Am 31.12. und am 12.1. veröffentlichte ich auch Achgut.com zwei Texte, in denen ich einige Fakten in erster Linie zur Übersterblichkeit in Schweden 2020 präsentierte und argumentierte, dass der "schwedische Weg“ (kein Lockdown; keine Entzug von Grundrechten; größtenteils freiwillige Einschränkungen) im europäischen Vergleich als durchaus erfolgreich bezeichnet werden kann – auch wenn in zahlreichen deutschen Medien regelmäßig das Gegenteil behauptet wurde und wird.
Vor kurzem wurde das Thema auf wesentlich professionellere Art untersucht, worüber auch schwedische Medien berichteten (u.a. hier in der Zeitschrift „Dagens Medizin"). Fredrik Charpentier Ljungqvist (Historiker an der Universität Stockholm, SU) untersuchte, wie das Ergebnis des „schwedischen Coronawegs“ für das abgelaufene Jahr 2020 sowohl historisch als auch im Vergleich mit 30 europäischen Ländern einzuordnen ist. Einige Zitate seiner Untersuchung sind es wert, der interessierten und erkenntnisoffenen deutschen Leserschaft nahegebracht zu werden:
- Charpentier Ljungqvist benutzt die Übersterblichkeit als Maßstab für die Bewertung des „Coronaerfolgs“ unterschiedlicher Länder. Zitat: „Übersterblichkeit (Anzahl Toter im Vergleich mit dem Durchschnitt der vergangenen vier Jahre)“ ist ein robustes und grundlegendes Werkzeug bei der historischen Analyse der Folgen von Hungersnöten, Epidemien und anderen historischen Ereignissen.“
- „Übersterblichkeit als Maß macht es möglich, unterschiedliche Länder mit ähnlicher Demografie zu vergleichen.“
- „Die von unterschiedlichen Ländern berichteten Covidansteckungszahlen und Covidsterbefälle zu vergleichen, ist im Prinzip sinnlos, weil Tests und Kriterien sich so sehr unterscheiden. Darüber hinaus ist es größtenteils sinnlos, Woche für Woche Vergleiche anzustellen, weil sich die Situation ständig verändert. Das wissen wir schon von früheren Pandemien.”
- „Ein interessantes Muster erkennt man unter den nordischen Ländern. Während der Grippeepidemien 1957 („Asiatische Grippe“), 1968 (Hongkonggrippe) und auch 1976 hatten Schweden und Dänemark immer eine größere Übersterblichkeit als Norwegen, Finnland und Island.“
- Schweden hatte schlechtere Voraussetzungen als seine Nachbarländer, u.a. weil das Mälartal (Stockholm und Umgebung) das größte zusammenhängende urbane Zentrum der nördlichen Länder darstellt und weil Schweden mehr „sozioökonomisch belastete“ Gegenden als die Nachbarländer hat (hier).
- Mehr als 2/3 der verglichenen europäischen Länder (konkret: 22 von 31 Ländern) haben eine größere Übersterblichkeit als Schweden. Dabei erstreckt sich die beobachtete Bandbreite von >15% Übersterblichkeit (Liechtenstein, Spanien, Polen, Slowenien, Italien, Belgien, Tschechien, Bulgarien, Großbritannien) über Schweden, Griechenland und Deutschland (7,6%; 7,5% und 5,3%) bis hin zum „Klassenprimus“ Norwegen mit einer Untersterblichkeit von -0,4%).
Was bedeutet das für Deutschland und die Bewertung der Coronapandemie im Allgemeinen? Ich finde, man muss zwei Ergebnisse hervorheben.
1. Deutlich mehr als 90 Prozent (mein Bauchgefühl) der bewertenden Coronaberichterstattung in Deutschland sind „wertlos“ (zumindest nach den Maßstäben eines in historischen Pandemien sachkundigen Wissenschaftlers). Vor allem die täglich neuen Ansteckungs- und Todeszahlen taugen einzig dazu, Angst zu erzeugen und sind ohne Übersterblichkeitskontext nur heiße Luft. Leider sieht das in Schweden nicht viel besser aus, aber immerhin bekommt man den einen oder anderen kritischen Artikel zu Gesicht.
2. Es scheint kaum eine Korrelation zwischen unterschiedlichen Lockdownniveaus in Europa, (z.B. Maskenregeln, Schulschließungen, Ausgangssperren, Ladenschließungen etc.) und der Covid-Bewertung nach Übersterblichkeit zu geben. Schweden mit seiner gemäßigten Herangehensweise (keine Maskenpflicht, keine Restaurantschließungen, fast keine Grundschulschließungen) ist unter den 10 „besten“ Ländern Europas, während harte Lockdownländer wie Spanien und Großbritannien eine deutlich höhere Übersterblichkeit aufweisen. Diese Beobachtung stimmt auch mit den hier veröffentlichten Forschungsergebnissen überein.
Politik und Medien: kein Interesse an Differenzierung
Es wäre an der Zeit, auf europäischem Niveau etwas differenzierter an der Bewertung der Coronapandemie zu arbeiten. Es scheint allerdings so zu sein, dass daran weder „die Medien“ noch „die Politiker“ ein Interesse haben. Zumindest nicht, solange Politiker davon „profitieren“, neue Coronabeschränkungen einzuführen (oder Bestehende zu verlängern), unabhängig von Sinnhaftigkeit oder wissenschaftlicher Evidenz, angefeuert von coronakriegsbesessenen Medien (Zero-Covid = Endsieg) und vorteilhaften Umfrageergebnissen. Letzteres scheint sich in Deutschland gerade zu ändern.
Neben der Übersterblichkeit gibt es noch andere Aspekte der Corona-Pandemie, über die in letzter Zeit in schwedischen Medien berichtet wurde, und die meines Wissens kaum oder gar nicht in der deutschen Berichterstattung vorkommen. Nämlich
1) Wie viele haben sich wirklich angesteckt im Verlauf des letzten Jahres?
2) Sind diejenigen, die eine Infektion durchgemacht haben (symptomatisch oder asymptomatisch), vor einer neuen Ansteckung geschützt und können sie sich vielleicht eine Impfung „ersparen“? Offensichtlich ist dies vermintes Terrain, weil „man“ ja in den Verdacht geraten könnte, Herdenimmunität könnte Teil der Strategie eines Landes sein – oder die Pandemie zu verharmlosen, weil eine wesentlich höhere echte Fallzahl als diejenige, die durch z.B. PCR und Antigentests in der symptomatischen Bevölkerung ermittelt wurde (z.B. hier), zu einer deutlichen Reduktion der berechneten oder gefühlten Tödlichkeit von Covid19 führen würde. Im Endeffekt geht es darum, „die Dunkelziffer“ zu ermitteln, die u.a. auch hier schon diskutiert wurde.
Ich fange mit Punkt 2 an. Erwirbt man durch eine durchgemachte Covid19-Infektion Immunität und bietet diese Schutz vor Ansteckung und Weiterverbreitung? Eine neue schwedische Studie (hier die Pressemitteilung der Universität Danderyd): zeigt, dass 96 Prozent der nachgewiesenen Covid-infizierten 370 Studienteilnehmer nach neun Monaten weiterhin schützende Antikörper haben und dass weniger als 1 Prozent der Studienteilnehmer sich wieder angesteckt haben (besser also als die Impfstoffe, für die ja noch gar keine Langzeitdaten verfügbar sind). Zitat der verantwortlichen Forscherin Charlotte Thålin: „Das sind ausgezeichnete Neuigkeiten. Die Antikörper funktionieren gut. Sie schützen einen davor, krank zu werden und sie schützen einen davor, angesteckt zu werden und die Krankheit weiter zu verbreiten.“ Und weiter: „Wer weiß, dass er/sie angesteckt war, kann sich in der Impfschlange hinten anstellen und andere zuerst dranlassen“.
Jetzt zu Punkt 1 (siehe oben): Wie viele Menschen haben denn jetzt diese Immunität? Eine schwierige Frage. Wie schon oben erwähnt, kann man die „beliebten“ Fallzahlen hierfür nicht verwenden, da man nichts über die Dunkelziffer weiß. In Schweden sind laut offiziellen Fallzahlen 6,4 Prozent der Bevölkerung angesteckt worden (660.000 „Fälle“ bei 10,23 Mio. Einwohnern). In Deutschland ca. 3 Prozent (2,47 Mio. „Fälle“ bei 83 Mio. Einwohnern).
Die Dunkelziffer lässt sich jedoch nur näherungsweise ermitteln, indem man eine zufällige, repräsentative Probe der Bevölkerung auf aktuelle oder vergangene Infektion (unabhängig von der Symptomatik) untersucht. Meines Wissens gibt es eine solche großskalige Studie nicht, aber etwas ähnliches wurde im Großraum Stockholm für eine zufällig zusammengesetzte Gruppe Jugendlicher durchgeführt: Hier wurden zufällig ausgewählte Jugendliche (25 Jahre im Durchschnitt, Teilnehmer einer langjährigen Studie mit 4.000 Teilnehmern seit 1994) untersucht. Dabei wurde festgestellt, dass ein Drittel der Jugendlichen Antikörper für Corona aufwies.
T und B Zellimmunität wurden nicht geprüft, werden aber im weiteren Verlauf der Studie untersucht. Man kann also davon ausgehen, dass Immunität durch Infektion noch signifikant höher als die gemessenen 30 Prozent liegt. Natürlich gibt es hier weiterhin erhebliche Unsicherheiten (z.B. aufgrund der Homogenität der Altersgruppe in der Studie) aber andere Ergebnisse weisen in die gleiche Richtung. So hatten im Großraum Stockholm im Oktober 16 Prozent der „sich testenden“ ein positives Antikörperresultat. Im November waren dies 28, Mitte Dezember 38 Prozent.
Fortschritte auf dem Weg zur Normalität
Trotz der inhärenten Unsicherheiten (siehe oben, aber auch signifikante regionale Unterschiede) lässt sich also annehmen, dass die oben erwähnte Dunkelziffer für Schweden (und sicher auch für andere Länder) in der Größenordnung Faktor 5 liegt. Die offiziellen Fallzahlen liegen also wahrscheinlich fünfmal höher als die offiziell berichteten. Mit „dramatischen“ Konsequenzen für z.B. die berechnete Tödlichkeit, aber auch für Endsiegfantasien wie „Zero Covid“ (Letzteres wurde, soweit mir bekannt, in Schweden nie ernsthaft in Erwägung gezogen).
Interessanterweise schätzte auch das RKI letzten Dezember, dass es eine Dunkelziffer in der Größe Faktor 4-6 in Deutschland bei den Neuinfektionen gibt. Wesentlichen Eingang in die Berichterstattung scheint diese Information aber nie genommen zu haben. In vielerlei Hinsicht sind dies gute „Neuigkeiten“, weil sie zeigen, dass Schweden (aber vielleicht auch Deutschland, wenn auch in geringerem Maße) damit rechnen kann, dass die „dritte Welle“ in vielerlei Hinsicht milder verlaufen wird als die erste oder zweite „Welle“.
Und, dies ist jetzt spekulativ, vielleicht schützt auch eine Infektion mit dem gesamten Virus besser vor zukünftiger ernster Erkrankung mit mutierten Versionen des Virus, als eine Impfung mit einem kleinen – wenngleich prominenten – Teil des Virus. Auch wenn häufig das Gegenteil behauptet wird. Schweden hat also durch eine Kombination von teilweiser Herdenimmunität (> 30% der Bevölkerung) und Impfung der gefährdeten Bevölkerungsteile (inzwischen > 70% der über 90-Jährigen) große Fortschritte auf dem Weg zur Normalität (will heißen, die Gesellschaft „lernt“ mit Covid-19 zu leben) erreicht.
Zum Glück keine Wahlen
Heißt das, dass wir, die wir in Schweden leben, trotz der drohenden dritten Welle ein paar Restriktionen zurücknehmen können? Leider nein, und hier komme ich zurück zu meinen Behauptungen am Ende des ersten Abschnitts dieses Artikels. „Normalität“ wird nicht zurückkehren, solange Politiker davon profitieren, neue Coronabeschränkungen einzuführen (oder Bestehende zu verlängern), unabhängig von Sinnhaftigkeit oder wissenschaftlicher Evidenz, angefeuert von coronakriegsbesessenen Medien und vorteilhaften Umfrageergebnissen.
Zum Glück haben wir keine Wahl dieses Jahr in Schweden. Und: Im Vergleich mit dem Ausland können wir uns wirklich nicht beschweren. Obwohl die Politiker in Stockholm die Zügel in den letzten Wochen angezogen haben, sind wir noch weit von „deutschen Zuständen“ entfernt. Wir dürfen Skifahren gehen, die Masken bleiben uns (meistens) erspart, die Grundschulen (bis Klasse 9) sind offen, wir dürfen uns die Haare schneiden lassen und ins Café gehen. Was will man mehr?
Nachtrag:
Ich möchte in keinster Weise leugnen, dass Covid19 eine gefährliche Krankheit sein kann, die in seltenen Fällen auch bei relativ jungen Menschen zum Tod sterben führt. Wie selten dies ist, kann man daran erkennen, dass in der Bevölkerungsgruppe der unter 45-Jährigen in Schweden über den gesamten Verlauf der Covid-Epidemie trotz massiver Verbreitung (siehe oben) jegliche Übersterblichkeit im statistischen Rauschen verschwindet. Das ist übrigens der Fall für fast alle europäischen Länder in der Euromomo Datenbank; mit der bemerkenswerten Ausnahme England. Und sogar für unter 65-Jährige gibt es keine statistisch signifikante Übersterblichkeit für die gesamte zweite Welle in Schweden und vielen anderen Ländern Europas.