Von Oliver M. Haynold.
Ein Richter, der nur einmal Recht beugt, ist in seiner Stellung nicht mehr tragbar. Ein Kassierer, der nur einmal in die Kasse greift, genauso wenig. Im Wesen dieser Positionen liegt eine besondere Vertrauensstellung, und ein Verlust dieses Vertrauens macht die entsprechende Person in ihrer Position untragbar. Für den Leiter einer wie auch immer gearteten Versammlung, die irgendwelche Dinge nach dem Majoritätsprinzip zu entscheiden hat, besteht das Wesen dieser besonderen Vertrauensstellung in der unparteiischen Leitung und insbesondere in der korrekten Auszählung. Claudia Roth hat dieses Vertrauen in den frühen Morgenstunden des 28. Juni verspielt. Schlimmer noch, das Bundestagspräsidium unterstützt sie darin überparteilich und greift damit die Grundregeln demokratischer Entscheidungsfindung und seine eigene Legitimität an.
Der Bundestag beriet einen Gesetzentwurf zur Anpassung des Datenschutzrechts, bei dem es sich laut dem ersten Redner um einen „längeren und umfangreichen gesetzgeberischen Transformationsprozess“ handelt, vom „Arzneimittelgesetz wie A bis hin zum Zivildienstgesetz wie Z.“ Man kann sich dabei natürlich schon wegen dieser umfangreichen Auswirkungen auf alle Lebensbereiche darüber streiten, ob das ein Gegenstand sei, den man nachts um halb zwei schnell durchs Parlament peitschen sollte.
Die Redebeiträge von CDU und AfD blieben, sicher auch der Stunde und der Kürze der Zeit geschuldet, relativ inhaltslose Bekundungen von Zustimmung beziehungsweise Ablehnung. Konstantin von Notz für die Grünen äußerte sich etwas tiefergehend zu verfassungsrechtlichen und rechtstaatlichen Problemen des Entwurfs. Die Redner für die SPD, die Linke und – für das behandelte Thema sehr erstaunlich – auch für die FDP gaben ihre Reden lediglich ins Protokoll. Dann kam der Eklat.
Jürgen Braun meldete sich als Fraktionsgeschäftsführer für die AfD zu Wort. Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth, die die Sitzung leitete, herrschte ihn zunächst einmal mit einem „Was is?“ an, erteilte ihm dann aber im Tonfall einer Kindergärtnerin am Rande des Nervenzusammenbruchs das Wort. Herr Braun bat angesichts der Wichtigkeit der Materie um eine Überprüfung der Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses, von der offensichtlich war, dass sie nicht gegeben war (siehe Video).
„Ruhe jetzt!“
Frau Roths Antwort war geeignet, Parlamentsgeschichte zu schreiben: „Wir haben hier oben miteinander diskutiert, wir sind der Meinung, dass die Beschlussfähigkeit gegeben ist,“ begleitet von kräftigem Applaus aus den Regierungsfraktionen. Nachfragen kommentierte Frau Roth mit „Sie haben jetzt keine Möglichkeiten, wir haben uns jetzt so entschieden,“ gefolgt von einem doppelten „Setzen Sie sich hin!“ nach rechts und einem nach links gebrüllten „Ruhe jetzt!“ Daraufhin wurden die Gesetze innerhalb von wenigen Minuten in jeweils zweiter und dritter Lesung durchgewinkt. Um die Sache schlimmer zu machen, hat am nächsten Tag das Bundestagspräsidium, in dem alle Fraktionen außer der größten Oppositionsfraktion vertreten sind, einmütig das Vorgehen Frau Roths gebilligt.
Dieser Vorfall war eine Wiederholung eines ähnlichen Vorkommnisses vom 6. Juni, nur drei Sitzungen zuvor. Der Abgeordnete Roland Hartwig meldete sich vor Beginn einer Abstimmung zur Geschäftsordnung und wurde von Vizepräsident Kubicki zunächst mit den Worten „Nicht in der Abstimmung“ abgeblockt. Als er sich Gehör verschaffte und die Beschlussfähigkeit namens seiner Fraktion in Zweifel zog, wurde ihm von Herrn Kubicki beschieden, „das Präsidium ist sich einig, wir bezweifeln die Beschlussfähigkeit des Parlamentes nicht.“ Begründet wurde das von Herrn Kubicki damit, dass die nötige Zahl Abgeordneter zwar nicht im Saal, aber doch auf dem benachbarten Sommerfest zugegen sei. Er riet Herrn Hartwig dann, „mit den restlichen Abgeordneten der AfD den Saal [zu] verlassen.“ Begleitet wurde das von begeistertem Applaus und höhnischen Ausrufen der wenigen Anwesenden der anderen Fraktionen.
Frau Roth und ihre Verteidiger berufen sich darauf, dass §45 (2) der Geschäftsordnung des Bundestags eine Feststellung der Beschlussfähigkeit vorsieht, wenn „vor Beginn einer Abstimmung die Beschlußfähigkeit von einer Fraktion oder von anwesenden fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages bezweifelt und auch vom Sitzungsvorstand nicht einmütig bejaht” wird. Die Beschlussfähigkeit des Bundestags wird in §45 (1) definiert als gegeben, „wenn mehr als die Hälfte seiner Mitglieder im Sitzungssaal anwesend ist.“ Das war in der fraglichen Sitzung offensichtlich nicht der Fall.
Die Geschäftsordnung des Bundestags muss so interpretiert werden, dass sie im Einklang mit dem Demokratieprinzip steht, das nicht nur im Art. 20 des Grundgesetzes garantiert und sogar mit einem ausdrücklichen Widerstandsrecht versehen ist, sondern das auch, wenn es nicht ausdrücklich geschrieben wäre, offensichtlich ein Bestandteil der grundlegenden Verfassungsentscheidung für die parlamentarische Demokratie ist. Ein Parlament, in dem die Minderheit kontrafaktisch zur Mehrheit erklärt würde, widerspräche dem Begriff des Parlaments an sich und wäre gar kein Parlament mehr, sondern eine Akklamationskammer.
Angriff auf die parlamentarische Demokratie
Um den Unrechtsgehalt der Entscheidung von Vizepräsidentin Roth und ihrer Kollegen Josef Oster und Benjamin Strasser zu verstehen, reicht ein einfaches Gedankenexperiment. Für die Auszählung der Stimmen einer Abstimmung ist der Regelfall nach §51 der Geschäftsordnung, dass sich der Sitzungsvorstand über das Ergebnis einig ist, also das gleiche Kriterium wie bei der Feststellung der Beschlussfähigkeit. Es ist nun klar, dass die Verfassungsentscheidung für die parlamentarische Demokratie vollkommen konterkariert wäre, würde der Sitzungsvorstand bei einer Abstimmung einstimmig die Mehrheit zur Minderheit und die Minderheit zur Mehrheit erklären. (Das ist bekanntermaßen das Prinzip, nach dem sich die Bolschewiki benannt haben.) Es könnten sich Sitzungsvorstand, Präsidium und Ältestenrat noch so einig sein, und doch wäre eine solche falsche Feststellung der Mehrheit ein skandalöser Rechtsmissbrauch, der nicht nur den Verhandlungsgegenstand, sondern die parlamentarische Demokratie an sich angreifen würde.
Ich sehe keinen Grund, warum das Gleiche nicht auch für den analogen Fall der Feststellung der Beschlussfähigkeit zutreffen sollte. Hier handelt es sich ja ebenfalls um eine Feststellung der Mehrheit, nämlich, dass die Mehrheit der Abgeordneten anwesend sein muss, und es darf dabei nicht willkürlich eine Minderheit zur Mehrheit erklärt werden. Auch der von Herrn Kubicki zitierte Umstand, dass eine Mehrheit bei einem nahegelegenen Fest anwesend sein mag, zählt nicht, denn das Fest erfüllt nicht das Erfordernis der Geschäftsordnung, dass die Abgeordneten „im Sitzungssaal“ zu sein haben. Genauso ist es kein Argument, dass einzelne Abgeordnete durch Bezweifeln der Beschlussfähigkeit die Arbeit des Bundestags willkürlich blockieren könnten, denn §45 der Geschäftsordnung verlangt für die Feststellung der Beschlussfähigkeit ein eigenes Quorum, nämlich eine Fraktion oder fünf Prozent der Mitglieder. Damit soll also gerade einer Minderheit in der anwesenden Minderheit die Möglichkeit gegeben werden, die Beschlussfähigkeit prüfen zu lassen.
Wer absichtlich falsch zählt, ist als Sitzungsvorstand des Bundestags nicht tragbar. Den ersten Fehler mag man vielleicht noch durch die fortgeschrittene Stunde, zu der man eigentlich keine aufschiebbaren Rechtsgeschäfte mit Konsequenzen für achtzig Millionen Menschen tätigen sollte, entschuldigen können. Aber anstatt den Fehler am nächsten Tag zu korrigieren, beharrt das Bundestagspräsidium auf ihm.
Vertrauen verspielt
Wir wollen hoffen, dass die AfD-Fraktion diesen Vorgang gerichtlich überprüfen lässt und recht bekommt, auch wenn das innere Vorgehen des Bundestags unter dem Gesichtspunkt der Gewaltenteilung eigentlich keinen wirklich geeigneten Gegenstand richterlicher Entscheidung abgibt.
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 1977 (2 BvR 705/75), nach der ein von nur wenigen Abgeordneten eines offensichtlich beschlussunfähigen Bundestags beschlossenes Gesetz trotzdem rechtmäßig zustande gekommen sei, ist hier jedenfalls nicht ausschlaggebend, denn im damaligen Fall wurde die Beschlussfähigkeit nicht vor der Abstimmung in Frage gestellt. Im Gegenteil argumentierte die Bundesregierung damals vor dem Verfassungsgericht, dass die Regelung zur Beschlussunfähigkeit „so angelegt sei, dass parlamentarische Minderheiten an der Geltendmachung der Beschlußunfähigkeit nicht gehindert werden könnten.”
Jeder Kassierer auf Mindestlohn, der absichtlich falsch zählt, vielleicht wegen irgendeiner menschlich verständlichen Notlage, wird hochkant herausgeschmissen, wahrscheinlich angezeigt und strafrechtlich verfolgt und wird in dieser Tätigkeit so schnell keine neue Stelle finden. Will der Bundestag seine eigene Legitimität, die Grundlage unserer Verfassungsordnung, nicht selber angreifen, so wäre er gut beraten, sich ein neues Präsidium zu wählen, das dann auch alle vertretenen Fraktionen beinhalten könnte, so wie es die Geschäftsordnung vorsieht. Das jetzige Präsidium hat das Grundvertrauen der ehrlichen Zählung verspielt.
Autor Oliver M. Haynold wuchs im Schwarzwald auf und lebt in Evanston, Illinois. Er studierte Geschichte und Chemie an der University of Pennsylvania und wurde an der Northwestern University mit einer Dissertation über die Verfassungstradition Württembergs promoviert. Er arbeitet seither als Unternehmensberater, in der Finanzbranche und als freier Erfinder.