat. Sie sind immer noch aufnahmefähig? Im Ernst? Alltäglicher, gelebter Wahnsinn kann Sie schon seit dem September 2015 nicht mehr schocken? Respekt. Dann rasch zum „Liebesorakel September 2017 für Dualseelen, Zwillingsflammen und Seelengefährten“ und lassen Sie sich den Rest geben. Alles wird. Irgendwie. Schönen Sonntag noch.
September Song bei Wikipedia
Walter Huston – September Song (das Original von 1938)
Dean Martin – September Song
Willie Nelson – September Song
Lotte Lenya – September Song
Jimmy Durante – September Song
Django Reinhardt – September Song
Sarah Vaughan – September Song
Frank Sinatra – September Song
Ella Fitzgerald – September Song
Earth, Wind & Fire – Boogie Wonderland
Earth, Wind & Fire – September
David Sylvian: September (und When Poets dream of Angels im Anschluss)
European Heritage Days international
Journees du patrimoine (deutsche Version)
Tag des offenen Denkmals