Cora Stephan / 22.04.2021 / 10:00 / Foto: Tim Maxeiner / 12 / Seite ausdrucken

Cora Stephan: Die Stimme der Provinz – Restaurantsterben

Das erste Warenhaus der Geschichte entstand 1838 in Paris und wurde zehn Jahre später zu einem legendären Einkaufstempel: Au Bon Marché, eine Konsumkathedrale an der Rive Gauche. Sein Vorteil lag auf der Hand: Es gab dort feste Preise und man konnte alle Waren anschauen, ohne mit irgend jemandem kommunizieren (oder gar feilschen) zu müssen. Genau das richtige also für Schüchterne, gutmütige Trottel, die sich sonst stets übers Ohr hauen lassen, und alle anderen Arten von Sozialphobikern. So begann das, die Sache mit der „Anonymität“ der Großstädte. 

Denn ein richtiger Markt war und ist das krasse Gegenteil. Gewiss, heute muss man nicht mehr verhandeln, die Preise liegen fest, aber anonym ist die Sache mitnichten. Hier kann man den Massen nicht ausweichen, und still ist es auch nicht, selbst wenn die Marktschreier aus der Mode gekommen sind. Das Marktweib hat noch immer keinen guten Ruf, ähnlich dem Waschweib: Es redet unaufhörlich und baggert jeden potenziellen Kunden an. So jedenfalls die (selbstredend von schierem Vorurteil getriebene) Legende.

Eine Zeitlang waren sie aus den Städten verschwunden, die Wochenmärkte, es gab ja die hygienischen und hübsch übersichtlichen Supermärkte. Als ein Einzelkämpfer namens Christoph Kremer in Frankfurt für einen „Bauernmarkt“ auf der Konstablerwache zu werben begann, schüttelte die gute Gesellschaft erst kollektiv den Kopf: Huch, die Bauern kommen, Leute in karierten Hemden mit viel Schwarz unter den Nägeln! 1989 kamen sie und blieben – eine Erfolgsgeschichte mit Folgen, mittlerweile hat beinahe jeder Stadtteil seinen Wochenmarkt. Viele der „Bauern“ verdanken ihren relativen Wohlstand dem „Konstimarkt“, die Herbertsmühle (Käse) oder der Rollanderhof (Wein). Wochenmärkte mit echten „Erzeugern“ – falls man nicht von Bauern sprechen möchte – sind städtische Highlights, da kann kein Bioladen mit, vor allem, wenn man auf dem Markt nicht nur einkaufen, sondern auch essen, trinken, dumm rumstehen und klönen kann. 

Die Hölle für Sozialphobiker

In der Provinz ging es jahrhundertelang nicht ohne Markttage, an denen man sich für den Rest der Woche versorgen konnte, die Städte waren weit. In Frankreich sind Wochenmärkte selbst da noch beliebt, wo an jedem Carrefour ein Supermarkt steht. Sie sind ja auch das Paradies auf Erden – und während der Saison die Hölle für Sozialphobiker, weil Touristen aus aller Herren Länder samt Kind, Kegel und Hund der einkaufswilligen Hausfrau im Wege stehen. 

Auf dem Markt in Joyeuse gibt es fast alles: Fisch aus dem Mittelmeer. Den besten Ziegenkäse aus der Umgebung. Kaninchen, Hühner, Perlhühner, Tauben, Wachteln und, zu Ostern, Kapaune. Sowas muss man in Deutschland suchen und findet es meistens nicht. (Bis vor kurzem wurde auf meinem mir nächsten Wochenmarkt in Deutschland Hühner aus der Bresse verkauft – weil es die deutschen Erzeuger bis dato offenbar nicht geschafft hatten, eine vergleichbar hohe Qualität zu produzieren.) Wein aus der Region, Lamm vom Präzisionsmetzger, Oliven und Gewürze, arabisches Fastfood und dazwischen Cafés, bei denen Madame den Monsieur abstellen kann. Nicht zu vergessen die antiquarischen Bücher und die Billigklamotten. 

Noch schöner ist der Markt in Les Vans. Dort stehen um den Brunnen herum verschmitzte alte Herren mit Baskenmütze, die außer ein paar Kartoffeln, Lauchstangen und Honig nicht viel zu verkaufen haben, aber sich köstlich amüsieren und jedes Fotoshooting mitmachen. Daneben die Enkel der Hippies, entsprechend kostümiert und mit sorgsam gestylten Dreadlocks. Der geübte Marktgänger begibt sich nach dem Einkauf in die Kneipe, ins Dardaillon, in der Sonne sitzen und einen trinken. So war das jedenfalls bis 2019. Seufz.

Als die alte Madame nicht mehr in der Küche stehen mochte

Es müssen solche Märkte in der französischen Provinz sein, die beim arglosen Touristen den Verdacht nähren, Frankreich sei ein Land, in dem man gut essen könne. Ja, kann man, wenn man es versteht, aus hervorragenden Zutaten selbst etwas zu machen. Das sollte man keinem Restaurant überlassen. Gewiss, in Paris, Lyon oder Marseille gibt es sie, die Stätten großer Kochkunst. In meiner Umgebung ist es damit nicht weit her – und das wird auch nicht besser werden, wenn die Restos endlich wieder öffnen dürfen. Das Gaststättensterben dauert schon eine Weile an, obwohl man sich mittlerweile hier und da daran gewöhnt hat, dass Touristen auch außerhalb der Zeit von 12 bis 14 oder 18 und 20 Uhr etwas essen und trinken möchten. Die Auberge des Piles etwa machte dicht, als die alte Madame nicht mehr in der Küche stehen mochte. Die kochte traditionell, irgendein Fleisch an gekochten Dosenbohnen. Das war auszuhalten, denn dafür saß man unter einem Dach aus blühenden Glyzinien in Gesellschaft des halben Dorfs. Ein herber Verlust für Familienfeiern. 

Mal sehen, was am Ende der Panikkatastrophe übrigbleibt. Das l‘Europe, in dem vor allem Pizza serviert wird? Wer weiß, ob nicht der Pizzaautomat ein paar Dörfer weiter es einst ersetzen wird.

In Frankfurt darf seit Oktober 2020 auf der Konstablerwache nicht mehr gegessen und getrunken werden. Die Luft wird dünn für all das, was wir lieben.

Foto: Tim Maxeiner

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Bernd Maier / 22.04.2021

“Sowas muss man in Deutschland suchen und findet es meistens nicht” Nicht? In meinem Kaff findet das jede Woche statt und in der Kleinstadt (ca. 100k Einwohner) nebenan auch. Auch in der nächstgelgenen Großstadt (ca. 300k Einwohner). Nicht seit gestern oder letzter Woche, sondern solange man hier zurückdenken kann. Willkommen in der Provinz, wo Leute, die sich hippe Frankreichtrips leisten, eine verschrobene und unsichtbare Minderheit darstellen.

Edgar Timm / 22.04.2021

“Ja, kann man, wenn man es versteht, aus hervorragenden Zutaten selbst etwas zu machen. Das sollte man keinem Restaurant überlassen.” - Ja, liebe Cora Stephan, endlich spricht es mal jemand aus. Wir haben mal im Burgund für nicht wenig Geld Boeuf Bourguignon vom Charolais-Rind mit Gratin dauphinois gegessen. Scheußlich in Bezug auf die Fleischqualität und Zubereitung. Da wäre jedes deutsche Gulasch und jede Bratkartoffel vom Imbiss leckerer gewesen. Ich kenne den Vergleich, denn meine Frau hat mich mit ihren französischen (privat in Lyon erworbenen) Kochkenntnissen in die Ehe “gezwungen”.

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