Cora Stephan / 02.09.2021 / 06:20 / Foto: Lowdown / 27 / Seite ausdrucken

Cora Stephan: Früher war mehr Provinz!

Früher war in Deutschland mehr Provinz, jedenfalls bis vor 102 Jahren.

Man denke an Pommern und Schlesien, Ostpreußen, das Elsass, das Sudetenland. Ein Teil war nach dem Ersten Weltkrieg verloren, das andere nach dem Zweiten. Wie sähe das Land heute aus, hätte es die beiden großen Katastrophen nicht gegeben? Vielleicht so: Berlin läge ein wenig mehr in der Mitte, Franz Marc wäre nicht am 4. März 1916 bei Verdun gefallen und hätte auch etwas anderes als Pferde gemalt, in Schlesien gäbe es eine blühende Textilindustrie (und guten Wein), die Kurische Nehrung wäre als Urlaubsparadies bekannt und der Adel säße noch immer in prächtigen Herrenhäusern und achtete darauf, dass standesgemäß geheiratet würde. Deutschland wäre nur noch von Freunden umzingelt, der Kaiser ein gütiger Mann, der Zar endlich vernünftig, Frankreich der liebste Nachbar...

Unvorstellbar? Oder haben wir uns nur an den Gedanken gewöhnt, dass so ein Gedanke besser unterbleibt?

Rund 14 Millionen Menschen sind nach 1945 aus den Ostprovinzen des Reichs und aus den deutschen Siedlungsgebieten in Osteuropa Richtung Westen geflohen, nicht immer zur Freude der dort schon etwas länger Wohnenden. Die einen haben der verlorenen Heimat hinterhergetrauert und ihre Traditionen gepflegt, andere haben den Verlust als Strafe für die Verbrechen des Hitlerregimes angenommen, wieder andere haben der Vergangenheit den Rücken gekehrt und nur nach vorne geschaut. Vor allem denen verdankt der Westen sein Wiederaufbauwunder.

Zu ihnen gehörten meine Eltern, die als „tolopen Pack“ in Niedersachsen landeten und alle der nicht geringen Widerstände mit ungeheurer Anpassungswilligkeit überwanden. Die Familie meiner Mutter stammt aus Damratsch bei Oppeln, also aus Schlesien, aber das spielte bei uns keine Rolle. Heimat war etwas, das man verlieren konnte, also hatte man besser keine.

Ein Deutschland ohne Hitler und die Weltkriege

Doch vielleicht ist es kein Zufall, dass der Roman, an dem ich derzeit schreibe, in seiner ersten Hälfte in Schlesien spielt? Und dass mir nun ein Buch in die Hände fällt, das der Frage nachgeht, wie denn ein Deutschland heute aussähe ohne den Ersten und den Zweiten Weltkrieg und ohne Adolf Hitler, der Ansichtskartenmaler in Wien geblieben wäre?

Jan Becher, Rechtsanwalt, 1967 in Hanau geboren, ist der Nachfahre einer schlesischen Weberfamilie und hat einen Roman namens „Sedanstag“ geschrieben, Genre „Was wäre gewesen, wenn“.

Die Schlacht bei Sedan ist die letzte, die das Deutsche Reich geführt und gewonnen hat. Einen solchen Sieg über die Franzosen zu feiern, passt im Grunde nicht mehr in das von Becher entworfene Deutschland im Jahr 2020, in eine Zeit von Frieden, Freude und Völkerfreundschaft. Doch im niederschlesischen Langenbielau wird die Tradition hochgehalten, auch wenn man sich dabei ungern an Gerhart Hauptmann und seinen Weberaufstand erinnert, denn die moderne Textilindustrie ist längst der beste Freund der Arbeiter.

Das Wunder des großen Friedens hat Papst Benedikt XI. bewirkt, der nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers im Sommer 1914 durch die Hauptstädte Europas reiste und den österreichischen Kaiser, Kaiser Wilhelm II, den russischen Zaren, Premier Lloyd George und den französischen Staatspräsidenten Poincaré dazu überredete, Frieden zu halten. Keine schlechte Idee des Autors und nein, gar nicht unglaubwürdig, es gab keinen unausweichlichen Grund für einen Weltkrieg und schon gar nicht nur einen einzigen Mann, der schuld daran gewesen wäre.

Und warum soll nicht der französische Sozialistenführer Jean Jaurés, in der realen Welt 1914 ermordet, 1925 noch leben, um mithilfe eines Waldenburger Mädchens Frieden zwischen streikenden Bergarbeitern und den Grubenbesitzern zu stiften? Alles ist möglich – Jan Becher jedenfalls sorgt dafür.

Liebeserklärung an eine untergegangene Kultur

Die russische Revolution hat es nie gegeben, der Zar lässt sich ausgerechnet an seinem Todestag porträtieren und in Zarizyn, uns bekannt als Stalingrad, gründet seine Porträtistin eine Künstlerkolonie. Dass Franz Marc steinalt wird und einem adligen Saufkumpan das eine oder andere Bild überlassen hat, verschafft zerstrittenen Erbinnen eine unerwartete Geldquelle und die spröde Reichskanzlerin der 80er Jahre, die unverheiratete Martha Herbststein, hat einen unehelichen Sohn, der sich einer Begegnung mit einem jungen Muslim mit guten Manieren verdankt, der passenderweise in der Ostsee ertrinkt, bevor das Geheimnis gelüftet werden kann. Das jüdische Leben blüht ebenso wie die Künste, Literatur, Musik.

Der Roman, als Liebesroman zwischen einer Berliner Journalistin und dem Leiter eines Kunstmuseums in Niederbielau angelegt, ist vor allem eine Liebeserklärung an eine untergangene Kultur und an ehemalige deutsche Provinzen. Die Rahmengeschichte ist Tarnung.

Darf man das? Natürlich darf man. Auch wenn einem das erfundene Deutschland von 2021, in dem „Elümi“ verschickt werden, ein wenig wie ein biederes Auenland erscheint. Was man an anderen Ländern schätzen mag – etwa an Großbritannien, wo jedes Fitzelchen Tradition mit Zähnen und Klauen verteidigt wird –, ist für Deutschland schier undenkbar: Wie sähe es aus, wenn es keinen Kulturbruch gegeben hätte, keinen Verlust von Tradition, keinen Abbruch der Erinnerung?

Vielleicht wären deutsche Sanitäreinrichtungen dann noch immer auf dem Niveau der britischen. Aber das kann man ja irgendwie auch nicht wollen.

 

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Günter Schaumburg / 02.09.2021

@Jürgen Krebs: Und ohne amerikanische Dollars hätte es keine “Bewegung” gegeben, weder NSDAP noch SA und der Gefreite vom Inn wäre Postkartenmaler geblieben oder Sickergruben- reiniger geworden. Alles aus Riesenangst vor den Bolschewisten.

Tom Tompson / 02.09.2021

Katastrophen? Als wären die beiden Kriege im 20. Jahrhundert wie Naturereignisse über Deutschland gekommen. Tradition ist ungemein wichtig und keiner hat das Recht anderen ihrer Tradition streitig zu machen - so lange die Tradition nicht aggressiv und gewalttätig ist (nur so am Rande bzgl. unserer eingewanderten Fachkräfte für Gewalt). Manchmal hindert einen eine zu enge Bindung an Tradition aber am Leben, weil es ein untauglicher Bewältigungsmechanismus für ein durchlebtes Trauma ist. Behalten Sie Ihre Tradition, sie ist wichtig für Ihre Identität. Sie ist aber kein Gott.

Günter Schaumburg / 02.09.2021

Sehr geehrte Frau Stephan, die Deutschen aus den Ostgebieten sind nur teilweise (aus Angst vor der Roten Armee) geflohen. Der größte Teil der schon länger dort Wohnenden wurde, wie von Churchill und Stalin ausgeheckt, vertrieben. Als Kollateralschaden sind hunderttausende elendiglich verreckt, datunter ungezählte Kinder! Eine Schande, die wir nicht vergessen sollten.

lutzgerke / 02.09.2021

Im Schatten der Ruinen träumten die Römer schon vor dem 1. Weltkrieg davon, das Imperium Romanum neu auferstehen zu lassen. Das sind gefährliche Gedanken, die jemand zum Anlaß nehmen könnte, genau das zun tun. Was dann auch passiert ist. Den Briten war die ewige Stadt wahrscheinlich auch nie aus dem Kopf gegangen, sonst gäbe es heute keinen victorianischen Kitsch. / Die beiden Weltkriege bleiben uns nur so obszön in Erinnerung, weil die Macht aufgehäuften Kapitals größer war und die Industrie plötzlich Maschinen bauen konnte, die Maschinen bekämpfen und Giftgas produzieren. Wären wir mit Bajonetten aufeinander losgegangen, wären die Amerikaner bestimmt zuhause geblieben. / Und wenn Hitler gewonnen hätte, wären wir da, wo wir heute sind, nur 40 Jahre früher. Das ist leider ein Gedanke, der heute mit aller Macht abgewehrt wird, wofür dann eben eine Niederlage in Kauf genommen werden muß. Hitler war militanter Nichtraucher und fanatischer Vegetarier, eine echtgrüne Spaßbremse: “Eines kann ich den Fleischessern prophezeien: Die Gesellschaft der Zukunft wird vegetarisch leben!” Allan Bullock, Eine Studie über Tyrannei. Kommt einem das nicht bekannt vor? Schwärmen nicht die Supermärkte von ihrer veganen Einstellung, sozusagen als Vorreiter? Die Weltenfeinde haben es immer verstanden, sich als die Guten zu profilieren, während sie im Hintergrund wie eine schleichende Krankheit die Schlüsselpositionen zu erobern wußten. Die Kriege haben vor allem die liberale bürgerliche Ordnung zerstört, das war ihr Agens und das war Hitlers ausgesprochene Absicht. Jetzt werden wir von ihnen mit Tests und Spritzen vergewaltigt, aber noch immer ist das kein (Sozial-)Rassismus und Rechtsextremismus. / Das Narrativ, Corona hat uns die Freiheit genommen, wäre auch unter Pestbedingungen falsch, denn genommen worden ist sie uns von den Corona-Propheten, so oder so.

Jürgen Krebs / 02.09.2021

Apropos letzte Siege, nicht Sedan sondern Paris 1940 und nicht zu vergessen der Sieg über Rußland 1917. Doch wer will das noch wissen? Zu Hitler nur eine Bemerkung: Ohne das Wirken eines Clemenceau und Poincare hätte es Hitler nie gegeben, dito keinen zweiten Krieg (für den die Franzosen in Folge von Versailles verantwortlich sind wie auch zu einem ganz erheblichen Teil für den 1.  Weltkrieg). Im übrigen bin ich durchaus zufrieden, daß zwischen Oder und Memel keine Moscheen existieren, die Kopftuchdichte in der alten Heimat gegen Null geht und Frauen und Mädchen sich noch sicher in den Abendstunden bewegen dürfen.  Wer noch etwas von der alten Heimat sehen möchte, der fahre dorthin, ob polnisch oder deutsch ist doch völlig wurscht.

U. Unger / 02.09.2021

Sicher ein interessantes Buch von Herrn Becher. Ähnliche Gedanken habe ich mir als Schüler gemacht. Es muß so etwa mit 16 gewesen sein, als ich privat die Hitlerbiographie von Allan Bullock gelesen habe. Ich war aber zu jung, um mir vorzustellen, wie die Welt wohl ohne beide Weltkriege ausgesehen hätte. Allein, wenn man sich vorstellt die Europäische Geschichte wäre ohne den 2. Weltkrieg ausgekommen, braucht es viel Phantasie.  Des weiteren drängt sich die Frage auf, warum diese Gedanken niemals von Wissenschaftlern der Volkswirtschaftslehre ernsthaft modelliert wurden. Liegt es daran, das Ökonomen den Frieden brauchen, um in diesen Phasen alle erdenklichen wirtschaftlichen Aspekte von Krieg zu analysieren? Oder ist es zu leicht, mit der Theorie der externen Effekte klare Vorteile für friedliche Lösungen zu ermitteln? Danke für die Anregungen Frau Stephan.

Wilfried Cremer / 02.09.2021

Hallo liebe Frau Stephan, wenn es den Kindern unserer Neuen hier zu eng wird, werden die die Rückeroberung schon übernehmen. Der Pole kann sich schon mal warm anziehen.

Alex Müller / 02.09.2021

Es ist sehr interessant, einen alten Atlas in die Hand zu nehmen und sich zu fragen, wie Europa heute wohl ohne die 2 Weltkriege aussähe. Bei mir steht noch ein reichlich zerfledderter von 1890. Polen, Weißrußland, die baltischen Staaten?  Gab’s nicht, Deutschland grenzte direkt Rußland. Auch im Norden Richtung Dänemark und im Westen Richtung Frankreich war das Land ein gutes Stück größer. Tschechien, Slowakei, Oberitalien, Slowenien, Kroatien, Ungarn, Teile Bosniens und Rumäniens, sogar eine kleines Stück des heutigen Polen (Krakau) - nannte sich Österreich-Ungarn, hatte etwa die gleiche Größe wie Deutschland und wurde fast 70 Jahre vom gleichen Kaiser regiert (ja genau der, aus den Sissi-Filmen). Ein Reich, von dem Churchill schrieb, hätte es es nicht gegeben, man hätte es erfinden müssen. 3 Schuß hat man bekanntlich frei. Der erste, 1914, hat schon einen guten Teil vernichtet, der zweite 1939, noch wesentlich mehr. Die dritte Stufe wurde dann 2015 gezündet - “Wir Deutsche schaffen das” klang für mich verdächtig nach früherem Größenwahn, auch wenn es vielleicht nicht so böse gemeint war. Die Folgen sind vielleicht nicht unmittelbar sichtbar, dafür umso nachhaltiger.

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