Die Stimme der Provinz: „In den Häusern der Anderen”

Das Buch „In den Häusern der Anderen“ von Karolina Kuszyk, auf den „Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen“, lässt sich allen Geschichtsbesessenen ans Herz legen. Man kann es als Nachruf auf eine gänzlich verlorene Vergangenheit lesen, aber nicht nur.

Wenn eine Schraube locker ist, ist meistens die Mutter schuld. Blöder Handwerkerspruch, ich weiß. Aber meine Mutter war tatsächlich schuld daran, dass ich schon vor dem ersten Schuljahr lesen konnte. Zum einen, weil sie mir vorlas. Zum anderen, weil sie keine Lust mehr hatte, mir vorzulesen. 

Die Arme! Konnte nichts richtig machen? Ganz im Gegenteil. Zumal sie Geschäftsfreunde hatte, die ihr zu Weihnachten die aktuellen Bestseller schenkten. Während meine Geschwister Süßigkeiten aßen, die ich nicht mochte, verkroch ich mich in irgendeine stille Ecke und las. Als besonders lehrreich ist mir „Die Clique“ in Erinnerung, das war Frühaufklärung über eigenhändig zugefügte Freuden in Romanform. Kurz: Weihnachten wird bei uns nicht nur gegessen und getrunken. Sondern auch gelesen. Süßer die Blätter nie rascheln. 

Wobei – naja: Nicht alles ist süß, was eine lohnende Lektüre darstellt. Immerhin kann man das Buch „In den Häusern der Anderen“ von Karolina Kuszyk (oben im Bild), auf den „Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen“, allen Geschichtsbesessenen ans Herz legen – es eignet sich für die Liebhaber alter Häuser und alten Krempels. Doch kann man bei jedem heute noch das Wissen voraussetzen, welche Gegend mit „Westpolen“ gemeint ist? Es ist die Gegend, die man im kommunistischen Polen die „wiedergewonnenen Gebiete“ nannte. Im Volksmund sagte man „Wilder Westen“, und so muss man sich die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg auch vorstellen. 

Ein Bevölkerungsaustausch größten Ausmaßes

Urdeutsche Gebiete wie der südliche Teil Ostpreußens, die östlichen Teile von Pommern, der Mark Brandenburg, des Landes Sachsen sowie Schlesien – wiedergewonnen? Noch nicht einmal, wenn man seinen Anspruch bis auf die Piasten, also aufs 10. bis 12. Jahrhundert zurückverfolgt. Tatsächlich sollten die Polen mit dieser Westverschiebung für die Annexionen Stalins im Osten entschädigt werden. Noch sträubten sich die Westalliierten dagegen, das Gebiet sollte lediglich von Polen verwaltet werden. Faktisch aber begann die Annexion bereits kurz nach dem Krieg. Während die Deutschen das Gebiet verlassen mussten, siedelten sich hier nun die ihrerseits aus den von Stalin annektierten Gebieten vertriebenen Polen an. Ein Bevölkerungsaustausch größten Ausmaßes, begleitet von Brutalitäten und Racheakten.

Was also fanden die Polen in den ehemals deutschen Gebieten vor und wie gingen sie damit um? Deutsche Häuser und Wohnungen, deutsche Möbel und Gerätschaften, deutsche Fabriken und Friedhöfe. Bilder an den Wänden, Einmachgläser in den Kellern, vergrabene Schätze in den Gärten. 

Einige der Neuansiedler nahmen das Erbe an, empfanden es als „Gelobtes Land“. Andere verfluchten alles, was deutsch war. Man übermalte deutsche Schriftzüge an den Häusern, schlug Ornamente von den Fassaden, riss Tapeten von den Wänden. Möbel wurden verfeuert, Federbetten auf den Straßen entleert. 

Die deutschen Siedlungen verkamen mit den Jahren. Polnischer „Faulheit“ wegen? Oder weil man sich gar nicht erst beheimaten wollte, schließlich wusste niemand, wann man womöglich wieder vertrieben werden würde? Oder weil der Sozialismus das bürgerliche Erbe gründlich ausradieren wollte? Die Zukunft sah man in den 50er Jahren im Beton, in der Wohnmaschine à la Le Corbusier, und sprengte „die alten Bruchbuden“. 

Sprachwitz und Detailfreude

Kuszyk hat außergewöhnlich viel Material ausgewertet und aufgearbeitet – sie schreibt mit Sprachwitz und Detailfreude, ohne die Tragik des Geschehens unter den (deutschen) Teppich zu kehren. Sie diagnostiziert ein „doppeltes Trauma“: das Trauma der eigenen Vorfahren und das „dem Ort eingeschriebene“ Trauma. Man kann das Buch also als den Nachruf auf eine gänzlich verlorene Vergangenheit lesen, verloren haben ja sowohl die deutschen als auch die polnischen Vertriebenen. Doch das ist nicht das Schlusswort. Längst haben sich viele Polen die deutsche Vergangenheit angeeignet und sammeln – oft leidenschaftlich – die Paraphernalia des Damals, von den Bierkrügen über Postkarten bis zu kitschigen Heiligenbildern.

Auch einige der einst vielen schlesischen Herrenhäuser sind liebevoll restauriert – Mondschütz etwa, eine alte Ritterburg, die, originalgetreu restauriert, mittlerweile ein kleines Bilderbuchhotel ist. Im Schlossmuseum Pless in Oberschlesien kann man besichtigen, wo und wie die europäische Haute Volee unter der Ägide von Prinzessin Daisy von Pless um die Wende zum 20.Jahrhundert feierte. Und erst Breslau. Man sieht und spürt, wie sehr die Stadt und ihre Bewohner die deutsche Vergangenheit mittlerweile hegen und pflegen, in den Arm nehmen, stolz darauf sind. 

Polen ist unser engster Nachbar, von den Franzosen mal abgesehen. Kaum ein Land hat bessere Voraussetzungen, um die Drehscheibe zwischen Ost und West zu werden. Junge Polen, die erkannt haben, dass ihr Land zum Mittler taugt, sprechen Russisch, Deutsch und Englisch, im Unterschied zu den Franzosen. Doch nach so viel Optimismus sind die Zeiten derzeit nicht. Und das Gelächter, mit dem das Buch endet, ist weniger versöhnlich als gallig. Wie könnte es auch anders sein. 

„Ich trag Schuhe ohne Sohlen,/ und der Rucksack ist mein Schrank./ Meine Möbel hab’n die Polen/ und mein Geld die Dresdner Bank.“ Erich Kästner, Marschlied 1945

Karolina Kuszyk: In den Häusern der Anderen. Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen. Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann, Ch. Links Verlag, Berlin 2022, 395 Seiten

Foto: Grzegorz Litynski/Chr. Links Verlag

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Frank Mora / 29.12.2022

Das ist der Unterschied. Die Polen haben notgedrungen in den von Deutschen “freigemachten” Gebieten die vertriebenen Landsleute aus dem von Stalins Sowjetunion annektierten polnischen Gebieten angesiedelt. Die Tschechen haben die von den Sudetendeutschen (vorwiegend deutschsprachigen Bewohnern Böhmens und Mährens) nach Jahrhunderten “freigemachten” Gebiete vergammeln lassen. Übrigens Kernlande des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation. Ganze Landschaften devastierten. Fast niemand zog zu. Es war ja auch kein Tscheche vertrieben worden. Von Nazideutschland nicht und von Stahlinrußland auch nicht.

Josef Cissek / 29.12.2022

@Manni Meier:  sehen Sie, die Deutschen haben nach 1939 ganz gezielt zuerst die polnischen Proffesoren, Priester, Lehrer, Offiziere usw. ermordet. Dann die anderen - fast 6 Millionen Menschen insgesamt. Würde man sie in eine Menschenkette aufstellen (die Deutschen mögen doch so was wenn man gegen USA protestiert) stünden sie von Moskau bis Lissabon bzw. Santiago de Compostella. Greise, Babys, Kinder, Frauen, Männer… Alle 70cm ein Opfer deutschen Barbarismus. Lesen Sie, was die deutschen Luftwaffe Helden am 1.9.1939 mit Wielun, einer kleinen Stadt ohne Militärstruktur veranstalltet haben. Es war für sie eine Übung. Im Morden der Zivilisten. Lesen Sie, was die Wehrmachts Helden 1944 in Warschau angerichtet haben. 150.000 Zivilisten ermordet im Stadtteil Wola in nur 2 Wochen.  Darunter auch Patienten aus nahe liegenden Krankenhäuser… Und Sie protestieren jedes Jahr ganz bestimmt im Andenken an Hiroshima, Nagsaki und Dresden. Haben Sie vielleicht verinnerlicht, das die Polen, die ihr Hab und Gut im Osten verloren haben die Opfer waren und die Deutschen die Täter oder ist es zu schwer für Sie? Die Entschädigung, die Polen verlangen haben die Juden vom BK Adenauer ende der 50er Jahre bekommen. Zählen die polnischen Opfer nicht? Die Lufthansa muß für die Opfer des Mordes in Alpen zahlen. Setzen Sie es als Maßstab an. Und der Raub polnischer Kulturgüter, zehlt eer nicht? Alleine 150.000 alte Bücher und Manuskripte von Deutschen geraubt worden. Ebenfalls zigtausende Bilder (u.A. der einzige Raffael) und Skulpturen. Lesen bildet - informieren Sie sich über den II WK und seine Folgen in Polen.

Rolf Wächter / 29.12.2022

Wenn die Enteignungsphantasien von Nancy Faeser und Kevin Kühnert Wirklichkeit werden sollten, könnten in manchen Häusern in Deutschland demnächst auch andere wohnen.

Martin Schott / 29.12.2022

@Klaus Keller: Frau Kuszyk hat sicher gute Gründe dafür, dass sie ihr Buch nicht selbst übersetzt hat. Die wenigsten Schriftsteller sind in zwei Sprachen so firm, dass sie in der Lage wären, ihre eigenes Werk gut zu übersetzen. Eine der wenigen Ausnahmen war Nabokov. Der beherrschte sowohl das Russische als auch das Englische so perfekt, dass er mühelos zwischen beiden Sprachen wechseln konnte.

Jürgen Probst / 29.12.2022

Paraphernalia? Muss das sein. Ehrlich, wer kennt dieses Wort? Wahrscheinlich bin ich der einzige, der dieses Wort nicht kennt. Oder?

Hannelore Wolf / 29.12.2022

Wir schaffen uns selber ab. So, wie Preußen verschwunden ist und mit ihm Schlesien Pommern, Ostpreußen und das Sudetenland? Wer kennt dann noch Städte wie Stettin, Breslau,Eger und Königsberg? Oh ja, die Städte gibts noch, aber mit anderen Namen, mit anderen Menschen. Wird es Deutschland ebenso ergehen? Die jetzige, sogenannte Elite, ist bemüht, keine Erinnerung oder auch nur ein Wissen darüber aufkommen zu lassen. Welches Kind kann mit “Preußen” noch etwas anfangen? Höchstens ein nicht näher erklärbares Gefühl, “das ist alt und nicht gut”. Wird es einmal mit “Deutschland” genauso gehen? Man beginnt am Rande: Nationalgefühl, Patriotismus, deutsche Fahnen, gleich, ob von den Befreiungskriegen oder vom Kaiserreich, alle sind von großem Übel. Wenn schon eine Fahne sein muß, dann eine Europafahne und heutzutage noch eine von der Ukraine. Es ist erfreulich, wenn junge Polen heute das deutsche Erbe mehr schützen und bewahren, als unsere “Eliten” es je tun würden oder getan hätten in den letzten Jahrzehnten.

Wilfried Düring / 29.12.2022

Vielen Dank für diese Rezension. Es ist gut und wichtig, daß Sie daran erinnern, daß sehr viele Polen selber Vertriebene waren. Sie wurden zum Teil aus Gebieten der heutigen West-Ukraine (Lwow/Lemberg)  Richtung Westen deportiert. Umgekehrt deportierte man in Polen lebende Menschen ukrainischer Abstimmung Richtung Osten ... Gefragt wurde niemand! Man prügelte die Leute auf LKW und warf sie am Zielort wieder herunter ... . Diese stalinistische ‘Nationalitäten-Politik’ (die angestrebte Schaffung ‘ethnisch reiner Gebiete’ durch die sozialistischen Genossen in den Grenzgebieten Weißrußlands, der Ukraine und Polens) hat Ralph Giordano in seinem großartigen Erinnerungs-Buch ‘Ostpreußen ade - Reise durch ein melanchonischen Land’ ausführlich und eindringlich beschrieben. Im ‘Werte-Westen’ und ‘unserer Demokratie’ sind diese Fakten natürlich vergessen. Die hätten auch nur gestört, galt es doch jährlich die Befreiuung zu ‘feiern’. So eine Feier, will man sich doch nicht von Revanchisten, Dunkel-Deutschen oder gar Nazis versauen lassen, die dann bösartigerweise anfangen von Vertreibungen, Zwangsumsiedlungen oder Deportationen zu quatschen! Seitdem uns die Genossin Florence Gaub beim Genossen Lanz darüber aufgeklärt hat, daß Russen im Vergleich zu uns ‘ganz andere Menschen’ sind (Nächt-Europäer nämlich!), ist plötzlich (’über Nacht’) auch Gewalt gegen wehrlose Frauen im Krieg und Nachkrieg wieder ein offiziell zugelassenes Thema (allerdings nur, sofern die Täter Rossen sind - sie dürfen aber mal googlen: FRAUEN + FRANKREICH + KOLLABORATION).—- Dabei wäre es wichtig, auch DIESE Fakten zu kennen; GERADE HEUTE! In unseren Nachbarländern sind diese Fakten nämlich NICHT vergessen. Und wer diese Fakten kennt, wird polnische Stimmen zum Ukraine-Krieg (auf der Achse Aleksandra Rybinska) besser ‘verstehen’. Liebe Cora Stephan, DANKE für das Schließen einer Bildungslücke. Das Kästner-Lied (ganzer Text auf antiwarsongs.org) war mir unbekannt.

Jakob Mendel / 29.12.2022

Sehr geehrter Herr @Klaus Keller, Ihre Frage nach der Notwendigkeit eines Übersetzers ist berechtigt – ebenso wie m. E. der Übersetzer: Frau Kuszyk übersetzt ins Polnische, also in ihre Muttersprache. – Ohne daß ich Frau Kuszyk irgendwie zu nahe treten wollte: Etwa 400 in der Muttersprache geschriebene Seiten in eine Fremdsprache zu übersetzen, ist eine andere Hausnummer.

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