Ohne Nostalgie: Man möchte immer wieder daran erinnern, seit grünrote Ideologen die Entindustrialisierung Deutschlands befördern oder befürworten: Wir waren mal wer.
Die Osnabrücker Konditorei Leysieffer ist nicht mehr. Nach 115 Jahren. Ich kenne den Laden, ich bin in Osnabrück aufgewachsen, und während wir Jungen uns lieber im Eiscafé Toscanini trafen, wussten meine Eltern, was sie sich schuldig waren: Sie gingen dorthin, wo die besseren Kreise einkehrten, darunter die klassische Kategorie der Damen: „Bitte mit Sahne“. Das war nichts für mich, insofern bedauere ich das Ende von Leysieffer nicht aus nostalgischen Gründen.
Denn was die Konditorei besonders machte, war nicht nur die Qualität von Kuchen und Pralinen. Es war seine Tradition: 1909 von Ulrich Leysieffer gegründet, war das Café die erste Adresse in der Osnabrücker Altstadt. Selbst die Zerstörung des Hauses durch eine Bombe 1942 beendete nicht die Familientradition. Der Abriss der Altstadt zugunsten der von sozialdemokratischen Stadtvätern gewünschten „autogerechten Stadt“ konnte überdies in den 60er Jahren gerade noch verhindert werden. Leysieffer blieb ein Fixpunkt in Osnabrück.
Die dritte, die vierte Generation der Leysieffers begründete Filialen unter anderem auf Sylt und in Berlin. Doch nach Unstimmigkeiten mit einem Investor stieg Jan Leysieffer 2021 aus dem Unternehmen aus. Corona, gestiegene Rohstoffpreise und Energiekosten gaben dem Unternehmen den Rest.
Wieder einer, mag man denken, ist doch nur eine Kleinigkeit, na und? Es geht ja mittlerweile Schlag auf Schlag, und es trifft weit größere. Doch mit Leysieffer stirbt mehr als eine gute Konditorei. Es reißt eine Verbindung zur Geschichte ab, die Kettenläden nicht herstellen können, Barbershops und Dönerbuden erst recht nicht. Was derzeit in Deutschland passiert, ist nicht nur die willkürliche Vertreibung jener Produktionsstätten, die einst „Made in Germany“ zur Erfolgsmarke gemacht haben. Es bedeutet vielfach auch den Übergang in eine Art geschichtslosen Raum.
Was lernt man in der Schule oder an der Universität über das deutsche Kaiserreich? Womöglich immer noch irgendetwas mit preußischem Militarismus, dem bieder-dummen „Untertan“ und einem Kaiser, der, wie man es bei Wikipedia liest, „undiplomatisch und großspurig“ aufgetreten sei und durch den forcierten Ausbau der Marine ein „Konfliktpotential“ aufbaute, „das sich im ersten Weltkrieg entlud“. Das Königreich duldete eben keine Flotte neben sich. Dieses Bild der Kaiserzeit könnte glatt aus einer Broschüre der britischen Propagandaabteilung des Ersten Weltkriegs stammen.
Sowas passt zur allgemeinen Geschichtsvergessenheit
Womöglich aber fürchteten die Engländer weit mehr als die kaiserliche Flotte den gigantischen Aufschwung, den die deutsche Industrie insbesondere in den zwei Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg nahm. Bis 1914 entwickelte sich Deutschland zur größten Industrienation Europas: Sein Anteil an der Weltindustrieproduktion lag bei rund 15 Prozent, der britische Anteil bei 14 Prozent. Vor dem Ersten Weltkrieg ging jeder dritte Nobelpreis für Naturwissenschaften nach Deutschland. Bei der Entwicklung neuer, zukunftsträchtiger Technologien auf dem Gebiet der Elektrotechnik und der Chemischen Industrie belegte Deutschland einen führenden Platz. Dafür stehen die Namen AEG, Siemens, BASF, Hoechst, Bayer, Zeisswerk oder Bosch, Daimler… hab ich was vergessen?
Volkswagen war übrigens das Symbol des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieg. Macht die heutige Krise des Autobauers Platz für die neuerdings beliebte und sogar von der Bundesregierung vertretene Geschichtslüge, die türkischen Gastarbeiter hätten das Wirtschaftswunder bewirkt? Nein. das Wirtschaftswunder war längst da, als sie kamen.
Doch sowas passt zur allgemeinen Geschichtsvergessenheit. Insbesondere die SPD-Tanten kennen sich noch nicht einmal in der Geschichte der Sozialdemokratie aus.
Ohne Nostalgie: Man möchte immer wieder daran erinnern, seit grünrote Ideologen die Entindustrialisierung Deutschlands befördern oder befürworten: Wir waren mal wer. Und wir haben ja immer noch wenigstens die hidden champions, Unternehmen, die zwar Weltmarktführer sind, die aber keiner kennt. Viele von ihnen sind klassische Mittelständler: Industrie- oder Automobilzulieferer, irgendwo in der Provinz beheimatet mit höchstens ein paar hundert Mitarbeitern.
Doch 42 Prozent der deutschen Industrieunternehmen planen 2024, im Ausland zu investieren: wegen der hohen Energiekosten, einer ausufernden Bürokratie und anderen unzähligen Regulierungen, die Investitionen zunehmend unattraktiv machen.
Teil einer Erfolgsgeschichte
Was aber ist mit jenen, deren Namen uns vertrauter sind, weil sie unsere Eltern und Großeltern begleitet haben, sofern die nicht gerade im Café Leysieffer Torten verzehrten? „Nur Miele Miele, sagte Tante, die alle Waschmaschinen kannte“: Ein Ruf wie Donnerhall. Doch wer weiß noch, dass die Waschmaschine 1900 aus einer Buttermaschine entstand – gebaut von dem am 1. Juli 1899 in Westfalen von Carl Miele und Reinhard Zinkann gegründeten Betrieb, der zunächst Milchzentrifugen baute? Später baute man Elektromotoren und Staubsauger sowie 1929 die erste elektrische Geschirrspülmaschine Europas. Miele stand für höchste Qualität, das wusste nicht nur Tante. Ab 2029 liefert Miele aus Polen.
Johann Viessmann gründete sein Unternehmen für Heiztechnik, Klima- und Kühlsysteme im Jahr 1917. Den Bereich Klimatechnik verkaufte Viessmann 2024 in die USA.
„Bauknecht weiß, was Frauen wünschen“: 1919 gegründet, bekannt für Kühlschränke, Waschmaschinen und andere Küchengeräte, gehört heute zu Whirlpool.
Doch einiges bleibt noch aus der Zeit der Gründer, etwa die Waschmittelfirma Henkel, 1876 von Fritz Henkel gegründet. 1907 kam „Persil“ auf den Markt, noch heute das meistverkaufte Waschmittel in Deutschland. Die Firma verstand sich auf Werbung, es gab Persiluhren und Himmelsschreiber, Flugzeuge, die mit Rauchschrift für Persil warben. 1922 schuf der Berliner Grafiker Kurt Heiligenstaedt die berühmte Weiße Dame, die die Persil-Werbung bis in die 1960er Jahre bestimmte. Der erste Werbespot, der im deutschen Fernsehen am 3. November 1956 vom Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wurde, war ein Werbespot für Persil mit den Hauptdarstellern Beppo Brem und Liesl Karlstadt im Wirtshaus: Beppo hat gekleckert. Doch dafür gibt's ja gottseidank Persil. „Persil, Persil und nichts anderes.“
All diese urdeutschen Marken sind nicht nur in wirtschaftlichen Kategorien zu messen, sie waren Teil einer Erfolgsgeschichte, einer deutschen Identität. Sie weisen alle zurück in eine Vergangenheit, die kaum noch präsent ist und mit jeder Firmenpleite weiter in die Vergangenheit rückt.
Also doch Nostalgie? Ein wenig, vielleicht. Doch es hilft ja nichts: Die Verbindungen zur deutschen Geschichte sind längst zerrissen.
Make Germany remember again? Das wäre groß.
Cora Stephan ist Publizistin und Schriftstellerin. Viele ihrer Romane und Sachbücher wurden Bestseller. Ihr aktueller Roman heißt „Über alle Gräben hinweg. Roman einer Freundschaft“.