Von Stephan Kloss.
Kürzlich behauptete Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) in einem Online-Bürgerdialog der Konrad-Adenauer-Stiftung, das Infektionsgeschehen im Freistaat sei unter anderem darauf zurückzuführen, dass Handwerker in der Frühstückspause zusammen säßen, sich unterhielten und dabei das Virus verbreiteten. Es ist traurig, wenn ein Politiker mit solchen Mutmaßungen versucht, die Ursachen für das sogenannte Infektionsgeschehen im Freistaat einer bestimmten Berufsgruppe in die Schuhe zu schieben. In solchen Momenten frage ich mich: Warum sagt Herr Kretschmer so etwas? Hat ein Berater ihm das eingeflüstert? Hat der Ministerpräsident sich das einfach nur ausgedacht? Denn eine valide Datengrundlage für eine solche Aussage gibt es ja ganz offensichtlich nicht. Überhaupt scheint sich die Staatsregierung im Freistaat Sachsen der Begründung ihrer jeweiligen Maßnahmen nicht ganz sicher zu sein.
Neulich fragte ich beispielsweise im SPD-geführten Sächsischen Sozialministerium nach, ob es über das Infektionsgeschehen auf Parkplätzen vor großen Einkaufszentren Erkenntnisse beziehungsweise Nachweise gäbe, die als Grundlage dafür dienten, dass seit dem 2. November 2020 eine Maskenpflicht auf eben diesen Parkplätzen gelte. Die Antwort aus dem Ministerium war: Nein.
Kliniken im Marathonlauf
In meinen beiden vorangegangenen Artikeln zur Corona-Lage in Sachsen, nachzulesen hier und hier, hatte ich ausgeführt, dass in sächsischen Kliniken keine akute Bettennotsituation herrsche. Einige befreundete Ärzte teilten mir daraufhin mit, dass es an Intensiv-Betten tatsächlich nicht mangele, wohl aber am entsprechend ausgebildeten Personal. Dies sei aber schon lange ein Problem. Aus Hintergrundgesprächen mit Krankenhaus-Experten in Sachsen war zu erfahren, dass die im Intensiv-Register dargestellten 611 Notfallbetten zwar innerhalb von sieben Tagen aufgestellt, aber nur bedingt genutzt werden könnten. Dafür fehle das notwendige Personal. Da fragt man sich, warum diese Betten dann überhaupt angegeben werden.
Im Januar 2020 – kurz vor Corona! – erschien im Ärzteblatt der wachrüttelnde Artikel „Deutsche Krankenhäuser verlieren ihre Zukunft“. Nur zwei, drei Sätze daraus:
„Die erhebliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen hat ihre Ursache zum einen in dem zunehmenden ökonomischen Druck, unter dem die Krankenhäuser stehen. Zur Refinanzierung der Krankenhäuser oder gar um Gewinne aus einem solidarfinanzierten Krankenhaussystem zu erzielen, muss von Jahr zu Jahr mehr Geld erwirtschaftet werden. Das hat die Arbeitsbelastung in nicht mehr tolerierbare Regionen getrieben. Die Folge: Die Fluktuation insbesondere aus arbeitsintensiven Bereichen wie der Intensiv- und Notfallmedizin ist besonders hoch und der Arbeitsmarkt ist gänzlich leer. “
Und:
„Hieraus resultiert eine Frustration von initial häufig hoch motivierten Pflegekräften. So planen 37 Prozent aller befragten Intensivpflegekräfte in den nächsten fünf Jahren, den Beruf zu verlassen“.
Unter diesen Bedingungen ist die Corona-Situation für das Klinikpersonal natürlich eine Herausforderung. Die Probleme hatten allerdings lange vor Corona begonnen. Die Versäumnisse der Politik muss jetzt das Krankenhauspersonal ausbaden.
7-Tage-Inzidenz: unwissenschaftlich, unlogisch, nutzlos
Sachsen ist bundesweiter sogenannter „Corona-Hotspot“. Wir wissen, wie die 7-Tage-Inzidenz berechnet wird, die den Freistaat zum deutschen Spitzenreiter gemacht hat: Die Kanzlerin hat die Formel bundeseinheitlich festgelegt. Die Summe der in den zurückliegenden sieben Tagen positiven PCR-Tests durch die Einwohnerzahl des jeweiligen Landkreises dividiert und dann mit 100.000 multipliziert. Gut nachzulesen auf der Webseite des Freistaates Sachsen.
Die Kanzlerin entschied, dass ein ermittelter Inzidenzwert von 50 eine geeignete Obergrenze sei. Die Kontakte von 50 Infizierten pro 100.000 Einwohner pro sieben Tage könnten die Gesundheitsämter noch nachverfolgen und so die „Infektionsketten durchbrechen“. Dieses System – obwohl die Politik daran krampfhaft festhält und damit auch die Grundrechtseinschränkungen rechtfertigt – funktioniert überhaupt nicht. Das sehen wir täglich.
Grundsätzlich ist eine Umwandlung von Werten, zum Beispiel. die Z-Transformation in der Statistik, ein hervorragendes Mittel, um Vergleichbarkeit herzustellen. Doch die 7-Tage-Inzidenz ist dafür ungeeignet. Denn hier werden mehrere vermeintliche Merkmale mit unterschiedlichen Ausprägungen in einen Topf geworfen, umgerührt und behauptet, der Brei, der dabei herauskommt, sei überall der gleiche.
Ein Beispiel: Der dünnbesiedelte Landkreis Görlitz hat aktuell mit 667 (Stand 22. Dezember) einen der höchsten Inzidenzwerte. Die Stadt Leipzig dagegen, der am dichtesten besiedelte Ort in Sachsen, hat mit 222 (Stand 22. Dezember) die zweitniedrigste Inzidenz im Freistaat und Dresden mit 306 die drittniedrigste. Da fragt sich jeder: Wie kann das sein? Man würde die Kennwerte umgekehrt erwarten. Doch die politisch festgelegte Inzidenz lässt Faktoren wie
- Einwohnerzahl pro Quadratkilometer im Landkreis bzw. in der Stadt
- Anzahl der Betten auf Normal- und Intensiv-Stationen
- Anzahl der Plätze in Pflege- und Altersheimen sowie Seniorenresidenzen
- Altersmedian im Landkreis bzw. in der Stadt und
- verfügbare Reserven
vollumfänglich unberücksichtigt. Ein Blick auf die Bevölkerungsentwicklung in Sachsen zeigt deutlich: Seit 1990 ist der Altersmedian der Bevölkerung gestiegen, vor allem in den Landkreisen Görlitz, Erzgebirge, Osterzgebirge-Sächsische Schweiz etc. In Leipzig aber ist der Median stark gesunken, also in Leipzig wohnen inzwischen deutlich mehr jüngere Leute, in Dresden ebenso. Anschaulich aufbereitet im Demografiemonitor der Sächsischen Staatsregierung.
Wen es interessiert, kann auf dieser Seite bei dem Reiter „Thema“ links auf „Durchschnittsalter der Bevölkerung“ gehen. Dort kann man sich bequem durch die Jahre klicken und den demografischen Wandel in Sachsen quasi im Zeitraffer verfolgen.
Das Fazit: Man kann die 7-Tage-Inzidenz abschaffen und stattdessen lieber die Krankenhaus-Kapazitäten absichern und ausbauen. Zum Beispiel durch Freiwillige. Die Klinik in Görlitz hat das getan und auf Facebook Helfer gesucht.
Auf einen Aufruf vom 14. Dezember meldeten sich sofort 45 Freiwillige, die das Personal unterstützen wollen, wie die Klinik bereits am 15. Dezember mitteilen konnte. Ein Aufruf der Staatsministerin für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt, Petra Köpping (SPD), geht in die gleiche Richtung. Wir erinnern uns alle an die Hochwassernotlagen in Sachsen. Damals haben tausende Freiwillige geholfen, um die Schäden zu beseitigen, sachsenweit gab es Solidarität und Unterstützung.
Fragwürdige Tests und Testergebnisse
Die positiven PCR-Tests generieren die hohen sogenannten „Infektionszahlen“, die wiederum begründen die 7-Tage-Inzidenzen, und diese wiederum dienen als Grundlage für die Lockdown-Maßnahmen. Doch der versierte Achse-Leser weiß längst, dass ein gängiger PCR-Test keine Corona-Infektion nachweist, sondern Virus-RNA-Fragmente. Gut nachzulesen auf der Achse hier in mehreren Folgen.
Inzwischen hat die WHO einen bemerkenswerten Hinweis herausgegeben zur PCR-Problematik. Darin werden unter Punkt 5 die Labore aufgefordert, die Ct-Werte der Proben mitzuliefern (Provide the Ct value in the report to the requesting healthcare provider). Außerdem wird darauf hingewiesen, dass bei Patienten mit großer Viruslast nur wenige Zirkulationen benötigt werden, um die RNA zu detektieren, gegenteilig sei es bei Patienten geringer Last, dort seien die Ct-Werte hoch, da mehr Zirkulationen für einen Nachweis nötig seien. Mitunter sei es schwierig zwischen Hintergrundrauschen und dem Vorhandensein einer Ziel-RNA zu unterscheiden.
(The design principle of RT-PCR means that for patients with high levels of circulating virus (viral load), relatively few cycles will be needed to detect virus and so the Ct value will be low. Conversely, when specimens return a high Ct value, it means that many cycles were required to detect virus. In some circumstances, the distinction between background noise and actual presence of the target virus is difficult to ascertain).
An alle Landkreise und die drei großen Städte in Sachsen ging meine Frage, ob dort bei den positiven Testergebnissen die jeweiligen Ct-Werte zur Beantwortung der Frage, ob jemand in Quarantäne gehen muss oder nicht, mit herangezogen würden. In diesem Fall herrscht in Sachsen das Rasenmäher-Prinzip. Wer testpositiv ist, der muss in Quarantäne. „Positiv ist positiv“, hat ein Landkreis geantwortet. Die Stadt Leipzig bildet die einzige Ausnahme. Dort würden bei Corona-PCR-Tests die jeweils dazugehörigen Ct-Werte bei der Bewertung von testpositiven Ergebnissen eine Rolle spielen. Und testpositive Personen würden nicht generell in Quarantäne geschickt, sondern es erfolge eine Plausibilitätsprüfung.
Warum sollen wir PCR-Tests durchführen, wenn wichtige dazugehörige Informationen für die Regierung nicht von Interesse sind: „Die Viruslasten aller Proben der im Freistaat Sachsen durchgeführten Corona-Tests sind dem Sozialministerium nicht bekannt“ (E-Mail vom Sozialministerium Sachsen vom 21. Dezember 2020).
In Sachsen sind bisher laut Sozialministerium (Stand 21. Dezember) 109.229 Personen positiv getestet worden. Davon waren seit März 6.734 Personen hospitalisiert, also 6,2 Prozent. Momentan werden noch 3.386 Personen stationär betreut (Stand 22. Dezember 2020), also 3,1 Prozent. Wir sehen inzwischen, dass relativ konstant ca. 93 Prozent der positiv Getesteten das Virus offenbar problemlos überstehen, meist asymptomatisch. Sind die Lockdown-Maßnahmen vor diesem Hintergrund weiter zu rechtfertigen?
Schauen wir auf die gruppierte Altersstruktur der an bzw. mit Covid-19 Verstorbenen in Sachsen:
25 bis 29 Jahre: 1
30 bis 39 Jahre: 2
40 bis 49 Jahre: 6
50 bis 59 Jahre: 37
60 bis 69 Jahre: 151
70 bis 79 Jahre: 428
80 bis 89 Jahre: 1.109
90 und älter: 552
gesamt: 2.286
(Quelle: Sozialministerium Sachsen, Stand 21. Dezember 2020)
Damit sind wir am Ende angekommen und beim Kernproblem. Die Politik behauptet, um die Älteren zu schützen und zu „retten“, seien die Lockdown-Maßnahmen notwendig und bald auch die Impfung. Möglicherweise ist hier eine kognitive Neuorientierung nötig und damit einhergehend die Erkenntnis, dass das Virus eine natürliche Todesursache darstellt.
„Sie sterben an Einsamkeit“
Das scheint auch die Sichtweise von vielen Betroffenen zu sein. Kurz vor Weihnachten telefonierte ich mit Pflegeheimen in der Oberlausitz, meiner alten Heimat, die ja momentan als Hotspot gilt. Leitende Mitarbeiter sagten, dass sie verzweifelt seien. Das Spannungsfeld zwischen wachsender Corona-Bürokratie und Personalmangel sei furchtbar. Hier ein paar Zitate:
„Es gibt keinen Plan von der Politik für uns.“
„Wir wissen nicht, was wird!“
„Wir werden total verunsichert.“
„Man hat das Gefühl, dass man mit einem Bein im Knast steht. Egal was man entscheidet.“
„Es wäre besser, Corona-Erkrankte im Heim palliativ zu begleiten.“
„Heimbewohner wollen lieber hier mit Corona sterben, aber dürfen dafür ihre Angehörigen sehen.“
„Unsere Einwohner sterben an Einsamkeit. Die essen nicht mehr. Es ist Horror.“
Stephan Kloss lebt in Leipzig. Er ist freier Journalist und studiert Psychologie.