Nein, wirklich: Wir haben hier nichts gegen Großstädte, solange wir nicht in ihnen leben müssen. Im Gegenteil: Jeder Besuch, selbst in der kaputtregierten Bundeshauptstadt, macht unsereins wieder klar, was wir an Großstädten schätzen, weshalb wir sie gern besuchen und schnell wieder verlassen.
Ach was, es wird vielleicht sogar noch klarer, was wir an ihnen haben, wenn man sich nicht ständig in ihnen aufhält. Ist doch so: Ein Tourist weiß im Zweifelsfall über die besuchte Stadt mehr als jene, die jeden Wochentag den gewohnten Weg zwischen Arbeitsplatz, Einkaufsmöglichkeiten und Behausung absolvieren. Am Wochenende vielleicht mal ins Kino oder in den Biergarten. So jedenfalls erging es mir zuletzt in Frankfurt am Main, wo ich es immerhin einige Jahrzehnte lang ausgehalten habe. Irgendwann kommt man nicht mehr viel rum.
Aber immerhin: Ich weiß noch, wie der Römerberg aussah, bevor er im alten Stil überbaut wurde – da war eine große Leerstelle zwischen Römer und Dom, unbebaut und öd, also der perfekte Platz, auf dem sich allerlei Demonstrationsgeschehen abspielen konnte.
Welch schöne Erinnerungen an krächzende Megaphone und kollektives Rumgebrülle werden da wieder wach! Damals hat man sich nicht einfach festgeklebt und still und ruhig verhalten, bis die Polizei einen davon trug! Nein! Man war in Bewegung, mit den Füßen und, ja, mit den Armen. Solange jedenfalls, wie das Pflaster noch locker war.
Betonklötze als Liegestätte und Picknicktisch
Es geschah etwas später, aber ich werde es nie vergessen, wie man in den 80ern gegen Studiengebühren demonstrierte – Studenten hinter einem Banner, auf dem doch tatsächlich stand: „Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht.“ Kleiner hatte man es nicht. Aber schweifen wir ab und wieder zurück.
Gerade eben bin ich in der Bundeshauptstadt, gestern Abend war ich unterwegs zu einer Lesung in der „Gedenkbibliothek zur Ehren der Opfer des Kommunismus“. Das Haus liegt hinter der Nikolaikirche und birgt eine beeindruckende Sammlung von über 12.000 Werken zur Geschichte von Sowjetunion und DDR, von Dissidentenliteratur bis zu Haft- und Lagererinnerungen, auch in Manuskriptform. Die Bibliothek mit ihren vielen Sesseln und Leseecken ist weit gemütlicher als das, was man da zu lesen bekommt.
Auf dem Weg dahin, vorbei an dem hochgelobten Holocaustdenkmal, das im übrigen nicht nur Björn Höcke oder Rudolf Augstein als „Denkmal der Schande“ bezeichnet haben, sondern auch der ziemlich unverdächtige Neil MacGregor in seinem Buch: „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“: „Jedenfalls kenne ich kein anderes Land, das in der Mitte seiner Hauptstadt ein Mahnmal der eigenen Schande errichtet hätte.“
So ist es. Man kann das bekanntlich so oder so verstehen. Ich verstehe das so: Das Stelenfeld ist hässlich, grau und heruntergekommen. Ich mochte die Idee noch nie und kann mir heute erst recht nicht vorstellen, dass das ein Ort ist, wie Bundeskanzler Gerhard Schröder ihn sich wünschte, „wo man gerne hingeht.“ Oder vielleicht doch? Immerhin taugen die Betonklötze offenbar als Liegestätte und Picknicktisch.
Sehen wir es so: Berlin ist eine Stadt der Wunder, da muss man nicht alles verstehen. Auch nicht, dass immer irgendwo etwas abgesperrt oder für Fahrradfahrer reserviert ist. Oder mit „Parklets“ zugestellt wird, womit die Stadtregierung schon in der Bergmanstraße gescheitert ist – aber was tut man nicht alles gegen Autoverkehr, auch das, was nichts nützt.
Moralweltmeister sein, muss genügen
Ein Wunder auch das wiederhergestellte Stadtschloss, ein prächtiger Anblick, fürwahr. Doch niemand in Berlin scheint so richtig zu wissen, was man damit machen soll, ach was: darf. Schon ein Kreuz auf der Kuppel war manchem zu viel. Vielleicht noch ein „Mahnmal der eigenen Schande“ draus machen? Buße tun für die Sünden des deutschen Kolonialismus? Dafür ist der Platz allerdings zu groß. Andere Länder und Völker haben da weit mehr zu bieten. Wir können ja nicht in allem die Größten sein, Moralweltmeister sein, muss genügen.
Die vielen auswärtigen Besucher des Nikolaiviertels, die wegen der InnoTrans nach Berlin gereist sind, interessieren sich wahrscheinlich nicht für solche Feinheiten. Das Nikolaiviertel ist zwar keineswegs so historisch, wie es wirken soll, es wurde 1944 zerbombt und in den 80er Jahren historisierend rekonstruiert, als Erich Honeckers Puppenstube, aber es hat ausreichend viele Kneipen, wo sich die Mobilitätsspezialisten aus aller Welt lautstark versammelt haben. Vor einer der Abfüllstationen steht ein junger Mann mit einem Rucksack, aus dem ein freundliches Hundegesicht schaut. Ich darf kraulen. Der junge Mann kommt aus GB. Und der Hund ist, na was? Ein Corgi. A Queen’s dog.
Und das, ganz ehrlich, versöhnt dann wieder mit Berlin. Ausländer, lasst uns nicht mit den Berlinern allein!