Ich war schon in vielen großen Nationalparks in den USA und hatte aufregende Begegnungen mit Schwarzbären, Bisons, Coyoten, Bobcats und einem Sortiment verschiedener Klapperschlangen. Auch handtellergroße, pelzige Taranteln habe ich schon persönlich aus ihrem Bau hervorgelockt. Aber vor den Alligatoren und Krokodilen in den Everglades in Florida habe ich wirklich richtig Manschetten. Die erste Fühlungnahme mit diesem einzigartigen, sechstausend Quadratkilometer großen Feuchtbiotop erfolgt zu Fuß.
Es gibt viele gekennzeichnete Wanderwege, aber sie sind alle kaum eine Meile lang. Mit Wandern ist einem Sumpf nur schwer beizukommen. Der einzige längere Weg führt an der Küste der Florida Bay entlang. Es ist unschwer zu erkennen, dass er schon länger nicht mehr benutzt worden ist. Die Luft schwirrt von Moskitos. Ständig muss man zuschlagen, und schon nach kurzer Zeit ist jedes freie Fleckchen Haut übersät von Blutflecken und toten Insekten. Am Abend habe ich über siebzig Stiche. Aber auch herrliche tropische Schmetterlinge sind zu sehen: Rein weiße; riesige gelbe Segelfalter und der schwarz-grün gestreifte Zebrafalter, der aussieht, wie irgendwas aus der Muppetshow. Ein Falter mit Flügeln wie aus bedrucktem rotem Samt liegt auf dem Weg. Ich stupse ihn vorsichtig an, und sofort erscheinen auf dem unteren Flügelpaar funkelnde Raubtieraugen. Überall gibt es Massen von Vögeln: Schwarze Geier, Pelikane, Reiher, Kormorane, Kraniche, Ibisse und Waldstörche, die den afrikanischen Marabous ähneln.
Ständig raschelt und knackt es im Unterholz. Plötzlich steht man im dunklen Mangrovendickicht und versinkt bis zu den Knöcheln im Matsch. Riesige Käfer rasen über den Weg. Auf Schritt und Tritt klatschen einem Spinnennetze ins Gesicht. Ich habe genug. Zu Alligatoren, haben wir gelernt, soll man möglichst eine Distanz von viereinhalb Metern einhalten. In diesem Sumpf nimmt man Alligatoren vermutlich erst wahr, wenn man auf ihnen draufsteht. Also Rückzug.
Im Visitor Center erfahren wir, dass zur richtigen Erkundung der Everglades kein Weg um das Wasser herumführt. Am besten sei eine Kanutour auf eigene Faust, an Markierungen entlang, die etwa vier Stunden in Anspruch nimmt. Wenn man Glück hätte, sagt der Ranger launig, träfe man bei dem und dem Marker auf ein uraltes Riesenkrokodil, über siebzig Jahre alt und soundso viele Fuß lang. Das ist Crockzilla. Crockzilla ist ganz harmlos, solange man die Fluchtdistanz nicht unterschreitet. Und vor den Pythons sollte man sich auch in Acht nehmen, diesen Invasoren, die von unverantwortlichen Tierhaltern in den Everglades ausgesetzt wurden. Für den Fall, dass sich ein Python um den Körper schlingen sollte: Einfach den Kopf abschneiden.
„I’ve got a swiss army knife!“ sage ich tapfer.
“Good girl! You guys have fun tomorrow!” sagt der Ranger und grinst.
Auf diese Kanutour freue ich mich wie auf eine Operation am offenen Herzen. Aber am nächsten Tag sieht alles anders aus. Nämlich viel schlimmer. Erst lassen sich die Markierungen auf dem See nicht finden, und dann bleibt das riesige Kanu ständig in den Luftwurzeln des Mangrovendickichts hängen. Dafür weht ein frisches Lüftchen, und es gibt keine Moskitos. Die Mangroven bilden regelrechte Tunnels, in denen man das Boot vorwärts zieht, in dem man sich an dem Wurzeln entlang hangelt. Plötzlich öffnet sich der Tunnel und man befindet sich in einer grasbewachsenen Wasserlandschaft. Es ist wunderbar still, die Luft ist herrlich, das Wasser kristallklar. Außer dem einen oder anderen Vogel ist kein lebendiges Wesen weit und breit. Nach jedem neuen Mangroventunnel wartet man bang auf das plötzliche Erscheinen von Crockzilla und/oder den nepalesischen Würgeschlangen. Aber nichts ist in Sicht, wofür ich außerordentlich dankbar bin. Rund drei Stunden Paddelei durch die Wildnis vergehen wie im Flug. Aber – in den Everglades gewesen zu sein und dennoch kein einziges gepanzertes Untier gesehen zu haben, das ist und bleibt beschämend. Wenigstens ein Manatee sehen wir noch im Hafen des Parks, eine dieser lieben, Sitzsackartigen Seekühe.
Am nächsten Tag verlassen wir die Everglades in Richtung des Golfs von Mexico. Nördlich des Nationalparks geht es den Highway 41 entlang Richtung Westen, immer direkt am etwa sechzig Meilen langen Tamiami-Kanal. Dieser künstliche Wasserweg ist in weiten Strecken das schönste Fleckchen Natur, das man sich vorstellen kann. Gleich hinter der Leitplanke blickt man staunend in ein edel designtes Tropenpanorama: Zypressensümpfe mit Fächerpalmenunterholz, darüber die tief herab hängenden, feuerroten Beeren des brasilianischen Pfeffers; auf dem schwarzen Wasser des Kanals schwimmen gelbe Seerosen. Auf den Ästen sitzen kupferfarbene Watvögel mit ausgebreiteten Schwingen, riesige Kraniche stehen unbeweglich im Wasser, sogar rosafarbene Löffler sind zu sehen. Im Wasser tummeln sich Massen von Barschen und Welsen sowie radkappengroße Schildkröten. Und dann sehen wir ihn: Den ersten Alligator. Den ersten von etlichen Hundert. Wir können es kaum glauben. Wir halten am Straßenrand und sehen im Zypressensumpf hinter dem Kanal auf dichtestem Raum zwölf große Alligatoren nebeneinander liegen. Immer wieder fahren wir ein Stück weiter; immer wieder halten wir an, um Fotos zu machen. Dort liegt ein Alligator mit weit geöffnetem, beeindruckend bezahntem Rachen in der prallen Sonne, dort kriecht ein fünf Meter langes Riesentier gerade bedächtig in das Wasser. Man kann sich einfach nicht satt sehen an den pechschwarzen Monstren, von denen es im Tamiami-Kanal Tausende geben muss. Die Tatsache, dass man nicht hinter der Panzerglassscheibe eines Zoos steht und die Tiere schneller bei einem sein können, als einem lieb sein kann, hat man innerhalb von Sekunden vergessen. Der Tamiami-Trail, die lange Straße, die die Everglades in zwei Hälften teilt, wäre ohne die Entwässerung durch den etwa vier Meter breiten Kanal nicht möglich gewesen. Ein recht heftiger Eingriff in die Natur. Deren Bewohner allerdings sehen dies gelassen.