Inquisitoren, Pranger und Scheiterhaufen in Deutschland, es ist kein Kulturkampf, es ist brutale Zerstörung fragil gewordener Zivilisation. Zum Verzweifeln.
Vielen Dank, Herr Etscheit, für Ihre kluge und differenzierte Würdigung der 7. Sinfonie des genialen russischen Komponisten Schostakowitsch! Ihr Plädoyer für eine ideologiefreie, politische Tageserwägungen hinter sich lassende Rezeption dieser Musik ist angesichts der wohlfeilen Verdammung russischer Kultur, die gerade allenthalben praktiziert wird, überfällig; man darf hoffen, daß es einige Leute zumindest nachdenklich machen wird.
Mit auf die schwarze Liste Elton John “your Song” life in Moskau und Billy Joel “Leningrad”. Aus Protest gegen diesen Zensurkult sollte diese beiden Songs im Radio rauf und runter laufen.
Musik ist frei. Sie ist eine Kunst, die jeden Zuhörer einlädt, sich auf sie einzulassen und in jedem Werk zu hören, was ihn bewegt, und zu finden, was er sucht. Wer die Alpensymphonie hört, wird möglicherweise wissen, dass Strauss damit seine Gebirgseindrücke umsetzen wollte. Na gut! Aber nichts hält den Hörer davon ab, bei den mehr oder minder alpinen Klängen an eine Nacht auf dem kahlen Berge zu denken oder an die Ferne Geliebte. Programm-Musik, die keine andere Deutung zulässt als die ihr zugedachte, ist immer ein bißchen peinlich: Ouvertüre 1812! Großes Bumm-Bumm. Und sonst? Schöne Zarenhymne! So simpel ist die VII. (von Schostakowitsch) nicht, und deshalb bleibt es völlig wurscht, ob Schostakowitsch an die Wehrmacht gedacht hat oder an Stalin oder an den Klimawandel. Übrigens: Darf man noch Gogol lesen? Der arme Kerl war Ukrainer, fühlte sich als Russe und hungerte sich zu Tode. Frage für einen Freund.
D, Ss, 7. Sinfonie gehört - neben der 2, 3, 11.und 12. zu den schwächsten seiner 15 Sinfonien (was auch Chrennikow wusste. Bartok und Strawinsky - gewiss nicht um ihren Ruf bangend, und beide in D als “entartete Künstler” gebranntmarkt - kritisierten es als billig gemachtes Tableau. Bartok komponierte sogar eine bissige Parodie auf das Leharthema (“Konzert für Orchester”: IV: Intermezzo interrotto). Die “Fünfte” übrigens ist zwar die “Antwort eines Künstlers auf eine berechtigte Kritik” [an gewissen Szenen aus “Lady Macbeth” und der damit verbundenen allgemeinen Kritik am bürgerlichen “Formalismus”], sie ist aber in Wirklichkeit eine ätzende Parodie auf die platten Versatzstücke des “Sozialistischen Realismus” in den Kompositionen seiner Kollegen (u.a. Mjaskowski, Glière, Knipper). Dies lässt sich bis in die satztechnischen Details und dem triumphierenden “Über-Dur” (Wolgang Rihm) des Finales verfolgen. Man täte im deutschen Musikbetrieb sehr gut daran, reichlich Schostakowitsch zu spielen, etwa die - nach der 7. (Leningrad) - zweite “Kriegssinfonie”, die künstleisch wesentlich anspruchsvollere und geistig wesentlich profundere 8. Sinfonie c-Moll Op. 65. Für Kenner mit einem über das Expertentum der deutschen Musikfeuilletons weit hinausgehenden Auffassungsvermögen wäre die Sinfonie Nr. 14 Op. 135 zu empfehlen. Für beide Sinfonien gibt es Aufnahmen mit Gergejew. Historisches: 1916 erfolgte ein Aufruf zum Boykott von Komponisten der Mittelmächte, den Debussy und Saint Saens unterschrieben, nicht aber Ravel! Elgar wurde zur selben Zeit als “Hunnenknecht” beschimpft, weil er Strauss und Wagner aufführen wollte. Der Verlag Eugen Diedrichs in Jena musste fast Konkurs anmelden, weil die Werke Bergsons, die vor 1914 in D Bestseller gewesen waren, boykottiert wurden. Bergson selbst wurde aufs Übelste niedergemacht, so dass sich bedeutende Wissenschaftler (u. A. Wilhelm Wundt) - trotz erhebliche wissenschftlicher Differenzen -zum Eigreifen gezwungen sahen.
Ausgerechnet angesichts von Mariupol (Leningrad des 21.Jh.) wäre die Aufführung der 7. von Schostakowitsch gerade jetzt am besten geeignet. Die Vertreibung von Gergiew und Netrebko ist alerdings korrekt. Ihre Schuld ist nicht, dass sie Russen sind (die beiden sind übrigens KEINE ethnischen Russen!), sondern ihre eifrige Teilnahme in Propagandaveranstaltungen des Massenmörders. Sehr begabt sind sie schon - wie auch Leni Riefenstahl sehr begabt war.
Ich verstehe die Musiker des Münchner Orchesters nicht. Sie hätten auf das erste Zeichen von (OB) Reiter sofort erklären müssen, daß sie ohne Gergiev nicht spielen werden, solange dessen Vertrag gelte. Kein Dirigent hätte sich als Schufterle zum “Einspringen” hergeben dürfen. Wenn ein Dirigent das Stück nicht parat hat, dann zählt anscheinend die Arbeit der Musiker, die diese Sinfonie sehr wohl erarbeitet haben, nichts. Das ist “Führerprinzip”: ein Bürgermeister (noch kleiner als es Montgomery für das BVerfGericht festlegte) bestimmt, wer ein bis hierher durchaus bedeutendes Orchester leiten darf, und ein Dirigent bestimmt, ob die Musiker die exorbitante Arbeit der Einstudierung eines 90-Minuten-Werks, vergeblich - und letztlich auch umsonst - auf sich genommen haben. (Im Bereich der Wissenschaften geht es genauso totalitär zu, im Bereich der Literatur…). Die Demokratie war ein hübscher Traum, den immerhin reichlich siebzig Jahre träumen zu dürfen, mir vergönnt war.
@Harald Unger - Was stimmt bei Ihnen nicht? Ihre Moraltirade ist deplatziert. Und ja, ohne Putin würden Sie ewig leben und die Rente wäre schön verdoppelt worden.
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