Die Diskrepanz zwischen Realität und medial sowie regierungsamtlich gewünschten und erfolgreich vermittelten Narrativen wird immer bedrückender, gut angereichert durch frei Erfundenes.
Eines ist geschafft: Die Begriffe „Geheimtreffen“ oder „Wannseekonferenz 2.0“, mitunter allein die Kombination von „Treffen“ und „Potsdam“, sind zu Chiffren geworden. Dass die private Zusammenkunft im November 2023 – absolut jeder, der in Deutschland auch nur entfernt medial Anteil am Zeitgeschehen nimmt, weiß, was gemeint ist – weder geheim war und, wesentlich gravierender, jeder Bezug zur Wannseekonferenz vom Januar 1942 eine unsägliche Verharmlosung des Holocaust darstellt, stört bis heute kaum jemanden, der vom Diskreditierungspotential der Fama profitiert. Nicht einmal nach gerichtsfesten Entscheidungen. Belastbare Fakten, die Rechtswidrigkeit der Beobachtung – geschenkt. Die ausbleibende Antwort auf die Frage, die sich jedem Resthirninhaber sofort hätte aufdrängen müssen – Warum wurde das Wissen um die so furchtbar bedrohliche Zusammenkunft erst im Januar 2024 an die Öffentlichkeit getragen? – hielt wackere Verteidiger der Demokratie nicht davon ab, zu bundesregierungsunterstützten Aufmärschen zu eilen, gegen „Rechtsextremismus“, von siebenstelligen Zahlen ist die Rede. Selbstgefertigte Winkelemente und bizarre Mützenbestickungen (etwa „FCK AFD“, was konsequenterweise „FCK FD“ heißen müsste) waren der mindeste Beitrag, um sich äußerlich den Abgründigen von Potsdam entgegenzustellen. Mit einem Schlag war die Regierung, die kräftig für die Demonstrationen getrommelt hatte und sich selbst beteiligte (ein Unding sondergleichen), ihr zu dieser Zeit äußerst schlechtes Image in der Öffentlichkeit los. Von den Bauernprotesten etwa, die ihr doch arg zu schaffen gemacht hatten, redete niemand mehr.
Der soeben erschienene kleine Band „Chiffre. Correctiv und andere Wirklichkeiten“ der EXIL-Reihe der „edition buchhaus loschwitz“ setzt bei der Potsdamer Zusammenkunft und der daraus konstruierten Geschichte an. Anlass für acht Autoren, Beiträge zu liefern über die immer bedrückendere Diskrepanz zwischen Realität und medial sowie regierungsamtlich gewünschten und – das ist der eigentlich deprimierende Part – erfolgreich vermittelten Narrativen, gut angereichert durch frei Erfundenes. Der Blick ist dabei auch über das Gebaren des „Medienhauses Correctiv“ und den „Geheimplan gegen Deutschland“ hinaus gerichtet. Fragen werden gestellt. Bekanntes wird, neben weiterführenden Überlegungen, ins Gedächtnis gerufen. Zu Recht. Es gibt Dinge, an die man immer wieder erinnern sollte. Etwa die Art und Weise, wie die „Hetzjagden“ von Chemnitz im Jahr 2018 plötzlich in der Welt waren. Niemand konnte sie bezeugen, aber sie sind seltsam fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Und immer wieder brauchbar im „Kampf gegen Rechts“.
Zwei der Autoren, Silke Schröder und Ulrich Vosgerau, waren bei besagter Zusammenkunft selbst zugegen – und gehörten nach dem „Bericht“ des „Medienhauses Correctiv“ zu den namentlich aufs heftigste von der Presse attackierten Teilnehmern (erschreckend, wer auf dürftigster Faktengrundlage so alles eingestimmt hat, im Falle von Schröder etwa der „Verein Deutsche Sprache“, bei Vosgerau die Universität zu Köln). Übertroffen wohl nur von den Angriffen auf den Hauptinkriminierten Martin Sellner, einen der Referenten. Sellner hatte – wie auf vorangegangenen und nachfolgenden Veranstaltungen – über das Thema Remigration gesprochen und darüber, für jedermann einsehbar, publiziert.
„Zweiter Öffentlicher Dienst“
Zahlreich sind die im Buch vertieften Aspekte. Silke Schöder zeigt sich am Ende (zu) optimistisch, wenn sie die medialen Einflüsse auf die Ausformung der Erinnerung betrachtet. In Anbetracht der derzeitigen Zustände spricht sie von „Vorschlaghammer“ sowie dem „Rohrkrepierer des eigenen Übertreibungsfurors“ und glaubt das „wachsende Bedürfnis der Menschen nach Authentizität und Wahrhaftigkeit“ ausmachen zu können.
Bettina Gruber zitiert zunächst aus der Antwort auf eine Kleine Anfrage eines sächsischen Landtagsabgeordneten vom März 2024. Danach habe das beim „Sächsischen Staatsministerium für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt angesiedelte Demokratiezentrum“ eine Vertreterin von „Correctiv“ als Referentin zu einer Veranstaltung geladen. „Titel des Panels war Fakten checken, statt Desinformation teilen. Inhalt war die Beschäftigung mit der Funktionsweise von Desinformationen sowie die Frage, wie man sie entlarvt und gegen sie angehen kann.“ Gruber ist kaum zu widersprechen, wenn sie meint, diese Antwort im Namen der Sächsischen Landesregierung sei „schlichtweg unparodierbar“. Vor allem aber beschäftigt die Autorin in ihrem Beitrag die Frage, warum Darstellungen wie die des Potsdamer Treffens – „in diesem Fall auch noch schlampig fabrizierte… Realitätssurrogate“ – einen derartigen Erfolg haben können. Eine Erklärung findet sie in der „Metaideologie“. Der auf Manfred Kleine-Hartlage zurückgehende Begriff setzt bei der These an, dass sich im Zuge des Kalten Krieges der Konservatismus neben den Bestrebungen von Liberalismus und Marxismus/Sozialismus nicht behaupten konnte. Letztere wiederum wiesen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, die den öffentlichen Diskurs geformt haben.
Ulrich Vosgerau benennt die NGOs als das, was sie sind, der „Zweite Öffentliche Dienst“. Und es gebe quasi auch noch einen „Dritten Öffentlichen Dienst“. In immer mehr Wirtschaftsunternehmen fänden sich Beschäftigte, die die weltanschaulichen Staatsvorgaben umsetzten, „also Compliance- und jetzt auch Lieferketten-, Frauen-, Behinderten- und Diversitätsbeauftragte“. Die Darstellungen der Potsdamer Zusammenkunft, etwa auch in dem mit stupender Geschwindigkeit (nur bösartige Zeitgenossen vermuteten einen gewissen zeitlichen Vorlauf) auf die Beine gestellten Theaterstück, beleuchtet Vosgerau juristisch. Und macht darauf aufmerksam, dass auch gegen dreist erlogene Behauptungen, man habe über einen Plan zu „massenhaften Vertreibungen“ gesprochen, nicht vorgegangen werden könne. Derartiges fiele – so die Gesetze – unter „wertende Zusammenfassungen“, es handle sich „rein rechtlich nicht um unzutreffende Tatsachenbehauptungen“.
„Die nächste dunkeldeutsche Sau“
Ralf Schuler stellt die aus der Potsdamer Zusammenkunft konstruierte Geschichte als Drama dar, in dessen dritten und letztem Akt der „Geist aus der wirbelnden Wunderflasche… auf ein williges und glaubensbereites Publikum“ getroffen sei. Er verweist auf die Hemmungslosigkeit des Kanzlers, der am 31. Januar 2024 im Bundestag erklärte: „Wer schweigt, macht sich mitschuldig“. Damit zitierte Olaf Scholz „die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi, die in der Gedenkstunde zuvor zu den Abgeordneten gesprochen hatte“. Bezüglich der „Correctiv“-Darstellung konstatiert Schuler, aus „einer Falschmeldung“ sei „ein zweckdienliches Monstrum geworden, das auch von Politikern der Union und fast aller anderen Parteien gefüttert“ wurde.
Helmut Roewer setzt in seinem Beitrag beim Komplex „Verschwörungstheorien“ an. Cora Stephan blickt neben „Potsdam“ zurück auf medial entstandenen Wahrnehmungskonstrukte, die beispielsweise mit den Stichworten „Sebnitz“, „Grevesmühlen“ und „Chemnitzer Hetzjagden“ verbunden werden. Sie meint, „vielleicht gibt es ja bald schon die nächste dunkeldeutsche Sau, die man durchs Gelände treiben kann“. Dem Komplex „Chemnitz“ und der passend geformten Realität widmet auch Klaus-Rüdiger Mai breiten Raum. Mai weist zudem auf die arg undurchsichtige Rolle von Greenpeace bei der Entstehung der Legende über das „Geheimtreffen“ hin und fragt sehr deutlich danach, wer die „Beobachter“ denn möglicherweise regierungsseitig im Vorfeld auf die Dinge aufmerksam gemacht und angesetzt haben könnte. Mai resümiert: „Rechtlich, aus Gründen des Verfassungsschutzes besaß das private Treffen in Potsdam keine Relevanz. Interessant war es nur aufgrund der medialen Verwertung. Diese Rechnung ging in manipulativer Weise auf.“
Das Sahnehäubchen für den Band „Chiffre“ hat Uwe Tellkamp mit einem Stück Literatur beigesteuert, einem Auszug aus seinem noch unveröffentlichten Roman „Lava. Archipelagus 2“. Um die „Operation ‚Gold‘“ geht es, um das „Amt für Migration und Fortschritt“, um die dort zu lösende Frage, was es mit den „Wolgapolen“ auf sich habe, über die sich zwar keine verlässlichen Informationen finden, die aber sicher eine „kleine ethnisch drangsalierte Minderheit“ seien. Auch das Problem, wie es der Öffentlichkeit nahegebracht werden könne, dass Holzzuber Fluchttransportmittel gewesen seien, wird in besagtem Amt bearbeitet. Übertreiben darf man es jedoch nicht, es gibt Einwände, etwa wenn einer der Beteiligten warnt: „Die Story ist so idiotisch, daß die Alternative Manipulation wittert.“ Von handfesten Ärgernissen bleiben die Mitarbeiter nicht verschont: Mit kleingerissenen Ausweisen verstopfte Toiletten, in denen Antragsteller im letzten Moment „diese so hemmenden, weil die Abschiebung ermöglichenden Papiere“ entsorgt haben. Tellkamp liefert eine Karikatur der „Flüchtlingspolitik“, anspielungsreiche Dauerpointen mit Feuerwerkscharakter. Der Gedanke, dass das Ganze vielleicht gar nicht so weit vom tatsächlichen Geschehen entfernt ist, birgt allerdings schon wieder Resignationsgefahr. Die schwingt in allen Texten von „Chiffre“ mit – im besten Deutschland aller Zeiten (anderswo natürlich auch) werden Wirklichkeiten herbeigedeutet, notfalls frei erfunden. Offensichtlich für jedermann, der es wissen will. An letzterem scheitert es. Viel zu oft.
Chiffre. Correctiv und andere Wirklichkeiten (mit Beiträgen von Silke Schröder, Bettina Gruber, Uwe Tellkamp, Ulrich Vosgerau, Ralf Schuler, Helmut Roewer, Cora Stephan und Klaus-Rüdiger Mai), Dresden: edition buchhaus loschwitz 2024. Bestellt werden kann das Buch hier.
Dr. Erik Lommatzsch ist Historiker und lebt in Leipzig.
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