Vor 35 Jahren erreichten uns von der geöffneten Mauer in Berlin und der innerdeutschen Grenze herzbewegende Bilder. Die Deutschen erteilten der Politik eine Lektion in Sachen Mut, Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft, nicht umgekehrt. Unsere Autorin sagt ein längst überfälliges „Danke“.
„Was ist Glück? Die Freude in den Gesichtern der Menschen zu sehen.“
Wystan Hugh Auden (1907–1973, englischer Autor)
Heute ist für uns Deutsche ein besonderer Tag. Vor 35 Jahren erreichten uns kurz vor Mitternacht von der Berliner Mauer und in der Folgezeit auch von vielen Orten entlang der bis dahin ebenso hermetisch wie die Mauer abgeriegelten innerdeutschen Grenze eine Fülle unvergesslicher Bilder, welche die Welt so nie zuvor gesehen hatte.
Die Tageszeitung DIE WELT hatte in den Novembertagen des Jahres 1989 ein glückliches Händchen, als sie obiges Zitat zum „Wort des Tages“ erhob. Besser konnte man die bewegenden Bilder nicht beschreiben, die uns von unseren Landsleuten bereitet wurden. Die lange vermisste, plötzlich neu gewonnene Freiheit führte zu Bildern unfassbaren Glücks, unsagbarer Freude, tiefer Dankbarkeit und ganz viel Anteilnahme, die die Deutschen einander entgegenbrachten. Mir treiben diese Bilder noch heute Tränen in die Augen.
Die Deutschen feierten ihr Wiedersehen nach langer, erzwungener Trennung derart angemessen, wie es angemessener gar nicht möglich gewesen wäre, dass jene Mahnungen aus der Politik, sie mögen sich doch bitte ihrer historischen Verantwortung in diesen Stunden, Tagen und Wochen bewusst sein und nicht ins Nationalistische abgleiten, deplazierter nicht hätten sein können. Wenn überhaupt, dann konnte die Politik sich am Verhalten des gemeinen Volkes, des „großen Lümmels“, ein Beispiel nehmen, nicht umgekehrt.
Einen tieferen Einblick in dieses Geschehen habe ich heute vor fünf Jahren hier gegeben, schilderte dort beispielsweise, wie sich scheinbar wildfremde Menschen lachend und weinend in die Arme fielen, aber es waren eben keine Wildfremden, sondern Landsleute. Die ungezählten kleinen und großen Gesten der Verbundenheit sprachen Bände über das nie erloschene Zusammengehörigkeitsgefühl der Deutschen.
Aus rein politischen Gründen eingesperrte Landsleute
Liebe Landsleute, ohne dieses im Kern intakt gebliebene Zusammengehörigkeitsgefühl trotz einer über vierzigjährigen brutalen Teilung unseres Landes hätten uns niemals diese zu Herzen gehenden Bilder erreichen können, die nach den Tagen und Nächten des 9. November 1989 von der Berliner Mauer über die Fernsehschirme in die ganze Welt gesendet wurden. Bilder, an der die ganze Welt Anteil nahm und zu denen sie die Deutschen aufrichtig beglückwünschte. Lassen Sie uns, liebe Leser, einen Moment innehalten, um der Opfer gedenken, die das wohl bewegendste Ereignis der deutschen Geschichte nicht mehr miterleben durften. So wie die letzten Todesopfer der Berliner Mauer im Jahre 1989, die heute noch leben könnten, hätten sie nur gewusst, dass sie die Mauer nur etwa ein dreiviertel Jahr später gefahrlos hätten überwinden können. Wir gedenken ebenso aller, die an der mörderischen Grenze mitten durch Berlin und Deutschland ihr Leben lassen mussten, nur weil sie in ihrem eigenen Land frei sein wollten. Frei sein wollten auch die vielen Ausreisewilligen, die gerade im Jahre 1989 den Druck auf die SED massiv erhöhten, aber deshalb in ständiger Angst schwebten, Schikanen und Bespitzelung erdulden mussten.
Zu den Opfern der deutschen Teilung gehören auch die aus rein politischen Gründen eingesperrten Landsleute, denen durch die unmenschlichen Haftbedingungen des SED-Regimes oftmals das Rückgrat gebrochen, ihre Gesundheit und ihr Leben zerstört wurden, nur weil sie sich ihm vergeblich durch „Republikflucht“ zu entziehen versuchten, über es Witze machten, an ihm Kritik übten oder sich ihm nicht andienen wollten. Wie zum Beispiel Achgut-Autor Manfred Haferburg, der im Gefängnis landete, weil er sich weigerte, als Ingenieur im Kernkraftwerk Lubmin bei Greifswald in die SED einzutreten und dem Regime als Spitzel zu dienen. Seine Geschichte hat er aufgeschrieben, sowie hier auf Achgut auf bewegend ehrliche Weise Einblick gewährt in seinen inneren Kampf zwischen Angst und Mut, Anpassung und Widerstand. Zitat:
„Aber ich hatte noch größere Furcht, bei den Verbrechen der DDR mitzutun. Um diese Angst – wegen des Nicht-Mitmachens vernichtet zu werden – überwinden zu können, musste ich mir zuerst selbst einige Bekenntnisse abringen – nämlich zur Angst des Mutigen, zur Furcht des Widersachers, zum Zittern des Rebellen und ein Bekenntnis zum Recht eines jeden Freiheitskämpfers auf Feigheit.“ Weiter schreibt er: „Das Schlimmste daran war für mich persönlich die Einsamkeit. Der Widerstand konnte sich nicht vernetzen, es wimmelte von Spitzeln. So entstand eine Hoffnungslosigkeit, erzeugt dadurch, dass die meisten Mitmenschen so taten, als wäre das Absurde normal.“ Eine zutiefst erschütternde Erfahrung.
Das SED-Regime forderte neben diesen genannten weitere grausame Opfer, an die aber höchstens noch an Orten des Geschehens erinnert wird. Gemeint sind jene Menschen, die in meist jahrhundertealten Dörfern lebten, welche sich in unmittelbarer Nähe der Demarkationslinie befanden oder mitten im Grenzgebiet lagen, und mit denen sprichwörtlich wie Ungeziefer (so hieß tatsächlich eine von mehreren „Aktionen“, siehe hier und hier) verfahren wurde, um nach ihrer Vertreibung und der „Schleifung“, sprich totalen Vernichtung, ihrer Dörfer ein freies Sicht- und Schussfeld zu schaffen sowie Fluchten zu erschweren bis zu verunmöglichen. Etliche dieser Vertriebenen verloren sogar zum zweiten Mal ihre Heimat: erst ihre ostdeutsche, dann ihre neue mitteldeutsche. „Den Menschen mit Zwang von seiner Heimat trennen“, so steht es in der Charta der deutschen Heimatvertriebenen, „bedeutet, ihn im Geiste töten“. Nur die Betroffenen wissen, wieviel Kraft es sie gekostet hat, nicht daran zu zerbrechen und damit weiterleben zu müssen, dass ihre Heimat nur noch in ihrem Herzen weiterexistierte.
Eine beispiellose Abstimmung mit den Füßen
Kehren wir zurück in das Jahr 1989. Es wurde das Jahr einer beispiellosen Abstimmung mit den Füßen. Immer mehr Deutsche östlich der Elbe wagten im Sommer, zunächst bevorzugt über Ungarn, dem „Ersatzwesten“, und als dies nicht mehr ging, über die CSSR, die Flucht in den Westen. Sie entschieden sich für eine Reise mit ungewissem Ausgang, ohne Garantie, dass sie das Ziel ihrer Sehnsüchte auch erreichen werden. Noch dazu verließen sie ihre Heimat, ihre Familie, ihre Freunde und Kollegen in den Bewusstsein, sie wohl kaum jemals wiederzusehen. Ein solcher Abschied für immer ist selbst bei begründeter Hoffnung auf eine bessere Zukunft ein bitterer Abschied. Nicht von ungefähr nannte ich diese Zeit vor fünf Jahren eine Zeit der Wechselbäder.
Dann war da im August 1989 bei Sopron (Ödenburg) das Picknick von Otto von Habsburgs „Paneuropa-Union“, wo sich zum ersten Male ein Grenztor von Ungarn nach Österreich auftat, eine Chance, die 661 Landsleute aus dem anderen Teil Deutschlands spontan nutzten, um in die Freiheit zu entkommen. Unvergessen bleiben ebenso die ergreifenden Bilder vom Durchbruch für die Freiheit in Prag, als die dortigen Botschaftsflüchtlinge endlich in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen durften; wie nach dem großen Jubel sofort die große Angst zurückkehrte, da sie, so Honeckers Bedingung, mit der Deutschen Reichsbahn über das Gebiet der „DDR“ ausreisen mussten. Ihre riesige Erleichterung bei ihrer Ankunft im fränkischen Hof, wo sie von den Einheimischen jubelnd begrüßt wurden, auch diese Bilder haben sich sicher nicht nur in meinem Herzen unauslöschlich eingebrannt.
Wenn man sich mit der ganzen Geschichte dahinter beschäftigt, wird schon allein an diesem einen Beispiel deutlich, dass die Deutschen in Ost und West sich trotz einer über vierzigjährigen Teilung nach wie vor als ein Volk empfanden und dass die Bundesrepublik im entscheidendem Moment tatsächlich für ihre Landsleute aus dem anderen Teil Deutschlands einstand. In dieser Film-Dokumentation wird noch einmal sehr deutlich, was weitaus weniger bekannt ist, wie sehr sogar bei hochrangigen Diplomaten, welche die Flüchtlinge zu ihrem Schutz in den Zügen begleiteten, die Angst mitfuhr, wie sie diese aber einer eisernen Disziplin unterwarfen, damit in den vorsätzlich von der „DDR“ von außen verriegelten Zügen keine Panik ausbrach. An dieser Stelle sei daran erinnert, dass es sie tatsächlich gab, jene Deutschen im Westen des gemeinsamen Vaterlandes, die am Schicksal ihrer Landsleute im Osten Anteil nahmen und mit ihnen mitgebangt, mitgehofft und mitgezittert haben, so auch die Autorin dieser Zeilen; dass viele von ihnen sich sehnlichst ein freies ungeteiltes Deutschland wünschten, gar für dieses ungeachtet aller Anfeindungen, denen sie genau deshalb ausgesetzt waren, stritten (siehe auch hier, und hier und hier.
Beeindruckende Dokumente des Freiheitswillens
Die ersten mutigen Versuche des Aufbegehrens gegen das SED-Regime im Jahre 1989 nahmen in Sachsen ihren Anfang und erfassten schließlich weite Teile des zu der Zeit noch immer unfreien Deutschlands. Die Menschen wurden immer mutiger, der Druck auf das SED-Regime immer stärker, und der Wunsch großer Bevölkerungsteile nach einem ungeteilten Deutschland konnte allerspätestens nach dem Besuch von Bundeskanzler Helmut Kohl in Dresden nicht mehr geleugnet werden, wurde aber schon vor der Maueröffnung tapfer auf Plakaten immer wieder gefordert, auch hier besonders in Sachsen.
Es sind dies alles zusammen beeindruckende Dokumente, die davon zeugen, wie ein Teilvolk die Fesseln einer jahrzehntelang aufgezwungenen Unfreiheit sprengte, die mit der widernatürlichen Teilung ihres Landes einherging. Dass der Protest zunächst zögerlich einsetzte, bis er zu einer Größe anschwoll, die auch von den Regierenden nicht mehr ignoriert oder niedergeknüppelt werden konnte, ist dabei nicht als Makel zu werten. Nur wer sich vergegenwärtigt, welche massiven Repressalien und Gefahren damit verbunden waren, wenn man sich offen gegen das menschenverachtende Regime stellte, wobei es im August 1989 vollkommen ausreichte, die „DDR“-Hymne zu zitieren, um sich strafbar zu machen, weiß um die Ängste, die mit einem offenen Aufbegehren oder dem Versuch einer „Republikflucht“ verbunden waren.
Es ist infam, diesen Menschen, die einer Diktatur ausgeliefert waren, eine abwägende, abwartende Haltung zum Vorwurf zu machen oder ihnen gar Feigheit zu unterstellen. Besonders den damals schon Privilegierten, ob in Ost oder West, stünde es gut zu Gesicht, sich mit derart pauschalen Verurteilungen zurückzuhalten. Und es sollte nicht nur sie nachdenklich stimmen, dass viele Ängste von damals, die man längst überwunden glaubte, wieder zurückgekehrt sind.
Wider die falschen Analogien
Ebenso deutlich sind alle Versuche zurückzuweisen, die falsche Analogien bemühen. Im Vorfeld des diesjährigen Gedenkens hat Katrin Göring-Eckardt ein Video auf X veröffentlicht, in welchem sie den 35. Jahrestag der Ausreise tausender deutscher Flüchtlinge aus der bundesdeutschen Botschaft in Prag zum Anlass nahm, einen Bogen zu spannen zur heutigen Masseneinwanderung von Menschen, die zu Deutschland weder einen historischen noch einen kulturellen oder ethnischen Bezug haben, so wie deutsche Vertriebene, Flüchtlinge, Übersieder und Aussiedler sie allesamt hatten und haben. Göring-Eckardt sagte, es sei falsch, „Grenzen hochzuziehen und Mauern zu bauen, auch heute“; man dürfe sich nicht „einmauern“, denn: „Grenzen hochzuziehen, kann keine Lösung sein.“ Da hat die Bundestagsvizepräsidentin doch tatsächlich Grenzen, die schützen sollen mit Grenzen, die einsperren sollten, auf eine Stufe gestellt, wie die WELT in ihrem Kommentar tadelnd anmerkte. Ein beschämender Vorgang für jemanden, der damals alt genug war, die besagte Zeit bewusst miterlebt zu haben, um den „Unterschied zwischen Zellentür und Wohnungstür“ zu kennen, wie der Autor des WELT-Artikels es treffend für Katrin Göring-Eckardt in „einfache Sprache“ übersetzte.
Als die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im September 2015 die deutschen Grenzen vorgeblich für Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien öffnete, letztlich aber für Menschen aus aller Herren Länder, so sie nur das Wort „Asyl“ auszusprechen verstanden, hatte die WELT das noch gutgehießen, und das Gros der Medien bemühte sich, Analogien zu deutschen Vertriebenen und Flüchtlingen herzustellen, die zum Kriegsende und danach, sowie im Schicksalsjahr 1989, aus dem Osten in die Bundesrepublik Deutschland strömten, um an die Hilfsbereitschaft der Deutschen zu appellieren, an der es allerdings nicht mangelte, weder 1989 noch 2015.
Dennoch verbietet sich eine Gleichsetzung beider Geschehnisse, aus Gründen, die ich hier schon ausführte. Ein Vergleich dagegen macht klar, dass die Probleme, die mit der Aufnahme kulturfremder Leute verbunden sind, völlig andere Dimension erreichen (wie inzwischen sogar der RBB nicht mehr in Abrede stellt als dies jemals bei der Aufnahme eigener Landsleute der Fall gewesen wäre. Die Deutschen aus ihrer östlichen Heimat integrierten sich schnell, weil sie dem gleichen Volk und der gleichen Kultur entstammten, in aller Regel über eine qualifizierte Ausbildung verfügten und noch dazu deutsch sprachen. Letzteres mussten Aussiedler, die auch Deutsche waren, zwar je nach Jahrgang oft erst lernen, da sie sich in ihr angestammten Heimat jahrzehntelang weder zu ihrem Deutschtum bekennen noch deutsch sprechen durften. Aber sie trieb gerade deshalb der Wunsch in den Westen, endlich (wieder) als Deutsche unter Deutschen leben zu dürfen.
Die Deutschen 1989: dramatisch selbstlos und hilfsbereit
Zu Merkels Beweggründen für die Grenzöffnung von 2015 hat der unter ihr als Bundesinnenminister tätige Horst Seehofer im September erklärte die Kanzlerin habe ihm gegenüber „immer argumentiert, dass Deutschland eine belastete Geschichte habe, und dass wir jetzt in einem ganz anderen Licht erscheinen würden – eben als humane Gesellschaft, die Menschen in der Not hilft. Und dass sich das in den nächsten Jahren für unser Land auszahlen würde.“
Im Klartext: Die Bundeskanzlerin hat den Deutschen abgesprochen, ein freundliches und überaus hilfsbereites Volk zu sein, obwohl genau das der Fall war und ist, was nicht nur die Spendenbereitschaft in Rekordhöhe beweist. Nein, „In einem ganz anderen Licht – eben als humane Gesellschaft, die Menschen in der Not hilft“, waren wir der Welt längst erschienen – und zwar im Jahre 1989. Enno von Loewenstern hatte daran in der WELT am 2. Oktober 1991 mit Fug und Recht erinnert: „Niemals zuvor hat sich ein Volk so dramatisch als selbstlos und hilfsbereit dargestellt wie hier, wo die Menschen spontan das ebenso Anständige wie politisch Richtige taten, obwohl keine politische Partei und keine geistige Führung sie darauf vorbereitet hatte – die Bürger waren es, die die Politiker trieben, nicht umgekehrt.“
Ein Satz, der es in jeder Beziehung exakt auf den Punkt bringt. Ein Satz, der es verdient hätte, in Stein gemeißelt oder wenigstens auf einer Messingtafel, etwa am Brandenburger Tor, verewigt zu werden. Jedenfalls hätte er es mehr verdient als die oft zitierten schönen Worte „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, weil sie den Makel haben, dass Willy Brandt sie so nie gesagt, sondern nachträglich in sein Redemanuskript reinredigiert hatte, wie Uwe Müller und Grit Hartmann in ihrem Buch „Vorwärts und vergessen“ auf Seite 131 festgehalten haben (siehe auch hier). Noch einmal zurück zu der Aussage Enno von Loewensterns. In der Tat ist mir kein auch nur annähernd vergleichbares Ereignis in der Geschichte – nicht nur der deutschen – bekannt, das weit über die Grenzen eines Landes hinaus so viel Anteilnahme, Begeisterung, Zuspruch und Jubel hervorrief – weil die Deutschen eben nicht nur ein „freundliches Gesicht“ zeigten, sondern etwas viel Wichtigeres: Herz. Sie taten instinktiv genau das Richtige, niemand „von oben“ hatte sie dazu angeleitet oder gar aufgefordert. Enno von Loewenstern hatte recht, die Bürger trieben in jener Zeit die Politiker, nicht umgekehrt.
Die Deutungshoheit wurde den Falschen überlassen
Vielleicht ist genau dies der Grund, weshalb das offizielle Gedenken an die überwältigenden Ereignisse in den Tagen und Nächten am und nach dem 9./10. November 1989 von Anfang an mit angezogener Handbremse begangen wurde. Die positiven Emotionen der Deutschen für ihr eigenes Land und ihre Landsleute wurden in ein enges moralisches Korsett gezwängt. Das lag sicher auch an der Vieldeutigkeit des Datums, den der 9. November in der deutschen Geschichte nun einmal darstellt, deshalb konnte er auch kein deutscher Nationalfeiertag werden.
Dabei hatten die Deutschen gerade in den Jahren 1989/90 eindrucksvoll bewiesen, dass von ihnen keinerlei Gefahr für ihre Nachbarn und die Welt ausging. Dies ist nur logisch, denn das Ende der Teilung Deutschlands, und damit auch Europas, war ein Akt der Selbstbefreiung von menschenverachtenden Ideen. Doch aus unerfindlichen Gründen zogen selbst einstmals liberal-konservative Kreise, einschließlich der Partei der Wiedervereinigung namens CDU, es schließlich vor, ausgerechnet denen, die mit dem Zusammenbruch der Mauer eine krachende Niederlage erlitten, nach und nach die Deutungshoheit über unsere Geschichte zu überlassen. Und nicht nur über die Geschichte. Die Ideen des Sozialismus, eines staatlichen Dirigismus in alle Lebensbereiche hinein, feiern heute fröhlich Urständ.
Zudem schickte man sich an, Nachsicht und Milde ausgerechnet gegenüber jenen walten zu lassen, die als Marionetten Moskaus fast 45 Jahre lang etwa 17 Millionen Deutsche knechteten, sowie das von Moskau und Ostberlin zu verantwortende Unrecht im öffentlichen Bewusstsein mehr und mehr in den Hintergrund zu drängen. Auch das Wissen darüber, dass NVA und Staatssicherheitsdienst die Besetzung des freien Teils Berlins geprobt hatten, inklusive der Internierungslager für „politisch Unzuverlässige“, ist kaum präsent. Die Forderung, „aus der Geschichte zu lernen“, wurde einmal mehr in ihr Gegenteil verkehrt. Spätere Historiker werden möglicherweise eines Tages fassungslos zur Kenntnis nehmen, wie die politischen Führungen des wiedervereinigten Deutschlands fast alle Chancen verstreichen ließen, die der Epochenwechsel von 1989/90 bot. Dazu gehörte auch die einmalige Chance, die Deutschen endlich mit sich selbst zu versöhnen sowie sie zu einem gesunden Selbst- und Nationalbewusstsein zurückzuführen. Dies wäre der beste Schutz vor jeglichem Extremismus gewesen, denn eine Nation, die in sich selbst ruht, hat diesen nicht nötig und versteht es im Gegensatz zu einer „verletzten Nation“ (Elisabeth Noelle-Neumann, Renate Köcher [https://www.amazon.de/verletzte-Nation-Versuch-Deutschen-Charakter/dp/B002FJ5X2O]), ihre eigenen Interessen zu wahren, ihre Stärken sinnvoll einzusetzen und ihre Schwächen im Zaum zu halten.
Liebe Landsleute, ihr wart großartig!
Dies wäre auch deshalb wichtig gewesen, weil jedes Volk, will es bestehen, zwingend die Möglichkeit einer positiven Identifikation mit sich selbst braucht. Dafür wiederum braucht es ein Bewusstsein für herausragende Ereignisse der eigenen Geschichte, die über Generationen hinweg verbinden, Ereignisse, die gemeinsam empfundene positive Gefühle und Erinnerungen freizusetzen vermögen. Was hätte sich besser dafür eignen können, als der friedliche Sieg der Freiheit über eine menschenverachtende Diktatur?
Längst wäre es an der Zeit gewesen, unseren Landsleuten zu danken: für ihren Mut, ihre Herzlichkeit, ihre menschliche Wärme und Hilfsbereitschaft, die es 1989 vermochten, Menschen rund um den Erdball zu bewegen. Einen besseren Dienst hätten sie Deutschlands Ansehen gar nicht erweisen können. Deshalb sage ich an Stelle jener, deren Pflicht es gewesen wäre, dies zu tun: Danke, liebe Landsleute, ihr wart großartig! Ich sage dies auch in dem Bewusstsein, dass der Verlauf der Geschichte höchstens im nachhinein klar und logisch erscheint und alle Gefahren verblassen lässt, die erst gebannt werden mussten. Zu dem Zeitpunkt, als die Geschichte, welche die Mauer schließlich zum Einsturz brachte, noch geschrieben wurde, nicht nur von Politikern, sondern eben auch von den Bürgern selbst, bestand keinerlei Gewissheit über ihren Ausgang. Mit weniger Glück hätte das deutsche Schicksalsjahr auch einen gänzlich anderen Verlauf nehmen und sogar in einem weiteren Albtraum enden können.
Dass genau dies nicht geschah, lag einerseits an der damals zweifellos günstigen politischen Konstellation, die das Geschehen klug zu kanalisieren verstand (siehe auch hier und hier), aber nicht zuletzt eben auch daran, dass so viele Deutsche 1989/90 ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen – allen voran unsere Landsleute östlich der einstigen buchstäblichen Grenze des Todes. Es gibt keinen Grund, unser Licht unter den Scheffel zu stellen, und wir müssen uns erst recht von niemanden einreden lassen, nicht zu Zusammenhalt, Herzlichkeit, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft fähig gewesen zu sein. Doch, wir waren es – sogar auf historisch einzigartige Weise im denkwürdigen Jahr 1989. Die Welt war unser Zeuge. DIE WELT war es damals übrigens auch und hatte das bewegende Geschehen in Wort und Bild dokumentiert sowie immer wieder mitfühlend kommentiert.
Sabine Drewes ist im freien Teil des damals noch geteilten Deutschlands aufgewachsen und beschäftigt sich seit ihrer Jugend mit diversen Aspekten rund um das Thema Teilung und Wiedervereinigung Deutschlands.