Corona-Krise und Ukraine-Krieg – der große Unterschied

Von Boris Kotchoubey. 

Zahlreiche Menschen, die in der Corona-Krise auf die Einhaltung demokratischer Spielregeln pochten, fallen nun unkritisch auf die Propaganda einer undemokratischen Diktatur herein. Dabei ist es ebenso unreif, immer für seine eigene Regierung zu sein, wie sie grundsätzlich immer abzulehnen.

Andersdenkende wurden in der Geschichte immer verfolgt, aber auch sie waren nicht sehr zimperlich gegenüber ihrem zeitgenössischen Mainstream. „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler,“ sprach Jesus, der sehr wahrscheinlich selbst pharisäischer Herkunft war, „euer Inwendiges ist voll Raubes und Bosheit. Ihr seid Schlangenbrut und Otterngezücht, seid wie die übertünchten Gräber, von außen hübsch, aber innen... lauter Unrat!“ Martin Luther nannte den Papst „Antichrist, Teufelsdiener, Lästerer“, der „lügt, flucht und tobt, so wie ihn der höllische Satan treibt“. Die katholische Kirche, damals seit 1000 Jahren die geistige Grundlage der gesamten westlichen Zivilisation, nannte er „die Hurenkirche“. Karl Marx bezeichnete den seinerzeit mächtigsten europäischen Herrscher, den Kaiser Napoleon III., nicht anders als „Straßenräuber“ und rief zum gewaltsamen Umsturz europäischer Regierungen auf. 

Alles Zeugnisse einer Radikalität, die für uns gegenwärtige Kritiker der westlichen (u.a. deutschen) Politik – zu denen sich der Autor dieser Zeilen auch zählt – absolut unvorstellbar ist. Aber seltsam: Trotz dieser Radikalität bekehrte sich Jesus weder zu griechisch-römischen Göttern noch zu denen der Parther, sondern erklärte, dass er „kam, nicht um das Gesetz zu brechen, sondern um es zu erfüllen“. Luther bestand auf dem christlichen Glauben – den er anscheinend mit seiner Kirchenkritik erschütterte – und dachte nicht daran, die benachbarten Türken um die Hilfe gegen Rom zu bitten. Und im Krimkrieg 1853 bis 1856 unterstützte Marx den von ihm zutiefst verhassten französischen Kaiser und wünschte ihm im Kampf gegen Russland allen Erfolg.

Für Relativismus war kein Platz

Das liegt nicht an der zu den frühen Zeiten fehlenden Globalisierung. Die „alternativen“ Ideologien (etwa der Hellenismus im 1. Jahrhundert nach Christus und der Islam im 16. Jahrhundert) waren den radikalen Kritikern durchaus bekannt. Ihr festes Wir-Gefühl rührte nicht von Unkenntnis des Fremden her, sondern von der Wertschätzung des Eigenen. Keiner von diesen schärfsten Gesellschaftskritikern wollte nur die Missstände bekämpfen; ihre Ziele waren positiv, ihr Bekenntnis zu der eigenen Kultur (Judentum für Jesus, Christentum für Luther, der westliche Fortschritt für Marx) war absolut. Wie auch andere große Kritiker und Reformatoren, von John Wesley bis Martin Luther King, prangerten sie die falsche Praxis ihrer Gesellschaft an, um die Grundlagen dieser Gesellschaft zu bewahren. Die Grenze zwischen Selbstkritik und Selbsthass haben sie nie überschritten. Eine Relativität der Werte war ihnen vollkommen fremd; sie hätten nicht verstanden, was das überhaupt ist.

Für Marx war die Geschichte eine Kette blutiger Kämpfe zwischen „fortschrittlichen“ und „reaktionären“ Klassen. Aber verstehen wir das richtig: Das war für ihn die westliche Geschichte. Sowohl die „Fortschrittlichen“ als auch die „Reaktionären“ waren Bestandteile eines Systems, das sich schließlich zum Besseren entwickelt. Außerhalb dieses Systems gibt es keine Hoffnung. Eine asiatische Despotie kennt keine Klassenkämpfe, weil sie keine Klassen hat. In einer westlichen Sklavengesellschaft existiert außer den Sklaven auch eine Schicht der freien Sklavenbesitzer, während in Despotien alle, vom letzten Bauern bis zum höchsten Wesir, ewige Sklaven des einen Despoten sind.

Die Kombination der kritischen Reflexion über die augenblickliche Lage der eigenen Umwelt mit dem Verständnis einzigartiger Wertequalitäten dieser Umwelt charakterisiert einen Erwachsenen, der eine mündige Position erarbeiten kann. Ein Kind dagegen akzeptiert unkritisch alle Geschichten, die ihm die Eltern erzählen. Ein Volk, das seine Regierungschefin „Mutti“ nennt, neigt zu dem kindlichen Glauben, dass die Mächtigeren und Stärkeren seine Ersatzeltern sind, die sich um es kümmern und für es nur das Beste wollen. Kommt das Kind ins Pubertätsalter und merkt, dass etwas in den Geschichten der Älteren nicht stimmt, so lehnt es undifferenziert alles ab, was es mit der Familie verbindet, genauso wie es vorher alles undifferenziert hingenommen hat. Unfähig, eine selbstständige Sicht zu entwickeln, aber schon zu klug, um immer Ja zu sagen, sagt man immer Nein.

Nach Corona alle Zweifel weg

Die Corona-Krise verschärfte die Fragen nach den Mängeln der westlichen Demokratien, nach ihrer Anfälligkeit für autoritäre Tendenzen, nach der Übermacht der Medien, nach der Manipulierbarkeit der Massen, nach der Bereitschaft vieler, auf ihre Grundrechte im Namen einer allzu leicht versprochenen (angeblichen) Sicherheit zu verzichten. Die Mehrheit folgte dem von den „großen“ Medien angebotenen Narrativ, das von relativ wenigen infrage gestellt wurde. Auf diesem Hintergrund war für mich im ersten Augenblick ein Schock, dass viele von denen, die in dieser ernsthaften Lage kritische Fragen gestellt haben, plötzlich einem viel primitiveren Narrativ zum Opfer fielen.

Ich konnte nicht fassen, wie jemand, der seinen Zweifel an den Angaben des RKI und des PEI sauber mit Zahlen und Fakten begründet, nur eine Sekunde an eine absurde Anhäufung der von ungebildeten Propagandalehrlingen zusammengebastelten Lügen, deren Falschheit ins Auge springt, etwa über ein fantastisches NATO-Versprechen oder über einen „Bürgerkrieg“ in der Ukraine, glauben kann. Ich konnte nicht fassen, wie dieselben Menschen, die berechtigte Sorgen um den Zustand unserer Demokratie hegen, einen Staat respektieren können, der das absolute Gegenteil jeglicher Demokratie ist. Ich konnte nicht fassen, wie einer, der gegen die Einschränkungen der Grundrechte in Deutschland auftritt, auf eine Gesellschaft der uneingeschränkten Grundrechtslosigkeit anders als mit Abscheu reagieren kann. Denn wenn Sie in Russland von den wenigen Großstädten nur ein paar Kilometer weiterfahren und dort Menschen fragen, ob der Staat ihre Grundrechte einschränkt, so finden Sie kaum jemand, der diese Frage überhaupt verstehen würde. Das einzige Recht ist das Recht des Stärkeren; der Bewaffnete hat die Macht über den Waffenlosen, und v.a. ein Geheimdienstler hat die Macht über jeden in Russland. Der Staat, die Politik, die Wirtschaft, die Bildung – alles gehört dem Geheimdienst FSB, und jeder FSB-Offizier kann jedem Geschäftsmann sein Geschäft einfach nehmen, wenn er das nur will. Es gibt im heutigen Russland, wie in dem zu Marx‘ Zeiten, keine unabhängige Oberschicht mit eigenen Interessen, und der mächtigste Minister (Uljukaew) oder der reichste Industrielle (Chodorkowski) kann in jedem Augenblick vernichtet werden, wenn sein Verhalten dem Herrscher und dessen Hof nicht gefällt.

Verzeihung für die Pseudo-Identität

Über die außenpolitischen Ziele dieser Gesellschaft sprechen ihre Machthaber ganz offen und unverhüllt, man muss lediglich die Augen aufmachen und lesen. Das Endziel, das noch um 1500 der Mönch Philotheus, der Chefideologe des Großfürsten Iwan III. formulierte und das heute Alexander Dugin, der Chefideologe Putins, in modernen Begriffen ausarbeitet, ist der Aufbau eines Imperiums von Lissabon bis Wladiwostok mit dem Zentrum in Moskau oder Konstantinopel. Die Geschichte sei ein Kampf „der eurasischen Zivilisation“ gegen „die angelsächsische Zivilisation“, wobei die erstere am Ende gewinnen muss – und die Menschen, die nicht einmal diese Begriffe verstehen, in denen die russische Regierung die Welt sieht, belehren uns, wie wir unsere Politik gegenüber Russland aufbauen sollten.

Das konkrete Ziel im aktuellen Krieg ist die Abschaffung des ukrainischen Staates und die Umerziehung in dafür ausgebauten Filtrationslagern aller Ukrainer, die hinnehmen werden müssen, dass es keine Ukraine, keine ukrainische Sprache und keine ukrainische Nation gibt, dass sie Russen sind, die sich unter dem Einfluss der westlichen Propaganda verirrten, ihre russische Identität vergaßen und eine falsche, nicht-existierende ukrainische Pseudo-Identität annahmen, was sie bereuen und wofür sie ihre großen russischen Brüder kniend um Verzeihung bitten. Alle, die nicht umerzogen werden wollen, die nicht auf den Knien stehen und auf ihrem Ukrainertum und ihrer Sprache bestehen, müssen physisch beseitigt werden. Diesen Zielen entspricht auch die die ganze Gesellschaft durchziehende militärische Hysterie: Säuglinge werden in Kinderwagen in Form eines Panzers gefahren; patriotische Erzieherinnen in Kindergärten ziehen zu Feiertagen eine Militäruniform an und bringen den 4 bis 5-Jährigen die Regeln der Militärparaden bei. Für ein Plakat „No war!“ kann man bis zu 10 Jahren Straflager bekommen. Das ist die Gesellschaft, für die wir nach der Meinung einiger „kritischer Geister“ Verständnis und Toleranz aufbringen sollten.

Russische Massenverbrechen ignorieren

Die Tradition, russische Massenverbrechen zu ignorieren, gehört zu den schändlichsten Unsitten der europäischen und besonders der deutschen Intellektuellen. Lenin bezeichnete die westlichen Sympathisanten Sowjetrusslands als „nützliche Idioten“. Nach dem Zeugnis des übergelaufenen KGB-Mitarbeiters Bezmenov (alias Tomas Schuman) investierte der Geheimdienst für die Erschaffung von „Freundschaften“ zwei- bis dreimal höhere Summen als für die eigentliche Spionage. Als Andre Gide Europäern die Wahrheit über die stalinistische UdSSR sagte, wurde er mit den gleichen Beschimpfungen beworfen – alles Märchen! Alles westlich-imperialistische Propaganda! – wie es heute Boris Reitschuster passiert. Die von Moskau angeordnete Massenvergewaltigung und -tötung deutscher Frauen 1944 bis 1945 wird hierzulande kaum flüsternd angesprochen, obwohl es in der UdSSR während der Perestroika ein großes Diskussionsthema war (später unter Putin wieder tabuisiert). Dass das (noch) sowjetische Parlament 1989 offiziell die Mitschuld der UdSSR am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs 1939 anerkannte, wird im deutschen Geschichtsunterricht verschwiegen.

In der Bonner Republik dominierte der Antikommunismus über das Russenverstehen, abgesehen von einigen linken Kreisen, zzum Beispiel unter den Juso-Funktionären im Umkreis eines der Öffentlichkeit wenig bekannten Olaf Scholz. Das änderte sich, als sich die kommunistische Elite nach 1991 einen leichten marktkapitalistischen Anstrich gegeben hatte. Bereits 1994 schrieb ich in der Südwestpresse, dass Russland die deutsche Wirtschaftshilfe missbraucht, um ihre Armee aufzubauen, die es damals meistens in inneren Konflikten einsetzte. Die militärische Unterdrückung von „Abtrünnigen“ hatte eine höhere Priorität als die katastrophale medizinische Lage im Land. In denselben Jahren, als die Lebenserwartung der Russen um 7 Jahre abrutschte, führte das russische Militär zwei vernichtende Kriege, in denen zwischen 10 und 15 Prozent der tschetschenischen Bevölkerung getötet wurden. Das ist prozentual vergleichbar mit dem Genozid der Nazis gegen Sinti und Roma, aber mit dem Unterschied, dass das russische Verbrechen von keinem Bürgerrechtler in Deutschland zur Kenntnis genommen wurde, genauso wie die Ermordung von mehr als 100 Kindern durch russische Spezialeinheiten im ossetischen Beslan 2004.

Putins beste Frau

Aufgeblüht ist die Russophilie ab 2002, als man am Beispiel Schröder sehen konnte, dass sich diese Neigung finanziell lohnt. Ein deutscher Manager erhielt, nachdem er ein paar Unternehmen an die Wand gefahren hatte, einen Platz im Aufsichtsrat eines russischen staatseigenen (d.h. FSB-eigenen – in Russland ist der Staat und der FSB dasselbe) Konzerns. Weder die Aggressionskriege gegen Moldawien, Georgien und die Ukraine noch die Zerbombung der syrischen 4,6-Millionenstadt Aleppo durch die russische Luftwaffe 2016 verdienten auch nur die leiseste Erwähnung bei den deutschen Ostermärschen – wahrscheinlich, weil Ostern in Russland an einem anderen Tag gefeiert wird.

Die lange Regierung der „besten Frau Putins“ (Reitschuster) verfolgte eine klügere Strategie und kombinierte publikumswirksame, aber wirtschaftlich unbedeutende Sanktionen gegen Russland mit leisen aber üppigen Wirtschaftsverträgen, die Putin die durch die Sanktionen entstandenen Verluste mit etwa Faktor 100 ausglichen. Die Kreml-Beziehungen des gegenwärtigen Kanzlers sind legendär und reichen von seinen jugendlichen Duzfreundschaften mit hochrangigen SED-Funktionären bis zu jenem Mann, der heute in Moskau sitzt und der, falls sich der Freund Olaf schlecht benimmt, darüber plaudern kann, wie man sich vor den Augen eines deutschen Finanzministers 2,5 Milliarden Euro in die Hosentasche steckt. Der Alptraum von Scholz heißt nicht Atomkrieg, sondern Jan Marsalek.

Diejenigen, die jetzt laut warnen, dass Deutschland zur Teilnahme im Krieg gezwungen würde, tun so, als ob sie nicht wüssten, dass Deutschland bereits seit 2014 am Krieg zwischen Russland und der Ukraine faktisch teilnimmt – und zwar auf der Seite Russlands. Die russische Kriegsmaschine wird sowohl indirekt durch Dutzende Milliarden Euro unterstützt als auch direkt durch elektronische Komponenten, die zu militärischen Zwecken benutzt werden. Ein einziger Raketenbeschuss der Stadt Lemberg hat Russland mehr als 500 Millionen (in Worten: fünfhundert Millionen) US-Dollar gekostet! Jeder von uns kennt mindestens einen, der diesen Krieg mitfinanziert: man sollte einfach in den Spiegel schauen. Während jede Übergabe eines längst abgeschriebenen Panzers an die Ukraine als „Kriegstreiberei“ hitzige Debatten auslöst, beliefert Deutschland jährlich mit riesigen Waffenmengen solche „Pfeiler der Demokratie“ wie Katar, Brunei und insbesondere Ägypten, ohne dass dies auch nur einen deutschen Pazifisten stört.

Angst vor der Freiheit

Bei der Erklärung treffen sich zwei Komponenten. Die eine ist nationalgebunden, denn die Putin-Verehrung findet sich fast ausschließlich in Deutschland und Österreich. Das Phänomen ist so typisch deutsch wie die freiwillige Maskenpflicht. Beides sind Folgen einer alten Krankheit mit dem griechischen Namen Eleuterophobie: Angst vor der Freiheit – denn die Freiheit bedeutet für die Deutschen Chaos. Daher die natürliche Sympathie mit der russischen Gesellschaft, die keinen Freiheitsbegriff hat, und deren Zarenkult so gut dem geleugneten, aber nicht verschwundenen deutschen Führerkult entspricht.

Doch die zweite und meines Erachtens wichtigste Komponente ist der pubertierende Nihilismus. Im Kalten Krieg wurde Deutschland als jüngstes Kind des Westens nach Möglichkeit von jeglichen Sorgen befreit und von den älteren Geschwistern beschützt – ein Umstand, der nicht zum Erwachsensein und zur reifen politischen Verantwortung beiträgt. Wer nicht mehr alles unkritisch akzeptieren kann, was ihm die offiziellen Stellen sagen, lehnt alles (genauso unkritisch) ab. Der pubertierende Protestler begreift nicht, dass die totale Ablehnung genauso eine totale Abhängigkeit von den Eltern bedeutet wie die totale Akzeptanz. Wer jedem Wort der „großen“ Medien glaubt, wird von den Medien manipulierbar. Wer keinem Wort glaubt, ganz genauso. Denn die Wahrheitssuche ist ein viel schwierigeres Unterfangen, als einfach die Lüge mal minus 1 zu multiplizieren.

Die klugen Eltern wissen, wie man mit den trotzigen Jugendlichen umgeht: Man befiehlt ihnen einfach das Gegenteil dessen, was man eigentlich will. In der Politiktechnologie ist das Verfahren bekannt: Man provoziert in der Öffentlichkeit eine oppositionelle Kritik, die die Regierung zu den Maßnahmen „zwingt“, die die Regierung eigentlich durchführen will, aber ohne diese Kritik nicht kann (siehe die Klimaproteste). Nichts bezeugt die Infantilität der Kritiker der Ukraine-Politik besser als der Fakt, dass sie sich mit ihrem Frondieren gegen pro-ukrainische Medien just genau auf der Linie der deutschen offiziellen Politik seit mindestens 20 Jahren befinden – ein reiner Zufall natürlich! In ihren gutgemeinten Protesten sagen sie exakt das, was Schröders, Merkels und Scholzes hören wollen.

Die Goldene Horde und die Litauer

Die alte Rus (ca. 860–1240) mit ihrer Hauptstadt Kiew war für jene Zeiten ein typischer europäischer Staat mit dynastischen Verbindungen zu Byzanz, Polen, Ungarn, skandinavischen Königreichen und Frankreich. Die Herrschaft der Fürsten (schwedischer Wikinger-Herkunft) kombinierte sich dort mit Elementen einer direkten Demokratie, indem die größeren Städte ihre Fürsten als Angestellte betrachteten, welche nach dem Beschluss der Volksversammlung zum Regieren eingeladen oder entlassen werden konnten. Nach dem mongolischen Ansturm in der Mitte des 13. Jahrhunderts fielen die östlichen Provinzen der Rus an die Goldene Horde, und dort, in dem von Mongolen als Vorposten ihrer Westbewegung gewählten Städtchen Moskau, entwickelte sich der charakteristisch asiatische Herrschaftstyp mit einer absoluten, uneingeschränkten Macht einer einzigen Person und der ebenso uneingeschränkten Knechtschaft aller anderen.

Während die nordwestliche Ecke der alten Rus durch ihre Beziehung zur Hanse frei blieb, bildete der große Westen einen Teil des Grußfürstentum Litauen, das im 14. Jahrhundert von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Die litauische Oberschicht war sehr dünn, und die meisten Bewohner ihres Reiches waren Ostslawen, Ahnen der heutigen Ukrainer und Weißrussen. Die Amtssprache war neben Latein kein Litauisch, sondern Ruthenisch, eine ostslawische Sprache. 1362 zerschlugen die Slawen unter litauischer Führung in der Schlacht am Blauen Wasser das Heer der Goldenen Horde und setzte damit allen Versuchen der Mongolen, nach Westen durchzudringen, für immer ein Ende.

Der Katholizismus und die Orthodoxie

Als sich Litauen 1569 mit dem katholischen Polen zu einem Staat zusammenschloss (nachdem es bereits seit 1386 eine Personalunion mit Polen eingegangen war) und dadurch katholisch wurde (Anm. d. Red.: Litauen war der letzte Staat Europas, der 1387 seine einheimische europäische Religion zugunsten des Christentums aufgab) nahm die konfessionelle Spannung mit der orthodoxen ostslawischen Bevölkerung zu. Deswegen trennten sich die ukrainischen Kosaken 1654 von Polen-Litauen und begannen eine immer engere Zusammenarbeit mit dem Moskauer Reich.

Nach dem Ende des Nordischen Krieges vor fast genau 300 Jahren (Ende November 1721) entwickelte sich im Laufe der nächsten 80 Jahre aus diesem Bündnis eine zentralistische Unterdrückung der Ukraine durch die Regierung (jetzt in Sankt Petersburg), und im 19. Jahrhundert kam die Zwangsrussifizierung mit Verboten der ukrainischen Kultur und Sprache dazu. Unter dem polnischen Joch waren ukrainische Bauern immerhin noch persönlich frei, in Russland wurden sie Leibeigene. Damit wurde eine Basis für weitere schwere Konflikte in der Zukunft gelegt.

Nachdem nun die Ukrainer in den letzten Februartagen 2022 alle Prognosen aller Thinktanks zwischen Moskau und Washington widerlegt und „das Wunder am Dnjepr“ geschafft haben, ist ihr Sieg nur eine Frage der Zeit, weil die russische Armee trotz ihrer großen quantitativen und technischen Überlegenheit keine Motivation außer Raub und Vergewaltigung hat, während die Ukraine weiß, dass „without victory there is no survival“ (Churchill 1940).

Das Europa, das die Ukraine meint

Die Hoffnung des Kremls bleibt die forcierte Schröderisierung der westlichen Eliten, um den Krieg in der gegenwärtigen, noch für Russland relativ günstigen Lage einzufrieren, vor den wie immer geschlossenen Augen „nützlicher Idioten“ einen Genozid in den annektierten Gebieten umsetzen zu können und Kräfte für einen nächsten Angriff zu sammeln.

Der Westen aber, zu dem die Ukrainer gehören wollen, ist nicht unbedingt der, den wir momentan haben. Es ist der Westen der bürgerlichen Freiheiten und der Herrschaft des Rechts, der Westen des autonomen Subjekts, der Westen, in dem die menschliche Person der höchste Wert und die Menschenwürde das oberste Prinzip ist. Es ist nicht der Westen der inkompetenten Politiker, der Prinzipienlosigkeit, der Pharma-Lobbyisten, der gefälschten Studien und des maroden Geldsystems. Auch wenn die Ukrainer sagen, sie wollten in die EU, so wollen sie nicht ein östliches Imperium gegen ein westliches tauschen und meinen keinen globalisierten Europa-Brei, sondern ein Europa der Vaterländer, in dem sie, wie jede andere europäische Nation, wie ihr westliches Spiegelbild Ungarn, ihre nationale Identität und Souveränität behalten können.

Bemerkt Ihr Euren eigenen Widerspruch?

Die Frage ist, ob es den erstgenannten Westen, den der Aufklärung, überhaupt gibt. Erwartungsgemäß ist die Antwort der radikalen Jugend ein radikales „Nein“. Dieser Westen sei nur ein Mythos, ein Narrativ der Älteren – erfunden, um uns zu steuern. Ich aber will diese Frage nicht mit einem schwachen „Ja“ beantworten, sondern mit einem ebenso radikalen „Wenn“. Wenn es nämlich diesen Westen nicht gibt, so hat jegliche Kritik an dem anderen, „schlechten“ Westen (unfähige Politiker, Pharma-Lobby usw., s.o.) keinen Sinn. Denn auf welcher Grundlage sollen die Missstände kritisiert werden? Wie kann man argumentieren, dass uns Minister und Experten die Unwahrheit sagen, wenn es keine Wahrheit gibt?

Wenn die Verantwortung der Politiker vor ihrem Volk nur ein Märchen ist, wieso kritisieren wir z.B. Frau Lambrecht – sie ist bloß mit ihrem Sohn in Urlaub gefahren, das würde auch jeder von uns gerne tun. Warum gefällt uns nicht, dass diejenigen, die Masken- und Testpflicht einführen, auch mit Masken und Tests Geschäfte machen, wenn wir sowieso nichts anderes erwarten können? Aus welchem Grund werfen die Kritiker der Regierung vor, dass sie unsere wichtigsten Menschenrechte eingeschränkt hat, wenn diese Menschenrechte keine Basis unserer Zivilisation sind, sondern nur ein Narrativ, das man genauso gut gegen ein anderes – zum Beispiel das Putinsche – Narrativ austauschen könnte? Nihilismus kommt von „nihil“ (= nichts), und aus nichts kommt nichts, wie der King Lear im gleichnamigen Drama mehrmals wiederholt hat. Wie Jesus, Marx, die beiden Martin Luther u.v.a. zeigten, ist eine konstruktive Kritik an einem Zivilisationsmodell nur aus den Grundwerten derselben Zivilisation möglich; eine andere gibt es nicht.

Wenn es aber den oben genannten Westen doch gibt, so verdienen die Menschen, die mit Einsatz ihres Lebens für ihn kämpfen, unseren höchsten Respekt. Nicht wir verteidigen sie mit unseren Waffen, sondern sie verteidigen uns mit ihrem Leben. Sie tun das Gleiche, wie ihre Vorfahren in der Schlacht am Blauen Wasser 1362 getan haben, während wir uns jetzt in einfachen logischen Fragen verirren.

 

Boris Kotchoubey arbeitet als Professor für Psychologie an der Universität Tübingen.

Foto: Frabk Pilgram

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Michael Stoll / 23.06.2022

Bis dorthin habe ich den Text auf der Suche nach Argumenten und Fakten überflogen: “...dass Deutschland bereits seit 2014 am Krieg zwischen Russland und der Ukraine faktisch teilnimmt – und zwar auf der Seite Russlands.” Dann musste ich vor Lachen abbrechen. Ist das noch “Die Achse des Guten” oder wurdet ihr übernommen?

Marco Mahlmann / 23.06.2022

Es ist tatsächlich nicht zu fassen. Es ist nicht zu fassen, wie dieselben Leute, die sehr kritisch bei Corona sind und alles prüfen und von überall her Fakten zusammentragen, im Hinblick auf die Ukraine völlig einseitig der ukrainischen Propaganda glauben, komplett die Berichterstattung über die Ukraine bis zum Herbst/ Winter 2021 ausblenden, Selenskyj noch mehr verehren als die Lauterbach-Jünger ihren Heiland und jedwede Relativierung, jede Infragestellung des ukrainischen Narrativs als Parteinahme für Putin brandmarken. +++ Auch wenn die Selenskyj-Trolle unter den Autoren und Kommentatoren bei der Achse es partout nicht wahrhaben wollen: Den Achse-Lesern geht es vor allem um eine ausgewogene und unvoreingenommene Berichterstattung. Genau die gibt es beim Ukraine-Krieg nicht. Die Achse ist hier klar voreingenommen, klar parteiisch zugunsten der Ukraine und gegen Putin. Das ist das, was die Leserschaft hier kritisiert. +++ Der Verfasser dieses Artikels sollte seine eigenen Worte beherzigen und sich mit der derzeitigen ukrainischen Regierung nebst ihrer beiden Vorgänger befassen. Das ist nicht der Westen, wie ihn sich Kant, Montesquieu, Locke und viele andere vorgestellt haben.

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