„Was man in der Jugend wünscht, hat man im Alter die Fülle“, schrieb Goethe, als er auf sein Leben zurückschaute. Wäre sie des Deutschen mächtiger, als sie es ist, könnte Angela Merkel die Jahre ihrer Kanzlerschaft jetzt ebenso resümieren. Gut, am Beginn dieser Epoche stand sie bereits im 52. Jahr. Die Jugend im landläufigen Sinn des Wortes lag hinter ihr. Als Herrscherin aller Deutschen steckte sie noch in den Kinderschuhen, als sie, kaum zur Kanzlerin gewählt, 2005 verkündete: Von nun an wird „durchregiert“.
Was das heißen sollte, bekam das Volk nach und nach zu spüren. Die Begeisterung darüber war keineswegs so einhellig, wie es unterdessen vorausgesetzt wird. Wenn sie wieder einmal an der Demokratie vorbei regiert hatte, während der Finanzkrise 2009 oder 2015 nach der Grenzöffnung, bekam die „Chefin“ schon noch zu hören, sie spalte das Land. Noch gab es kritische Geister, die respektlos genug waren, Ihro Gnaden zu widersprechen. Länger hielten die wenigsten von ihnen durch.
Fünfzehn Jahre nach dem Einzug ins Kanzleramt steht Angela Merkel nun in der Blüte ihrer absoluten Herrschaft. Unangefochten kann sie den Lohn der Ausdauer in Fülle genießen. Das Volk gehorcht aufs Wort. Als vieles schon auf den Abgang hindeutete, ist die überzeugte Autokratin dank der Corona-Krise nochmals aufgestiegen, unversehens, wie Phönix aus der Asche. „Alternativlos“ nahm sie die Zügel in die Hand, indem sie die Einweisung der Bürger in die heimischen vier Wände verfügte und die Wirtschaft lahmlegte.
Endlich steht das Volk hinter der Führerin
Der Verweis auf die Gesundheit als das höchste aller Güter genügte, um jeden Zweifel im Keim zu ersticken. Endlich steht das Volk, abgesehen vom kleinen Häuflein der Widerspenstigen, wie ein Mann hinter der Führerin. Ihre Beliebtheitswerte schießen durch die Decke; sie sind so hoch wie nie zuvor. Was Wunder also, dass sie keinen Gedanken an die Zeit danach verschwenden mag, dass sie jeden abblitzen lässt, der eine Strategie für den „Ausstieg“ aus der Krise, die Rückkehr zur Normalität, anmahnt. Weil er eine demokratische Diskussion darüber anregen wollte, wurde selbst Armin Laschet, gewiss kein Dissident, kurzerhand in die Schranken gewiesen.
Weiterhin, sagte die Kanzlerin dieser Tage, könne es bloß um eines gehen: „das Gewinnen von Zeit“. Wer wollte dagegen etwas sagen? Natürlich lässt sich die Pandemie nicht von heute auf morgen eindämmen. Das steht außer Frage. Ebenso liegt aber auf der Hand, worauf das alles politisch hinausläuft, auf die Verlängerung eines Status quo, in dem es sich mit starker Hand „durchregieren“ lässt. Doch selbst dafür mag noch manches sprechen. Sicher müssen in der Not Entscheidungen gefällt werden, ohne dass dem eine langes Palaver vorausgeht.
Es sind ja nicht die Einschränkungen an sich, die verstören. Sie zu befolgen, gebietet meist schon der Selbsterhaltungstrieb. Argwohn weckt allein der anmaßend diktatorische Tonfall dieser Anweisungen von oben. Wo es um Aufklärung ginge, hagelt es Verbote. Angst wird geschürt, keine Widerrede geduldet. Wer das für überzogen hält, wie die Heidelberger Anwältin Beate Bahner, gegen den ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft. Gelobt sei, was die Bürger gefügig macht.
Nach oben buckeln, nach unten treten
Allenthalben beanspruchen die angestellten Politiker des Volkes inzwischen unumschränkte Handlungsfreiheit nach dem Vorbild der Bundeskanzlerin. Wie Söder, Spahn, Bouffier, Kretschmann …, die Chefin nachäffen, ohne es zu merken, offenbart peinlich das Niveau unseres politischen Personals: nach oben buckeln, nach unten treten. Selbst ein kleines Licht wie der der grüne OB Darmstadts Jochen Partsch posaunt da: „Es ist unbedingt notwendig, dass wir nun nicht nachlassen.“
Noch gestern hieß es, sobald ein Zustand erreicht sei, in dem sich die Zahl der Neuinfektionen aller vierzehn Tage verdopple, könne man schrittweise zur Normalität zurückkehren. Nun, da die Johns Hopkins University für Deutschland eine „Verdoppelungszeit“ von fünfzehn Tagen meldet, bekommen wir von Jens Spahn zu hören, der „positive Trend“ müsse sich „verfestigen“, bevor an eine Umkehr zu denken sei.
Offenbar will sich die Politik von ihrem Krisengewinn – der absoluten Herrschaft – so schnell nicht verabschieden. Fragen darf man sich, ob sie überhaupt gewillt ist, es je wieder völlig zu tun.
In Berlin jedenfalls scheint die Regierung dazu weniger geneigt. Angela Merkel, der volksdemokratisch aufgezogene Brummkreisel im Kanzleramt, rotiert weiter um die eigene Achse, befangen im Wahn ihrer Unfehlbarkeit. Besteht doch plötzlich die Chance, sogar die mutwillig ruinierte Wirtschaft staatlich in den Griff zu bekommen. Fast schon im Abgang ist der „Weltpolitikerin“ die Fülle jener Macht zugefallen, nach der sie verlangte, als sie den Deutschen 2005 versprach, von nun an wird „durchregiert“.