Identitätspolitik ist sehr modern und sehr kompliziert. Wer hat sie erfunden? Welche Fortschritte gab es? Was geht gar nicht mehr? Hier die Antworten. Bis auf eine.
Identitätspolitik ist eine wichtige Sache, das ist bekannt. Bestimmt denken Sie jetzt: „Genau! Niemand darf wegen seiner Identität diskriminiert werden!“ Ein korrekter Standpunkt, fanden auch die Innenminister der Bundesländer. Deshalb wollten sie 2018 per Gesetz eine spezielle „Strafbarkeitslücke“ schließen. Daraus wurde allerdings nichts, denn Katarina Barley, damals SPD-Justizministerin im Bund und „erfrischend politisch“, blockierte die Initiative.
Die erfrischend praktische Folge: Wenn Toni A. aus Bayern als „Ronny B.“ aus Sachsen Hartz IV bezieht, ist das Sozialbetrug und führt zu einem mittelschweren Problem mit der deutschen Justiz. Wenn sich hingegen der kreativ zugewanderte Ali C. aus Marokko im Asylverfahren als „Mohammed D.“ aus Syrien ausgibt, bleibt er ungestraft. Nebenbei erfreut sich Ali weiterhin staatlicher Vollversorgung.
Wir haben es also mit einem klassischen Fall von Diskriminierung zu tun. Toni A. wird gegenüber Ali C. wegen seiner Identität benachteiligt. Genau dagegen hilft Identitätspolitik. Die ist sehr modern und sehr kompliziert. Damit wir on the same page sind, fasse ich kurz den Stand der Dinge für Sie zusammen.
„Aber du hast keine Mumu!“
Erfunden wurde die Identitätspolitik vor über 40 Jahren in Boston von einer Gruppe, die sich „Combahee River Collective“ nannte. Das Kollektiv fühlte sich ungerecht behandelt, was leicht nachvollziehbar ist. Im konkreten Fall hatte das Schicksal gleich dreifach die Arschkarte ausgeteilt. Jedes Mitglied der Gruppe war weiblich, schwarz und lesbisch – ein Zustand, der sich am besten mit einem Diktum des Philosophen Jürgen „Kobra“ Wegmann beschreiben lässt: „Zuerst hatten wir kein Glück, und dann kam auch noch Pech dazu.“
Die Damen aus Boston hatten daher ein legitimes Anliegen, nämlich den Kampf gegen die Diskriminierung von Minderheiten. Als Waffe dachten sie sich, wie gesagt, die Identitätspolitik aus. Wikipedia: „Identitätspolitik sei, so heißt es im Manifest des Kollektivs vom April 1977, das beste Mittel, um gegen ,rassische, sexuelle, heterosexuelle und Klassenunterdrückung‘ und deren vielfache Überlagerungen anzukämpfen.“
Der nächste Meilenstein folgte zwei Jahre darauf. Britische Aktivisten schufen eines der bedeutendsten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte und schärften weltweit das Bewusstsein für die Wurzel allen Übels, nämlich Machtanspruch und Verweigerungshaltung des Patriarchats. Eine der Schlüsselaussagen (hier): „Ich unterdrücke dich überhaupt nicht, Stan, aber du hast keine Mumu!“
Heute ist die Welt eine bessere
Inspiriert vom Erfolg der Briten, schlossen sich nur wenige Monate später Deutsche der Bewegung an – der dritte Meilenstein der Identitätspolitik. „Menschen ganz verschiedener politischer Richtungen“ gründeten 1980 eine Partei. Bei der Namensfindung („Die Grünen“) zeigte man sich weniger kreativ als Amis und Tommys. Auch die Wahl der Outfits blieb zweifelhaft. Dafür war man bei Organisation und Umsetzung stärker. Deutsche halt.
Anschließend schritt der gesellschaftliche Fortschritt gesellschaftlich fort. Heute, nur vier Dekaden später, ist die Welt eine bessere. Alte Hetzschriften sind bereinigt, auf Jungmenschen zielende Indoktrinationsfilme („Dumbo“, „Dschungelbuch“) dürfen (mit Warnhinweisen) nur noch Erwachsene betrachten, und Kinder sind angehalten, sich im Karneval nicht mehr als Indianer oder Scheich an fremdem Kulturgut zu vergehen. Sahnehäubchen: Sogar im Duden wurden Frauen endlich sichtbar („Menschin“, „Gästin“).
Außerdem können heute Menschen mit normalem Haar guten Gewissens ihr normales Haar normal waschen, weil Shampoo „für normales Haar“ nicht mehr Shampoo „für normales Haar“ heißt und damit die „Diskriminierung in der Beauty-Branche“ ein Ende hat. Die Lösung für dieses Jahrhundertproblem fand ein global agierender Verbrauchsgüterkonzern namens Unilever. Was einzig noch aussteht: die Umbenennung in Multilever. Oder Diversilever.
Als ich das hörte, habe ich geweint
All das und noch viel mehr geschieht, weil sich jemand in seiner Identität verletzt, ausgegrenzt oder benachteiligt fühlen könnte. Deshalb tut Aufklärung not. Mir war zum Beispiel nicht klar, in welchem Umfang fettiges Haar oder Spliss identitätsstiftend wirkt. In solchen Momenten wird deutlich, wie stumpf und respektlos man durchs Leben stolpert, wenn kulturelle Sensibilität nicht ausreichend vermittelt wird.
Auch wusste ich nicht, dass sich täglich unzählige Bedürfnisverspürende einnässen, weil sie an der Frage verzweifeln, ob Damen- oder Herrenklo für sie die richtige Wahl ist. Gut, dass rot-rot-grüne Politiker für die Gefühle der Mitmenschen empfindsamer sind als ich. Als erste Amtshandlung führte die Berliner Landesregierung 2017 daher zusätzliche „Toiletten für alle Geschlechter“ ein. Eine Beschwernis weniger in dieser kalten, unwirtlichen Welt.
Auch der US-Präsident erkannte, dass Identitätspolitik Chefsache ist. Kaum im Job, unterzeichnete Joe Biden ein Dekret, das feminin fühlenden männlichen Schülern erlaubt, beim Sport die Mädchenumkleide zu nutzen. Ich sag’s Ihnen ganz offen: Als ich davon hörte, habe ich geweint. Wenn es so viel Fortschritt zu meiner Schulzeit gegeben hätte … wir Jungs wären umgehend und ohne Ausnahme ins andere Lager übergelaufen.
Ich folge der Wissenschaft
Progressivität bedeutet Wandel, Wandel erfordert Anpassung, und Anpassung ist nicht jederdings Sache. Kennt man von der Evolution. Die zum Untergang Verurteilten weigern sich, in Würde abzutreten. Im Wahn, das Unabänderliche aufhalten zu können, erfinden die Abgehängten immer neue „Argumente“.
Sie behaupten, Identitätspolitik „spalte“ die Gesellschaft. Es handle sich um ein „Machtinstrument“, das von „Linken“ gezielt eingesetzt werde, um die natürliche Ordnung der Dinge (die Herrschaft alter weißer Männer) umzustürzen. Überhaupt gehe es nur um „erfundene Lösungen für erfundene Probleme“. Und schließlich sei Identitätspolitik nichts anderes als eine „Jobmaschine für gescheiterte Existenzen“.
Das ist natürlich Unsinn. Als aufgeklärter, rational orientierter Mensch folge ich der Wissenschaft, und deren Erkenntnisse lassen keine Zweifel. Mehr als zweihundert Genderprofessuren in Deutschland entdecken quasi täglich neue Geschlechter, die es zu schützen gilt. Hinzu kommen Myriaden von Gleichstellungsbeauftragten, Antidiskriminierungsstellen und Diversity-Büros. Erst durch die Arbeit dieser Unermüdlichen wurde deutlich, dass „Mehrheit“ eine Fiktion ist. Im Grunde besteht die ganze Gesellschaft aus Minderheiten.
Rassistische Kekse
Für alle, die noch zweifeln, eine einfache Frage: Wer oder was hätte den rassistischen Keksen von Bahlsen das Handwerk legen können, wenn nicht die Identitätspolitik? Eben. Und die Entwicklung geht weiter. Nach den Plänen der Koalition wird wohl bald Geschlechterwechsel ab 14 möglich sein – sogar ohne das Einverständnis bornierter Eltern.
Trotz aller unbestreitbaren Fortschritte bleibt eine Menge zu tun, wie das eingangs erwähnte Beispiel von Toni und Ali beweist. Auch eine freie Identitätswahl zwischen schwarz und weiß stößt selbst in progressiven Kreisen noch auf Widerstand. Dabei wäre das eine elegante Lösung: Rassismus hätte sich auf einen Schlag erledigt.
Ewiggestrige hingegen meinen sogar, das Rad um 40 Jahre zurückdrehen zu können. Gerade erst zeigte die AfD wieder ihre hässliche Fratze in Gestalt von Beatrix von Storch. Die sprach einer Grünen-Abgeordneten namens Ganserer das Existenzrecht als Frau ab. Und das bloß, weil Ganserer einen Pipimann hat und in ihrem Personalausweis „Markus“ statt „Tessa“ steht.
Mumu-Imperialismus?
Von Storch ist beileibe nicht die einzige Verräterin an der Sache ihrer Schwestern. Identitätsleugner wie Birgit Kelle und die Gründerinnen von „Geschlecht zählt“ teilen die menschenverachtenden Ansichten der AfD-Frau. Sogar in meinem unmittelbaren Umfeld besteht noch Aufklärungsbedarf. Als die (eigentlich) beste kleine Frau von allen die Causa Tessa wahrnahm, entfuhr ihr spontan: „Das ist doch verrückt! Kinder dürfen im Karneval nicht mehr als Indianer gehen, aber ein Mann darf sich das ganze Jahr als Frau verkleiden.“
Die anschließende Unterweisung in Kultursensibilität brachte mich allerdings selbst ins Grübeln. Man will ja nichts verkehrt machen. Wissen Sie etwa, ob Avocados und Quitten sich eher als Obst oder als Gemüseverorten? Mein konkretes Problem: Wir sind zu einer Karnevalsparty mit Verkleidungsaufforderung eingeladen. Mangels ausreichender Vorbereitung und ohne Pilotenanzug oder Ganzkörper-Känguruhkostüm im Keller denke ich über eine geschmeidige Notlösung nach. Ich könnte – von der Gattin fein geschminkt – als Frau auflaufen.
Die Frage, die mich umtreibt: Wie wäre ein solcher Auftritt identitätspolitisch korrekt einzuordnen? Unzulässiges Bedienen von Stereotypen durch Fake-Brüste? Feminitätsdiebstahl? Fraufacing? Mumu-Imperialismus? Oder #SolidaritätMitTessa?