Man sieht kaum noch, dass da mal eine Grenze war – aber jedes Mal, wenn ich bei Mulhouse von Deutschland aus gen Frankreich fahre, gibt es noch ein Spürchen des alten Gefühls: Gleich beginnt ein Abenteuer.
Gut, mit der Zeit ist es nicht mehr ganz so abenteuerlich. Baguette und Cigarette und Baskenmütze sieht man, bis auf das Brot, nur noch selten, und dass es in jeder Kaschemme an der Route National hervorragendes Essen gibt, ist auch ein Gerücht. Und niemand muss französischen Weißwein trinken, wenn er auch guten deutschen haben kann. Dennoch: Wir unterscheiden uns, die Deutschen und die Franzosen, nicht nur in den nationalen Klischees. Ganz abgesehen von den Briten, den Polen, den Belgiern, den Ungarn, den Niederländern.
Darf man das Nationalcharakter nennen? Er war sichtlich entsetzt und musste mir sofort in die Parade fahren, der Schweizer Qualitätsschriftsteller, als ich bei einer öffentlichen Podiumsdiskussion von „Nationalcharakter“ gesprochen habe. Das sei, empörte er sich, na was wohl: nationalistisch.
Lieber links fahren und warmes Bier trinken
Also sind alle Unterschiede zwischen den europäischen Ländern zu leugnen oder, soweit sie stören, zu planieren? Das ist das, räusper, „Narrativ“ der Europäischen Union, die ihren Mitgliedstaaten eine „immer engere Union“ aufnötigen möchte.
Nationalstaaten gelten als Relikte des 19. Jahrhunderts, sie führen zu Krieg und Aggression, also weg damit. Dabei helfen Resettlementprogramme, nach denen es keine Nationen mehr gibt, nur mehr Siedlungsräume, und die Feier von „Diversität“ anstelle von Staatsbürgerschaft. Hautfarbe und sexuelle Orientierung ersetzen so etwas Altmodisches wie „deutsch“ oder „englisch“. Die Zukunft gehört dem „identitätslosen und provinziellen EU-Weltbürger“ (Tomas Spahn).
Noch wehrt sich der eine oder andere – vor allem die Visegrad-Staaten bestehen auf ihrer nationalen Souveränität. Warum sollte man sich auch dort schon wieder einer demokratisch nicht legitimierten Macht unterwerfen, nachdem man eben erst aus der eisernen Klammer der Sowjetunion entlassen wurde?
Großbritannien ist gleich ganz ausgestiegen aus der Veranstaltung namens EU. Egoisten! Die wollen halt lieber links fahren und warmes Bier trinken …
Im Ernst: Ich habe den Wegfall innereuropäischer Grenzen mitnichten nur begrüßt. Sie waren ja auch zuvor bereits durchlässig – und doch zugleich ein sichtbares Zeichen: Man gelangte in ein anderes Land, mit anderen Sitten und Unsitten.
Beharren auf einer gemeinsamen Geschichte
Und das ist noch immer so. Nein, liebe Annalena Baerbock, es stimmt nicht, dass der größte Vorteil der EU darin liegt, dass überall der Stecker in die Steckdose passt. Der einfache Eurostecker vielleicht. An allen anderen Steckern und Steckdosen aber kann man den noch immer nicht verblichenen Nationalcharakter perfekt ablesen.
Nichts anderes als der Unterschied macht den Charme unseres Kontinents aus. Selbstredend gehören zum Nationalcharakter nicht nur der französische Käse oder das englische Ale oder der schottische Dudelsack und andere Klischees. Auch die Geschichte der Nationwerdung unterscheidet sich jeweils – und natürlich auch die Erinnerung an Kriege und Erbfeindschaften. Frankreich zehrt vom Mythos nationaler Glorie – auch wenn es sich von den Briten sagen lassen muss, dass es die beiden letzten Kriege ohne Hilfe nicht gewonnen hätte. In Großbritannien wiederum vergisst man gern, dass man sein Imperium selbst verspielt hat, in dem man sich im Übrigen keineswegs nur zivilisiert benommen hat. Polens Nationalstolz, in der Vergangenheit durchaus aggressiv, speist sich aus der Erfahrung der polnischen Teilungen.
Außerhalb von Deutschland ist man mitnichten geneigt, sich zum Siedlungsgebiet zu erklären für alle, die aus ihren Heimatländern fortwollen. Das kann, aber es muss nicht Ausländerfeindlichkeit sein. Es ist das Beharren auf einer gemeinsamen Geschichte und Kultur, ganz abgesehen von der Sprache. Nur Anywheres, die glauben, es sei kosmopolitisch, sämtliche Flughäfen der Welt zu kennen, scheinen darauf weniger Wert zu legen.
Nationalstaaten beruhen auf der Unterwerfung der Provinzen
Die meisten europäischen Nationalstaaten bestehen aus Regionen und Provinzen, die sich oft nicht weniger unterscheiden als die europäischen Staaten untereinander. Die Sachsen sind nicht wie die Bayern und die wiederum nicht wie die Niedersachsen. In Frankreich ist das nicht viel anders. Das Vivarais etwa, wo ich das hier schreibe, einer der Austragungsorte des Bellum Gallicum und Heimat einer der ältesten Bilderhöhlen Europas – man schätzt das Alter der Gemälde in der Grotte Chauvet auf mehr als 30.000 Jahre –, ist nicht mit südfranzösischer Leichtigkeit gesegnet. Dafür sorgt auch die Erinnerung an die brachiale Verfolgung der Hugenotten im 16. Jahrhundert – „die Cevennen müssen brennen“, deklarierte damals ein Befehlshaber der königlichen Heere.
Nationalstaaten beruhen auf der Unterwerfung der Provinzen. Eine EU, die auf der Unterwerfung ihrer Mitglieder beruht, wäre eine schlechte Kopie. Es lebe der Unterschied. Niemand hier wie dort möchte nationale Souveränität an eine durch nichts legitimierte Instanz wie die EU-Bürokratie abtreten. Nicht nur in Polen, nicht nur in den Visegrad-Staaten stößt das Ziel der „immer engeren Union“ zunehmend auf Widerstand. „Die EU bekommt es mit einer veritablen demokratischen Konterrevolution zu tun, die das alte, nur scheinbar gelöste Problem der nationalen Souveränität in einem Staatenbund zur Diskussion stellt“, schreibt Karl-Peter Schwarz zum aktuellen Konflikt um Polen.
Widerstand gegen Grenzüberschreitungen der EU-Bürokratie gibt es selbst im kreuzbraven Deutschland – und in Frankreich. Es lebe die Grenze.
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