Der Europäische Rechnungshof lobt die Corona-Reaktion der EU. Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich: Bei der Zulassung von Impfstoffen wurden alle üblichen Sicherheitsstandards über den Haufen geworfen, es wurden millionenfach Berichte über Nebenwirkungen registriert und die Verantwortlichen stellen sich gegenseitig Persilscheine aus.
Der Europäische Rechnungshof (EuRH) veröffentlichte am 4. September einen Sonderbericht mit der Überschrift: „Reaktion der EU auf die COVID-19-Pandemie“. Im Untertitel der 56 Seiten umfassenden Broschüre wird gleich das Ergebnis zusammengefasst: „Die medizinischen Agenturen der EU haben ihre Aufgabe trotz der beispiellosen Umstände im Allgemeinen gut bewältigt.“ Zwar hätten die Europäische Arzneimittel-Agentur (European Medicines Agency, kurz: EMA) und das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (European Centre for Disease Prevention and Control , kurz: ECDC) sich gut an die Krisenlage angepasst, doch habe die Pandemie ein Schlaglicht auf die bestehenden Mängel und Lücken geworfen. In jüngster Zeit habe die EU Schritte unternommen, um Abhilfe zu schaffen. Allerdings sei die EU noch nicht umfassend auf die Bewältigung von Notlagen größeren Ausmaßes im Bereich der öffentlichen Gesundheit vorbereitet.
Während die EMA mit Sitz in Amsterdam für die Überwachung und Zulassung von Arzneimitten in der EU zuständig ist, kümmert sich das ECDC, das in Schweden ansässig ist, um die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Risikobewertung. Mithilfe des europäischen Überwachungssystems TESSy greift das ECDC auf Daten aus den EU-Ländern zu 52 Infektionskrankheiten zurück.
2021 wurde nun das Online-Überwachungsportal EpiPulse ins Leben gerufen, durch das die europäischen Gesundheitsbehörden Daten besser austauschen können sollen. Der Rechnungshof bemängelt in seinem Bericht, dass das ECDC zunächst für einige Wochen den Ernst der Lage unterschätzt habe. In seiner Risikoschnellbewertung vom 12. März 2020, die drei Tage nach der Verhängung eines nationalen Lockdowns in Italien veröffentlicht wurde, habe das ECDC dann jedoch die Notwendigkeit unverzüglicher gezielter Maßnahmen erkannt.
Probleme habe es bei der Erhebung von Daten gegeben, da die Systeme der Mitgliedstaaten häufig keine automatische Datenübermittlung an TESSy ermöglicht hätten. Außerdem seien aufgrund nationaler methodischer Unterschiede bei der Klassifizierung von Todesursachen und der Erfassung von COVID-19-Fällen die Daten oft nicht vergleichbar gewesen, was zur Meldung sowohl von zu niedrigen als auch von zu hohen Zahlen geführt hätte. Einige Länder hätten beispielsweise alle Todesfälle, bei denen COVID-19 möglicherweise eine Rolle spielte, als Todesfälle infolge von COVID-19 gemeldet, ohne Labortests zu verlangen, während andere Länder Todesfälle erst bei Vorliegen eines positiven Testergebnisses als COVID-19-Todesfälle erfasst hätten.
Ein Grund für die Diskrepanzen bei den verfügbaren Daten liege auch in der fehlenden Verknüpfung zwischen den Systemen der Mitgliedstaaten und der EU. Der wichtigste internationale Partner des ECDC sei das WHO-Regionalbüro für Europa. Bereits im Juni 2019 habe die Agentur außerdem ein Netzwerk globaler Zentren für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten eingerichtet, darunter sieben Zentren außerhalb der EU (in Afrika, Kanada, der Karibik, China, Israel, Thailand und den Vereinigten Staaten).
Risikoschnellbewertung
Darüber hinaus habe das ECDC Leitlinien mit Reaktionsmöglichkeiten vorgestellt, aus denen die Mitgliedstaaten wählen konnten. Sie seien zwar nützlich gewesen, jedoch nicht immer zeitnah herausgegeben worden. Leitlinien zu zentralen Themen wie Gesichtsmasken und Kontaktnachverfolgung seien erst gegen Ende der ersten Welle (April bis Mai 2020) veröffentlicht worden, nachdem mehrere Mitgliedstaaten bereits eigene Leitlinien herausgegeben hatten, was das Risiko von voneinander abweichenden Empfehlungen mit sich gebracht und zu einer nicht koordinierten Reaktion der EU geführt habe. Auch auf Strategien der gezielten repräsentativen Überwachung wie z.B. die „Sentinel-Überwachung“ (Überwachung der Inzidenz von Krankheiten anhand von regelmäßigen Meldungen einer bestimmten Zahl von Arztpraxen) und auf die Analyse der Viruslast im Abwasser sei nur in begrenztem Umfang zurückgegriffen worden.
In seiner Risikoschnellbewertung von Juli 2020 und seinen Reiseleitlinien von März 2021 habe das ECDC zwar erklärt, dass es Reisebeschränkungen für Reisen innerhalb des Schengen-Raums nicht als wirksames Mittel zur Verringerung der Übertragung der Krankheit betrachte. Trotzdem hätten die meisten EU-Mitgliedstaaten die Freizügigkeit der Bürger gemäß den vom Rat der Europäischen Union vereinbarten Bedingungen eingeschränkt. Das ECDC habe seine wichtigsten Ergebnisse größtenteils öffentlich verfügbar gemacht, sich dabei aber nicht direkt an die breite Öffentlichkeit gerichtet, sondern vor allem an Angehörige der Gesundheitsberufe und politische Entscheidungsträger. In seiner Kommunikationsstrategie für 2022 bis 2027 würden nun jedoch EU-Bürgerinnen und -Bürger ausdrücklich als Zielgruppe genannt. Außerdem habe die Überprüfung des Mandats des ECDC zu weiteren 73 Stellen für den Zeitraum 2020 bis 2024 geführt, wodurch sich die Gesamtzahl der Stellen auf 353 erhöht habe.
Während sich die finanziellen Mittel des ECDC im Jahr 2020 auf 61 Millionen Euro beliefen (2023: 90 Millionen Euro), verfügte die EMA 2020 über 358 Millionen Euro (2023: 458 Millionen Euro). Im Jahr 2021 wurden der EMA 61 zusätzliche Stellen und für den Zeitraum 2023 bis 2025 weitere 43 Stellen zugewiesen, sodass sich die Gesamtzahl der Stellen auf 980 beläuft. Genau genommen ist die EMA ist für die wissenschaftliche Bewertung von Anträgen auf zentralisierte Zulassungen von Arzneimitteln im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) zuständig. Mit Unterstützung der Kommission habe die EMA laut EuRH-Bericht ihre regulatorische Flexibilität genutzt, um das Verfahren zur Bewertung von COVID-19-Impfstoffen und -Behandlungen zu beschleunigen. Ferner habe die EU-Kommission die Vorschriften für Zulassungen von Arzneimitteln geändert, um die Anpassung von COVID-19-Impfstoffen an neue Virusvarianten zu erleichtern.
Verwaltung statt Wissenschaft
Sobald ein Pharmaunternehmen einen Zulassungsantrag gestellt hat, bewerte die EMA, ob stichhaltige Nachweise für die Qualität, Sicherheit und Wirksamkeit eines Arzneimittels vorliegen, sodass dessen Nutzen etwaige Risiken überwiegt. Nach der Zulassung prüfe die EMA alle Folgeanträge auf Änderung und Erweiterung der ursprünglichen Zulassung und koordiniere die Tätigkeiten, durch die etwaige Nebenwirkungen erkannt, bewertet, verstanden und vermieden werden sollen (Pharmakovigilanz). Nach Auffassung der EMA sei das Nutzen-Risiko-Verhältnis aller von ihr im Zeitraum 2020 bis 2023 bewerteten COVID-19-Impfstoffe positiv gewesen.
Schon im Dezember 2018 habe die EMA einen Plan angenommen, der Leitlinien zu ihren Tätigkeiten im Falle neu auftretender Gesundheitsgefahren enthielt. Darin sei bereits die Möglichkeit einer raschen wissenschaftlichen Beratung und einer beschleunigten Zulassung neuer Behandlungen und Impfstoffe während einer Pandemie vorgesehen gewesen. Allerdings bewertet der Rechnungshof in seinem Bericht ausdrücklich nicht, ob die Empfehlungen der EMA zu den COVID-19-Impfstoffen gerechtfertigt waren, sondern nur, ob die EMA im Einklang mit den vereinbarten Regeln und Leitlinien eine gründliche Analyse vorgenommen hat.
Die EMA ist ihrerseits Gründungsmitglied der Internationalen Koalition der Arzneimittelbehörden (International Coalition of Medicines Regulatory Authorities, ICMRA), deren Vorsitz und Sekretariat sie seit 2019 stellt. Da im Falle einer globalen Pandemie ein gut ausgebautes internationales Netzwerk von Bedeutung sei, bewertete der Hof, ob das ECDC und die EMA bei Ausbruch der Pandemie jeweils über geeignete Verfahren, Kapazitäten und internationale Kooperationsvereinbarungen verfügten, um eine schwere und lang anhaltende Krise zu bewältigen. Der Hof bewertete auch, ob die EMA der breiten Öffentlichkeit transparente und leicht zugängliche Informationen zur Verfügung gestellt habe und analysierte sowohl veröffentlichte als auch vertrauliche Dokumente, um zu prüfen, ob die EMA die Zulassung von COVID-19-Impfstoffen (einschließlich Auffrischungsimpfungen) und -Behandlungen vereinfacht und dabei die Grundsätze der ICMRA und ihre eigenen internen Verfahren und Leitlinien korrekt angewandt habe. Die Stichhaltigkeit der wissenschaftlichen Bewertungen der EMA wurde vom Hof – wie er mehrfach betont – jedoch nicht geprüft.
Mit anderen Worten: Der Rechnungshof prüft in seinem Bericht in erster Linie, ob Verwaltungsabläufe korrekt eingehalten worden sind. So zählt er lapidar die Maßnahmen der EMA zur Beschleunigung der Entwicklung und Zulassung von COVID-19-Impfstoffen und -Behandlungen auf: „Gemeinsam mit der Kommission und den Leitern der Arzneimittelagenturen veröffentlichte die EMA am 28. Mai 2020 einen COVID-19-bezogenen Betriebskontinuitätsplan für das Europäische Arzneimittelregulierungsnetz. Der Plan enthielt Leitlinien für den Umgang mit COVID-19-bezogenen und nicht COVID-19-bezogenen Verfahren, aus denen eindeutig hervorgeht, dass COVID-19-bezogene Verfahren stets Vorrang haben sollten.
Die EMA einigte sich im Rahmen der ICMRA mit anderen internationalen Arzneimittelregulierungsbehörden auf die wichtigsten Grundsätze bei der Konzeption von Studien zu COVID-19-Impfstoffen (Juli 2020). Im November 2020 veröffentlichte sie Leitlinien („Erwägungen“) zur Zulassung von COVID-19-Impfstoffen. Die EMA veranstaltete virtuelle Vorabbesprechungen vor der Antragstellung und stellte eine beschleunigte formelle (unverbindliche) wissenschaftliche Beratung für potenzielle Antragsteller bereit, die im Zusammenhang mit COVID-19-Produkten gebührenfrei war. Die Entwickler baten die EMA häufig auch um informelle Beratung. Gemäß ihrem Plan für neu auftretende Gesundheitsgefahren nutzte die EMA fortlaufende Überprüfungen zur Beschleunigung von Verfahren. Sie akzeptierte die Ergebnisse klinischer Studien, die sich auf einen Zeitraum von weniger als zwei Monaten nach der Impfung bezogen, als Voraussetzung für eine Erstzulassung mit der Maßgabe, dass die Folgedaten unverzüglich nach der Zulassung vorzulegen waren. Die EMA verkürzte die Bewertungszeit für pädiatrische Prüfkonzepte. Sie griff verstärkt auf multinationale Bewertungsteams zurück.“
„Regulatorische Flexibilität“
Alle zugelassenen COVID-19-Impfstoffe und die meisten COVID-19-Behandlungen seien im Rahmen eines fortlaufenden Überprüfungsverfahrens bewertet worden, das es der EMA ermöglicht habe, Daten aus Studien zu verwenden, sobald sie verfügbar waren, anstatt deren Validierung im Rahmen von Peer-Reviews abzuwarten. Klinische Studien werden allerdings nicht von der EMA, sondern von den nationalen Regulierungsbehörden genehmigt. Die EMA bewerte die Wirksamkeit und Sicherheit neuer Produkte lediglich auf der Grundlage der von den Entwicklern vorgelegten Berichte über nichtklinische und klinische Studien.
Bei der Beantwortung der Frage, ob die Durchführung von klinischen Studien und die Berichterstattung darüber ordnungsgemäß verlaufen seien, stützte sich die EMA laut Rechnungshof-Bericht auf Inspektionen, die von den zuständigen nationalen Behörden durchgeführt worden seien. So sei die Einhaltung der Vorschriften häufig nur aus der Ferne überprüft worden. Die Zahl der Inspektionen zur Überprüfung der Einhaltung der guten klinischen Praxis und der guten Herstellungspraxis sei zudem aufgrund von Reisebeschränkungen und anderen Corona-Maßnahmen zurückgegangen. Da fast alle groß angelegten klinischen Studien zu COVID-19-Impfstoffen außerhalb der EU durchgeführt worden seien, seien sie ausschließlich von Behörden aus Nicht-EU-Ländern genehmigt worden.
Hier teilt der Rechnungshof also mit bemerkenswerter Klarheit mit, dass sich die EMA bei der Bewertung der Wirksamkeit und Sicherheit der COVID-19-Impfstoffe zum einen auf die Berichte, die die Entwickler selbst vorgelegt haben, verlassen hat und zum anderen auf Studien, die außerhalb der EU durchgeführt wurden. Die meisten COVID-19-Impfstoffe seien dann innerhalb weniger Tage oder Wochen nach ihrer Erstzulassung in einem Nicht-EU-Land auch in der EU zum Verkauf zugelassen worden. Die Zeitspanne zwischen der Einreichung eines förmlichen Antrags und der Stellungnahme der EMA sei weitaus kürzer als bei anderen neuen Impfstoffen gewesen. Auch der Beschluss der EU-Kommission über die Zulassung eines bestimmten Impfstoffs sei stets innerhalb weniger Tage nach der Empfehlung der EMA und mitunter sogar am selben Tag gefasst worden.
Wörtlich heißt es in dem Bericht weiter: „Der COVID-19-bezogene Betriebskontinuitätsplan des Europäischen Arzneimittelregulierungsnetzes umfasste eine Reihe von Grundsätzen für den Umgang mit Regulierungsverfahren während der Pandemie, die darauf abzielten, Verzögerungen bei der Zulassung neuer Arzneimittel zu vermeiden bzw. in Grenzen zu halten und/oder Unterbrechungen der Versorgung mit COVID-19- und sonstigen Arzneimitteln zu vermeiden. Die Kommission, die EMA und die Leiter der Arzneimittelagenturen einigten sich ferner darauf, ab April 2020 eine gewisse regulatorische Flexibilität für klinische Studien, Ferninspektionen und die Verlängerung von Bescheinigungen über eine gute Praxis zuzulassen.“ Diese „gewisse regulatorische Flexibilität“ bedeutet im Klartext jedoch, dass die bis dato üblichen Sicherheitsstandards bei der Zulassung von Arzneimitteln und Impfstoffen schlichtweg über den Haufen geworfen wurden, um die COVID-19-Impfstoffe so schnell wie möglich auf den Markt zu bringen.
Lauterbach der Lobbyist
Wäre der Text nicht ein offizieller Bericht des Europäischen Rechnungshofs, liefe er vermutlich Gefahr, von der EU-Kommission als „Fehlinformation“ gebrandmarkt zu werden. Im Bericht wird ebenfalls erwähnt, dass die EMA eingeräumt habe, dass weiterhin unklar sei, wie lange der Impfschutz andauere und wie wirksam die Impfstoffe gegen eine Übertragung der Krankheit schützten. Alle COVID-19-Impfstoffe seien jedoch einstimmig empfohlen worden. Und indirekt werden vom Rechnungshof dann doch die Impfschäden thematisiert, indem er berichtet, dass Angehörige der Gesundheitsberufe und Verbraucher den zuständigen nationalen Behörden vermutete Nebenwirkungen über eine webbasierte Anwendung melden konnten. Allein im Jahr 2021 habe die EMA 1,68 Millionen solcher Berichte über COVID-19-Impfstoffe (48 Prozent von insgesamt 3,5 Millionen Berichten) bearbeitet. Im Jahr 2022 seien es 1,14 Millionen Berichte (39 Prozent von insgesamt 2,9 Millionen Berichten) und im Jahr 2023 0,22 Millionen Berichte (11 Prozent von insgesamt 1,9 Millionen Berichten) gewesen.
Es ist unwahrscheinlich, dass die die Angaben der EMA Politikern wie Gesundheitsminister Karl Lauterbach unbekannt waren. Nichtsdestotrotz führte Lauterbach am 13. Januar 2022 in einer Rede im Bundestag zur geplanten Impfpflicht aus: „Die Impfpflicht ist medizinisch geeignet. Die Frage ist: Ist sie auch moralisch zu vertreten? Aus meiner Sicht kann man es wie folgt bewerten: Wer sich dem Impfangebot verweigert, verletzt sogar das moralische Gebot des kategorischen Imperativs im Sinne von Immanuel Kant. Eine solche Verweigerung könnte nie die Maxime des Handelns für uns alle sein. Wenn wir uns alle weigern würden, die gut erforschte und nebenwirkungsarme Impfung zu nutzen, um uns selbst und andere vor Tod und schwerer Krankheit zu schützen, würden wir die Pandemie wahrscheinlich nie beenden können.“
Wie konnte Lauterbach ernsthaft noch im Januar 2022 von der „gut erforschten und nebenwirkungsarmen Impfung“ sprechen? Er empfahl sich mit dieser Aussage offenbar einmal mehr als Lobbyist für die Pharmabranche. Auch der EMA wird im Grunde Impfwerbung vorgeworfen. So weist der Rechnungshof in seinem Bericht darauf hin, dass EMA und ECDC „auf Ersuchen von Interessenträgern“ mehrere gemeinsame Erklärungen zu Auffrischungsdosen abgegeben hätten. Einige der vom Hof befragten Vertreter der Mitgliedstaaten seien der Ansicht, dass die EMA sich auf ihre Rolle als Regulierungsbehörde hätte beschränken und keine Leitlinien für die Verwendung von Produkten hätte veröffentlichen sollen, da dies nicht Teil ihres Mandats sei.
Verbesserung schwerwiegender grenzüberschreitender Gesundheitsgefahren
Die Krisenreaktion der EU-Kommission wird ebenfalls vom Rechnungshof hinterfragt. Die Kommission habe ihre Zuständigkeiten in Gesundheitsfragen ausschließlich über ihre Generaldirektion Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (GD SANTE) wahrgenommen und die endgültige Entscheidung über die Erteilung einer Zulassung allein auf der Grundlage einer Empfehlung des zuständigen Ausschusses der EMA getroffen. Als Partner-Generaldirektion beider Agenturen sei die GD SANTE im Verwaltungsrat des ECDC und der EMA vertreten. Die ersten aus der Pandemie gezogenen Lehren habe die Kommission dazu veranlasst, im September 2021 eine neue Generaldirektion einzurichten: die Europäische Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (Health Emergency Preparedness and Response Authority, kurz: HERA). Aufgabe der HERA sei es, die Vorsorge und Reaktion der EU im Hinblick auf schwerwiegende grenzüberschreitende Gesundheitsgefahren zu verbessern
Aus Gründen der Dringlichkeit stützte – so der Rechnungshof – sich der Beschluss nicht auf eine Folgenabschätzung. Es sei also nicht nachgewiesen worden, dass die Schaffung einer neuen Generaldirektion der Kommission eine bessere Lösung darstelle als beispielsweise die Übertragung zusätzlicher Zuständigkeiten auf bestehende Strukturen wie das ECDC, die EMA oder die GD SANTE. Der Gesundheitssicherheitsausschuss der EU, eine informelle Beratungsgruppe aus Vertretern der EU-Mitgliedstaaten (für Deutschland das Bundesministerium für Gesundheit) koordiniere ebenfalls die Vorsorge- und Reaktionsplanung der Mitgliedstaaten in den Bereichen öffentliche Gesundheit und Krisenkommunikation. Außerdem habe die EU-Kommission mitgeteilt, dass „eine schnellere Erkennung und Reaktion […] von einer stärkeren globalen Überwachung und besser vergleichbaren und vollständigeren Daten ab[hängt]“ und dass „[…] ein neues europäisches System für die Erfassung von Informationen über Pandemien eingerichtet werden [sollte], das auf dem bestehenden Frühwarn- und Reaktionssystem und einer modernisierten Version des Europäischen Überwachungssystems [TESSy] aufbaut, um Daten in Echtzeit zu verwalten und auszutauschen, und das in das neue globale System integriert wird“.
Im April 2022 sei im übrigen eine ständige Notfall-Einsatzgruppe zur Übernahme der Tätigkeiten der Taskforce zur COVID-19-Pandemie eingerichtet worden, die bei der Bewältigung künftiger Notlagen eine Schlüsselrolle spielen soll. Und im April 2023 sei nach einigen Verzögerungen der Vorschlag zur Änderung des EU-Arzneimittelrechts veröffentlicht worden. So soll künftig der Zeitraum zwischen der Beantragung und der Erteilung von Zulassungen bei allen neuen Arzneimitteln verkürzt werden und die Möglichkeit bestehen, in einer Notlage im Bereich der öffentlichen Gesundheit befristete Notfallzulassungen zu erteilen – zusätzlich zu bedingten Zulassungen. Außerdem sind Maßnahmen vorgesehen, mit denen die Arzneimittelversorgungssicherheit jederzeit verbessert werden soll – nicht nur in Krisenfällen.
Alles paletti?
Zeitgleich mit dem Bericht des Rechnungshofes zur Corona-Reaktion der EU wurden auch Antworten der EU-Kommission, des ECDC und der EMA veröffentlicht. Liest man sich den ersten Satz der Kommissionsantwort durch, könnte man denken, es sei alles paletti: „Die Kommission begrüßt den Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes (EuRH) über die Reaktion der EU auf die COVID-19-Pandemie und stellt fest, dass darin anerkannt wird, dass die Kommission, das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) und die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) frühzeitig zahlreiche Anstrengungen unternommen haben, um sowohl auf COVID-19 zu reagieren als auch für einen robusten und verstärkten Rahmen für die Gesundheitssicherheit zur Bewältigung künftiger Notlagen im Bereich der öffentlichen Gesundheit zu sorgen, und gleichzeitig einige Empfehlungen für weitere Verbesserungen dargelegt werden.“
In diesem Duktus geht es weiter, und auch die Antworten von EMA und ECDC klingen nach eitel Sonnenschein. Lediglich die EMA wehrt sich ein klein bisschen und stellt klar, dass sie sehr wohl Informationen für Laien zur Verfügung gestellt habe, nämlich Datenvisualisierungen pro Altersgruppe für das Risiko einer Thrombose bei einem Impfstoff. Außerdem sei sie rechtlich nicht zu großen EU-weiten klinischen Studien verpflichtet. Aus den Empfehlungen des Rechnungshofs ergeben sich in der Lesart von Kommission, EMA und ECDC in erster Linie die weitere Zentralisierung im Sinne einer Gesamtkoordinierung bei schwerwiegenden grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren, die Stärkung des digitalen Überwachungssystems und des damit verbundenen Netzes der zuständigen Behörde, die Beschleunigung der Regulierungs- und Zulassungsverfahren sowie die Veröffentlichung von Informationen in einfacher Sprache.
Liest man nur die Überschrift und die Zusammenfassung des Berichts, könnte man meinen, der Rechnungshof wäre mit der Corona-Reaktion der EU zufrieden. Liest man jedoch den ganzen Text, wird klar, dass der Rechnungshof im Grunde Ungeheuerliches mitteilt.
Martina Binnig lebt in Köln und arbeitet u.a. als Musikwissenschaftlerin (Historische Musikwissenschaft). Außerdem ist sie als freie Journalistin tätig.
Quellen:
Bericht des EuRH
Antwort EU-Kommission
Antwort EMA
Antwort ECDC
Bundestagsrede Lauterbach im Januar 2022