Was unter dem Label Corona juristisch geschieht, muss man als eine Form des Zivilisationsbruchs bezeichnen, nach 70 Jahren dauernder, weitgehend freiheitlicher Ordnung. Ermöglicht durch Winkelzüge.
Was seit 2020 unter dem Label Corona juristisch geschieht, darf und muss man als eine Form des Zivilisationsbruchs bezeichnen. Ein Zivilisationsbruch, der eine circa 70 Jahre dauernde, mehr oder weniger freiheitliche Ordnung in Deutschland beendet hat. Er ist Ausdruck einer neuen radikalen Denkweise (siehe unten 1.), begründet mit den althergebrachten juristischen Denkmustern (siehe 2.) und gebilligt und unterstützt von einem Heer williger Juristen, vor allem in den Ministerien, in den Parlamenten und in den Verwaltungs-/Verfassungsgerichten, aber auch von sich öffentlich äußernden Juristen (siehe 3.).
1. Die radikal neue Denkweise
Die aktuelle Debatte zu „2G“ und Impfpflicht zeigt: Es wird gar nicht mehr grundsätzlich hinterfragt, ob die Corona-Einschränkungen an sich mit einer freiheitlichen Ordnung vereinbar sind. Sondern es wird nur noch darüber diskutiert, ob es gerechtfertigt sei, Nicht-Geimpfte schlechter zu stellen als Geimpfte. Selbst der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Voßkuhle tut dies (siehe hier). Das ist etwa so, als wenn man erst einmal alle vorbeugend einsperrt und dann darüber redet, unter welchen Voraussetzungen eine Entlassung wegen guter Führung in Betracht kommt.
Es ist eine neue, radikale Denkweise, die sich im Deutschland des Grundgesetzes (und nicht nur hier) verbreitet hat. Erstmals wurde nicht ein konkretes, potenziell gefährliches Verhalten (zum Beispiel Autofahren) unter Vorbehalt gestellt und reguliert (zum Beispiel Führerschein und Geschwindigkeitsbeschränkungen). Erstmals wurde die Gesamtheit der sozialen Lebensäußerungen an sich staatlichen Beschränkungen, Regulierungen und Verboten unterworfen – vom Verlassen der Wohnung über Kindergeburtstage, die gemeinschaftliche Ausübung von Sport und Kultur bis hin zum Erarbeiten des Lebensunterhalts insbesondere als Einzelhändler/Gastronom.
Erstmals wurde der Normalzustand, der Gesunde in nahezu allen Lebensäußerungen allgemein unter Gefahrenverdacht gestellt, ohne Rücksicht darauf, ob zumindest konkrete Anhaltspunkte für eine etwaige Gefährlichkeit des Einzelnen vorliegen. Das gab es bisher allenfalls punktuell, zum Beispiel bei den Kontrollen vor dem Besteigen von Flugzeugen. Erstmals zielen außerdem Maßnahmen auf den (Teil-)Ausschluss bestimmter Personengruppen (Nicht-Geimpfte) vom öffentlichen Leben.
„Deine Freiheit endet da, wo meine Gesundheit gefährdet wird“
Auch wenn man einmal theoretisch unterstellt, dies alle geschähe aus redlichen Motiven und echter Notwendigkeit: Eine Ordnung, die solches als erlaubt betrachtet, trägt zu unrecht die Bezeichnung „freiheitlich“.
Zwar besaß die Freiheit in Deutschland auch schon vor Corona nicht gerade den höchsten Stellenwert. Doch mit Corona wurde allgemein, jedenfalls von zu vielen, akzeptiert, dass letztlich jeder soziale Kontakt, jedes menschliche Handeln staatlich regulierbar ist, dass es einen grundsätzlich unantastbaren Kernbereich menschlichen Lebens nicht mehr gibt, und auch dass Menschen vom öffentlichen Leben völlig ausgeschlossen werden dürfen. Es wurde akzeptiert, die Fiktion „jeder Mensch = Gefahr“ zur Grundlage des Miteinanders zu machen. Zugleich wurde akzeptiert, dass ein nur mögliches künftiges Unheil (zum Beispiel drohende Überlastung von Krankenhäusern) vorbeugend mit dem unheilvollen Mittel eines allumfassenden Grundrechtsentzugs bekämpft werden darf. Diese Sichtweise beschränkt sich nicht auf Corona, das Bundesverfassungsgericht hat sie sich mit seinem Klimaurteil bereits in einem anderen Bereich zu eigen gemacht.
Diese allgemeine Akzeptanz hat ihren Ausdruck gefunden in der plakativen und zugleich bösartigen Aussage, die vielfach demjenigen entgegnet wird, der sich auf seine Freiheitsrechte beruft: „Deine Freiheit endet da, wo meine Gesundheit gefährdet wird.“ Bösartig deshalb, weil implizit unterstellt wird, der Andere sei ein Gefährder, ohne dass irgendwelche konkreten Anhaltspunkte für eine Gefährdung vorliegen müssen; der einzige, aber völlig unspezifische Anhaltspunkt ist das bloße Menschsein mit der darin zwangsläufig verbundenen Möglichkeit von Virenübertragungen.
2. Die juristische Begründung des Zivilisationsbruchs
Wie konnte dies juristisch betrachtet geschehen? Weil die tatsächlichen Machtstrukturen es hergeben – so könnte man einfach sagen. Aber auch Machthaber bevorzugen es, wenn ihr Tun juristisch untermauert wird.
Es war möglich auf Basis der althergebrachten juristischen Denkmuster. Nicht einmal einer Grundgesetzänderung bedurfte es. Übergesetzliche Basis der Freiheitsbeschränkungen ist die sogenannte Schutzpflicht des Staates. Auf Gesetzesebene ist es der Begriff der Gefahrenabwehr.
Schutzpflicht des Staates meint: der Staat habe die Pflicht, Gesundheit und Leben seiner Bürger zu schützen. Nun wird man sich schnell darüber einig sein, dass dazu beispielsweise das Bereitstellen eines ausreichenden Gesundheitssystems gehört. Doch der Schutzpflichtgedanke wurde quasi ins Unendliche übersteigert: der Staat müsse die Bürger in höchstmöglichem Maße in ihrer Gesundheit und damit letztlich vor jeglicher Ansteckung schützen; bei einer über die Atemwege verbreiteten Infektionskrankheit zwingt diese Sichtweise dann geradezu dazu, möglichst jeden sozialen Kontakt zu beschränken. Dabei sind die Menschen im allgemeinen durchaus verantwortungsvoll und würden etwa bei einer tatsächlich der Pest früherer Zeiten vergleichbaren Krankheit von ganz alleine auf unnötige soziale Kontakte verzichten und Schutzmaßnahmen ergreifen.
Wer Symptome hat, ist kein Geimpfter mehr
Diese Ausdehnung der staatlichen Schutzpflicht war möglich, weil zugleich der wohl älteste „Trick“ der Politik Anwendung fand, nämlich das Aufbauschen einer Gefahr. Zum einen wurde die Gefahr für so groß erklärt, dass zu ihrer Abwehr nahezu alle Mittel recht sind. Zum anderen wurde fingiert, dass auch Gesunde (zunächst alle, nunmehr vornehmlich Nicht-Geimpfte) gefährlich seien. Diese Gefahr hat man über nicht aussagekräftige Parameter und mit Täuschungsabsicht erzeugt und hochgehalten. So zählen beispielsweise Behörden wie das Robert-Koch-Institut (RKI) abweichend von den gesetzlichen Definitionen des Infektionsschutzgesetzes als Neuinfektionen auch bloße positive PCR-Tests (siehe ausführlich hier). Anmerkung: Fehlerhafte Zählungen haben geradezu System. So sind auch die aktuellen Zählungen zur Berechnung der Hospitalisierungsinzidenz fehlerhaft (siehe hier).
Wie weit solcher „Betrug“ mittlerweile regelungstechnisch geht, zeigt § 2 COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung. Dort wird zunächst die asymptomatische Person definiert, bei der kein Symptom (wie Atemnot, Fieber, Husten, Verlust des Geruchs-/Geschmackssinns) oder sonstiger Anhaltspunkt für eine Infektion vorliegt. Sodann wird definiert als geimpfte Person: „eine asymptomatische Person, die im Besitz eines auf sie ausgestellten Impfnachweises ist“. Ein Geimpfter ist also nur dann auch Geimpfter im Sinne der Verordnung, wenn er keine Symptome hat. Oder andersherum gesagt: Wer Symptome hat, ist kein Geimpfter mehr, auch wenn er eine Impfung erhalten hat.
Es ist der vorläufige Höhepunkt einer Regelungstechnik aus Gesetz, diversen Verordnungen und (von den Gerichten nicht hinterfragten) RKI-Richtlinien, die im Ergebnis bedeutet: Jeder wird für verdächtig erklärt, aus Gesunden werden potenzielle Gefährder. Jeder muss vor der Teilnahme am allgemeinen sozialen Leben nachweisen, dass er bezüglich eines konkreten Virus sauber, also nichtgefährlich sei. Das ist etwas grundlegend Neues in der bundesdeutschen Geschichte.
3. Deutschland 2020/21: rechtsschutzloser Raum
Wer dem von Politik und Medien verbreiteten allgemeinen Narrativ ablehnend gegenübersteht, wird häufig auf den Rechtsweg verwiesen. Das ist weitgehend sinnlos. Denn die Gerichte haben sich das Narrativ zu eigen gemacht.
Das lässt sich an einer Entscheidung des OVG Berlin/Brandenburg zur Maskenpflicht von Grundschülern exemplarisch zeigen. Das OVG schreibt: „Denn abgesehen davon, dass u.a. das Robert-Koch-Institut daran festhält, dass auf Grundlage der bisher vorliegenden Studien weder die Infektiosität im Kindesalter abschließend bewertet noch eine Aussage darüber gemacht werden könne, welche der Altersgruppen innerhalb der Kinder am infektiösesten sei, wäre selbst eine mit den angeführten Erkenntnissen nur belegte geringere Empfänglichkeit und Infektiosität insbesondere jüngerer Kinder unter 10 Jahren nicht geeignet, die Einschätzung des Verordnungsgebers in Zweifel zu ziehen, dass das Tragen von Masken im Unterricht das danach zwar geringere, aber keineswegs ausgeschlossene Risiko einer Verbreitung des Virus durch unerkannt infizierte Schüler innerhalb der Schulen zu reduzieren vermag.“
Erscheint auf den ersten Blick juristisch ganz ordentlich begründet. Ist jedoch inhaltlich eine Luftnummer. Heißt nämlich im Klartext: 1. Das RKI hat auch nach 1,5 Jahren keine Ahnung, aber das ist dem Gericht egal. 2. Es genügt, dass das Risiko einer Verbreitung des Virus' durch unerkannt infizierte Schüler nicht ausgeschlossen ist. Bedeutet im Ergebnis: 1. Die fortgesetzte Ahnungslosigkeit der Regierung/Behörden verhilft diesen zum Prozesserfolg. 2. Das bloße Menschsein wird vom Gericht zur Gefahr erklärt. Denn das Risiko einer Virusübertragung kann naturgemäß niemals ausgeschlossen werden, wenn Menschen Kontakt haben.
Es ist eine „Vielleicht“-Rechtsprechung, die hier Anwendung findet: Vielleicht gibt es einen gesunden, aber unerkannt infizierten Schüler, der vielleicht einen anderen Schüler ansteckt, der vielleicht einen Dritten ansteckt, der vielleicht krank wird. Um das zu verhindern, dürfe der Staat Maßnahmen aller Art ergreifen. Auch wenn es in dieser Entscheidung „nur“ um die Maskenpflicht für Schüler für zwei Wochen geht: das Muster ist das gleiche wie bei den anderen Grundrechtseingriffen. Diese Art der Rechtsprechung macht den Einzelnen weitgehend chancenlos.
Juristische Verhöhnung der Freiheitsrechte
Hinter solchen Entscheidungen steht letztlich eine Denkweise, die einer Verhöhnung des Individuums und seiner Freiheitsrechte gleichkommt. Beispielhaft sei das an einer Argumentation aus dem Artikel Impfzwang als Institutionenschutz auf dem Verfassungsblog verdeutlicht. Darin empfiehlt der Autor den Impfzwang aus Solidarität gegenüber dem Staat zum Schutz seiner [angeblich] die Freiheit ermöglichenden Institutionen. Er schreibt: „Die Solidaritätsbindung besteht in dieser Lesart nicht mehr auf horizontaler Ebene gegenüber den übrigen Individuen, sondern entspringt unmittelbar dem vertikalen Verhältnis des verpflichteten Bürgers zu seinem Staat.“ Demnach sei der Einzelne dem Staat solidarisch verpflichtet, seine Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit dem Staatsinteresse untergeordnet. Oder kurz gesagt: Unfreiheit (Impfzwang) schützt Institutionen, Institutionen ermöglichen Freiheit. Oder ganz kurz: Unfreiheit ist Freiheit. Juristen können eben alles rechtfertigen.
Eine solches Verständnis von staatssolidaritäts-gebundener Freiheit macht umfassende Grundrechtseingriffe aller Art möglich, auch im Kernbereich des sozialen Lebens. Sie ist vielfältig anwendbar und entspricht der „Argumentation“ der SED/Linken zum Mauerbau 1961: dieser sei erforderlich gewesen, um den Bestand des Staates DDR und seiner Institutionen zu schützen, sei es angeblich vor dem Klassenfeind, sei es um den anhaltenden Exodus junger und gebildeter Arbeitskräfte (zum Beispiel auch aus dem Gesundheitssektor) zu beenden.
Diese Art von Freiheitsverständnis scheint auch in der Richterschaft der Verwaltungs-/Verfassungsgerichte vorzuherrschen. Nicht anders ist es zu erklären, dass die Gerichte in Sachen Corona seit mehr als 1,5 Jahren die Parlamente, Regierungen und Behörden nicht in ihre Schranken verwiesen haben. Das ist auch nicht zu erwarten, wenn die Gerichte irgendwann einmal die Hauptsacheverfahren entscheiden, wovor sie sich bisher gedrückt haben. Im Oktober/November 2021 will das Bundesverfassungsgericht voraussichtlich zur sogenannten Bundesnotbremse entscheiden – nachdem diese bereits seit 01.07.2021 außer Kraft getreten ist. Das Gericht betreibt dann also quasi Geschichtsschreibung statt Rechtsprechung.
Faktisch besteht damit ein rechtsschutzloser Raum. Wenn Gerichte in Sachen Corona gelegentlich einmal zugunsten des Untertans entschieden haben, so dann zumeist wegen Widersprüchlichkeit von Regelungen. So zum Beispiel, wenn in Straße X eine Maskenpflicht eingeführt wurde, nicht aber auf der ebenso frequentierten Straße Y, oder wenn das Fitnessstudio geschlossen wurde, nicht aber die Vereinssporthalle. Solche Entscheidungen tun den Verordnungsgebern nicht weh. Es sind vielmehr Pyrrhussiege der Betroffenen. Denn die gerichtlich festgestellte Ungerechtigkeit wird sogleich einfach dadurch beseitigt, dass auch Straße Y und die Sporthalle in die Maßnahmen einbezogen werden. Schon ist der Gerechtigkeit wieder Genüge getan (Ironie!).
Und gibt es gelegentlich einmal aus der Richterschaft echten Widerspruch grundsätzlicher Art gegen Corona-Maßnahmen, dann eher aus anderen Gerichtsbereichen wie den Amtsgerichten. Solchen Bestrebungen weiß man allerdings ganz schnell zu begegnen: Abweichler in Richterrobe müssen damit rechnen, medial fertiggemacht und zum Teil sogar mit Strafaktionen (Hausdurchsuchungen) überzogen zu werden.
Totalitär-demokratische Grundordnung
Mit Corona hat sich der Charakter der Freiheitsrechte des Grundgesetzes grundlegend verändert. Sie sind zu Privilegien mutiert, die der Staat nach Gutdünken entzieht oder zurückgewährt. In der öffentlichen Diskussion ist wie selbstverständlich davon die Rede, Grundrechte zurückzugeben – unter bestimmten Voraussetzungen –, Rechte, die man zuvor genommen hat. Das war und ist nur möglich, weil sich die Gerichte dem nicht entgegengestellt haben. Als es wirklich mal darauf ankam, zeigte sich: sie sind nicht die vielgepriesene unabhängige Gewalt, sondern nur ein müder Abklatsch der Gesellschaft, der jeglicher Sinn für den Wert der Freiheit und für Eigenverantwortung abhandengekommen ist.
Anmerkung: Auch die Geimpften erhalten im übrigen ihre Rechte nicht einfach zurück, sondern nur als kontrollierte Rechte. Auch sie müssen sich überall registrieren und kontrollieren lassen. Diese Kontrolle soll möglichst digital erfolgen. Siehe zum Beispiel die neue Sächsische Corona-Schutzverordnung vom 24.08.2021: Vorrangig digitale Systeme sollen für die Kontakterfassungen und die Nachweise des Nichtvorhandenseins eines Virus (Impf-, Genesungs-, Testnachweise) bei üblichen sozialen Kontakten (zum Beispiel Friseur-, Restaurantbesuch, Hallensport, Universitätsvorlesungen) eingesetzt werden. Und diese Kontrolle ist auf unbegrenzte Dauer angelegt, wie die fortgeschrittenen Planungen zur Einführung zunächst von digitalen Impfpässen und sodann von digitalen Identitäten zeigen.
Eine Mehrheit scheint damit einverstanden – eine Mehrheit der Juristen und der Untertanen. Aber so läuft Demokratie nun einmal: Die Mehrheit entscheidet. Sie entscheidet, was einem gehört und was nicht und was man tun darf und was nicht. Wenn die Mehrheit sich selbst dabei keine Schranken auferlegt und den Einzelnen in allen Lebensbereichen und bis in den Kernbereich des sozialen Miteinanders beschränkt und unter Kontrolle stellt, mag das demokratisch sein; totalitären Charakter hat es dennoch.
Demokratie und totalitär gingen bisher in der Politikwissenschaft nicht zusammen. Zeit, auch insoweit neu zu denken. Die Ära der freiheitlichen Demokratie in Deutschland jedenfalls ist beendet. Das Corona-Virus hat mehr als nur Menschen infiziert, es hat einer bereits gezeichneten, immun-inkompetenten liberalen Gesellschaft den Rest gegeben. Eine grundlegende Erholung oder Wiederauferstehung einer liberalen Gesellschaftsordnung ist nicht in Sicht. Dies darf man feststellen, auch ohne zugleich eine Heilbehandlung anbieten zu können.