Die Geschichte von Claas Relotius ist die Geschichte eines jungen Mannes, der mit Lügen handelte. Er war sehr erfolgreich in seinem Gewerbe. Denn er wusste, was sich gut verkauft. In den insgesamt sechzig „Edelreportagen“, die er seit 2011 ablieferte, stimmte immer alles. Sie waren Seelenkitzel für „Spiegel“-Leser, immer stimmig und zu schön, um wahr zu sein.
Die Geschichten lasen sich manchmal so, als wäre der Chronist in die Köpfe der Interviewten gekrochen, um deren Gefühle zu recherchieren. Die handelnden Personen passten auch stets ins Klischee von Gut und Böse: Trute Lafrenz, die 99-jährige letzte Überlebende der „Weißen Rose“, die so sehr unter der Angst vor deutschen Neonazis leidet; ein Junge aus der Stadt Daraa, der sich Vorwürfe macht, weil er glaubt, er sei mitschuldig am syrischen Bürgerkrieg, zwei „Löwenjungen“, die im Irak vom IS entführt und umerzogen wurden, ein junger Jemenit, der 14 Jahre lang in Guantanamo isoliert und gefoltert wird und sich zum Schluss vor der Freiheit fürchtet. Alle waren unverschuldet in Seelenpein geraten. Es waren gefühlvolle Geschichten, die nur den Nachteil hatten, dass sie erfunden waren.
Seit Anfang der Woche ist Claas Relotius’ Laden geschlossen. Um dem „Spiegel“ Häme zu ersparen, ließ Chefredakteur Ullrich Fichtner am Tag, nachdem der Zinker gestanden hatte, dass er ein Fälscher war, die Hosen runter. Man werde die Sache in Demut aufarbeiten. Er verstand es sogar, die „Spiegel“-Affäre in eine Affäre der deutschen Medien umzudeuten, um Solidarität zu erzeugen.
Keine falschen News, sondern erfundene Schnulzen
Am Tag nach der Enthüllung erschien „Spiegel online“ mit fünf erklärenden Artikeln zur Sache. Nur, sie gingen zum Teil am Thema vorbei. Denn was Relotius angerichtet hatte, waren ja keine falschen News, sondern erfundene Schnulzen ohne konkreten Nachrichtenwert. Chefredakteure lieben Schnulzen, die an der Nahtstelle zwischen Journalismus und Literatur spielen.
Bartholomäus Grill vom „Spiegel“, schrieb, als er noch bei der „Zeit“ war, über den verlogenen polnischen Starreporter Ryszard Kapuscinski, nachdem dieser als Zinker entlarvt worden war: „Es gibt keinen objektiven Journalismus. Dennoch gilt jenseits des hermeneutischen Zweifels das Gebot der journalistischen Wahrhaftigkeit: Wir wissen nicht, ob ein Ereignis tatsächlich so war, aber wir beschreiben nach bestem Wissen und Gewissen, wie es gewesen sein könnte. Ryszard Kapuściński verletzte dieses Gebot, er ist entzaubert als unbestechlicher Chronist. Fortan müssen wir ihn als reisenden Literaten lesen, dessen Erzählungen zwischen Dichtung und Wahrheit oszillieren.“ Grills Fazit: Lügen werden geadelt, wenn man sie zur Literatur erklärt.
Diese feinsinnige Definition müsste auch Claas Relotius für sich beanspruchen können. Der Schaden, den er angerichtet hat, ist nur schwer zu definieren. Mal abgesehen von den Wunden, die die Affäre der Reputation des Blattes zugefügt hat. Es könnte schon sein, dass das „Sturmgeschütz der Demokratie“, wie Rudolf Augstein den „Spiegel“ genannt hat, künftig eine Narrenkappe trägt.
Trump als Killer und Komet
Dabei kann man darüber streiten, ob der „Spiegel“ durch andere Beiträge mehr gegen die Gesetze der journalistischen Redlichkeit verstoßen hat als durch die erfundenen Geschichten von Claas Relotius. Durch die zynischen Titelbilder beispielsweise, auf denen US-Präsident Donald Trump als todbringender Komet dargestellt wird, oder als Killer mit einem langen Messer in der Linken und dem abgeschnittenen bluttriefenden Haupt der Statue of Liberty zur Rechten.
Ist der Primus der deutschen Medien jetzt das Flaggschiff der Lügenpresse? Nein, er ist, wie der SPD-Politiker Herbert Wehner einmal schnauzte, „ein Blatt, weiter nichts“. Andere Blätter haben auch ihre Defizite.
Dass der Primus gelegentlich ins Klo gegriffen hat, ist ja nichts Neues. Der erste große Negativcoup war 1987 die Titelgeschichte „Barschels schmutzige Tricks". Nicht, dass das meiste nicht gestimmt hätte. Doch sie war einseitig SPD-freundlich und Barschel-feindlich. Kampagnenjournalismus in Reinkultur. Nach der Veröffentlichung kam dann raus: SPD-Rivale Björn Engholm, das Opfer der Barschel-Tricks, hatte auch Dreck am Stecken. Richtig hätte die Titelzeile heißen müssen: „Schmutzige Tricks in Kiel". Barschel wurde später tot in einer Genfer Hotelbadewanne gefunden. Das Ondit erkannte auf Mord, die Staatsanwaltschaft auf Selbstmord. Engholm musste ein paar Jahre danach wegen einer Falschaussage zurücktreten.
Der „Spiegel“ schrieb im Oktober 2007 zum zwanzigsten Jahrestag des Barschel-Skandals: „Lügen sind ein fester Bestandteil aller Affären. Irgendwann aber kommt die Wahrheit raus. Die Kieler Affäre nahm den umgekehrten Verlauf: Erst schien alles klar, Barschel der Jago, Pfeiffer sein Werkzeug, Engholm das Objekt ihrer Schandtaten. Heute ist alles weniger klar.“ Man kann das als Selbstkritik werten, man muss es aber nicht. Robert Leicht, der Drei-Sterne-Denker der „Zeit“, stellte dem „Spiegel“ für den Barschel-Titel ein ungutes Zeugnis aus: „Vielleicht werden spätere Generationen sogar eine umgekehrte Spiegel-Affäre erkennen – also eine Affäre des Nachrichtenmagazins selber; und all derer, die ihm gläubig gefolgt sind.“
Auch im Falle des NSU daneben gelegen
Schlechte Noten gab es auch für die Berichterstattung zum Serienmord des „Nationalsozialistischen Untergrundes“ (NSU) an neun Migranten und einer Polizistin. Da stand der „Spiegel“ auf der falschen Seite. Im August 2011 pöbelte er: „Seit elf Jahren halten die sogenannten Döner-Morde die Polizei in Atem. Nun könnte die Serie womöglich aufgeklärt werden, doch die Staatsanwaltschaft verprellt ihren Informanten.“
Im Oktober 2011 ging dann die Bombe hoch: Die neun Männer waren Opfer einer rechtsradikalen Verschwörung geworden und nicht Opfer einer Türkenvendetta. Es war ein hässliches Blatt in der Chronik der vierten Gewalt. Bundeskanzlerin Angela Merkel sah immerhin Anlass, sich bei den türkischen Familien zu entschuldigen.
Blessuren zog sich der „Spiegel“ im August 2016 auch im Verfahren gegen den Freelance-Reporter Jürgen Todenhöfer vor der Hamburger Pressekammer zu. Gemeinsam mit seinem Sohn Frederic und dessen Freund war Todenhöfer zehn Tage lang bei der Mörderkongregation IS in Syrien gewesen. Im Land der Halsabschneider kriegte er sogar einen fetten deutschstämmigen Totmacher zum Interview. Das war eine stramme Reporterleistung.
Der „Spiegel“ hatte für den Leistungsträger nur Hohn übrig. Im Januar 2016 erschien er mit einer Story über den "Märchenonkel" Todenhöfer, in dem dieser nach Strich und Faden niedergemacht wurde. Der Gescholtene klagte gegen den Verriss und gewann. Ende August musste der „Spiegel“ vor der Hamburger Pressekammer 14 strafbewehrte Unterlassungserklärungen abgeben. In Worten: Vierzehn. Das tat weh.
Wie konnte es geschehen?
Der Rechtsanwalt, der dem „Spiegel“ den Wirkungstreffer verpasste, war Michael Nesselhauf, der 15 Jahre lang Rudolf Augsteins rechte Hand und „Spiegel“-Verlagsleiter gewesen war. Allerdings kann der „Spiegel“ darauf verweisen, dass Todenhöfer einen Teil der Gerichtskosten selbst bezahlt und auf eine Gegendarstellung verzichtet hatte.
Und nun also der Fall Relotius. Im ganzen Haus an der Hamburger Ericusspitze gibt es zur Zeit nur eine Frage: Wie konnte es geschehen? Auch Tränen flossen. Jeder Text wird normalerweise von mehreren Kontrolleuren gegengelesen: von Ressortleiter, Chefredakteur oder Stellvertreter, von der Rechtsabteilung und der Dokumentation, die Experten für alles und jeden hat. Sachliche Fehler gehen bei ihr nur selten durch. Aber wie soll ein Dokumentationsjournalist überprüfen, ob das, was der Reporter in seinen Block schreibt, authentisch oder erfunden ist.
Das Mantra von Dokumentationsleiter Hauke Janssen lautet: „Wir glauben erstmal gar nichts.“ Das ist ein großes und forsches Wort. Denn Vertrauen ist eine Untugend, in der Dokumentation noch mehr als in der Redaktion. Wie konnte Claas Relotius dann seine Lügengeschichten ins Blatt mogeln? Hat er sie glaubhaft gemacht und wenn ja, wie? Eine dreiköpfige Untersuchungskommission soll jetzt die Hintergründe der Affäre klären. Doch so viel scheint jetzt schon festzustehen: Die Dokumentation hat versagt. Sie hat eben nicht nur die Aufzeichnungen des Reporters, sondern offenbar auch nachprüfbare Fakten nicht ordentlich verifiziert.
Eine Form von Pseudojournalismus
Wie war das zum Beispiel mit der Beschreibung von Fergus Falls, einer Kleinstadt im US-Staat Minnesota, wo sich Relotius für eine Weile niedergelassen hatte, um die Denkart der dort lebenden Trump-Wähler zu beschreiben? Im April, nach Erscheinen der Geschichte, meldete sich Michelle Anderson, eine Einwohnerin von Fergus Falls, per Twitter beim „Spiegel“ in Hamburg. Sie teilte mit, die ganze Geschichte sei „Fiktion“. Es handle sich um eine „beleidigende Form von Pseudojournalismus“. Nur, der Tweet wurde in der Redaktion nicht zur Kenntnis genommen. Er landete irgendwo im Apparat.
Nein, nein, früher war nicht alles besser. Aber manches eben doch. Die persönlichen Beziehungen zwischen Redakteur und Dokumentarist waren schlecht. Und das war so gewollt. Ich kann mich erinnern, wie ich mich einmal mit einem Dokumentaristen und einem Hausanwalt von morgens zehn bis abends halb sieben lautstark gefetzt habe, bis meine Geschichte über Wiedergutmachungsbetrug endlich für druckreif erklärt wurde.
Die Korrektursitzungen waren wie eine Inquisition. Wenn Redakteur und Dokumentarist sich nicht einigen konnten, wurde der Streit zur Chefsache. Ich habe solche Dissonanzen mit meiner Lieblingsdokumentaristin Hedwig Sander, einer umgeschulten Studienrätin, oft bis zum Bruchpunkt getrieben. Sie hätte mir die Ohren oder sonst was langgezogen, wenn ich ihr eine von diesen Relotius-Fälschungen vorgelegt hätte.
Wie dämlich müssen die sein, die so was drucken?
Die Kasernenhofallüren gingen unter der Leitung von Chefredakteur Klaus Brinkbäumer verloren. „Der Klaus“, wie die meisten ihn nannten, war geradezu penetrant sympathisch. Er pflegte einen kollegialen Umgang, der streckenweise im laissez faire mündete. Fraternisierung hebt gewiss die betriebliche Stimmung, aber selten die Stabilität der Geschäftslage. Brinkbäumer konnte selbst schöne Geschichten schreiben und auch andere dazu animieren, doch erfolgreich eine Newsfabrik führen, ist eine ganz andere Sache. In seinem Haus herrschte eine Disziplin wie in einer selbstbestimmten Krabbelgruppe.
Der freischaffende Journalist Juan Moreno, der Relotius bisweilen begleitete, war der Erste, der Zweifel an der Zuverlässigkeit von dessen Geschichten hatte. Er spürte den Fehlern nach und fand sie bestätigt. Sie waren zum Teil so offensichtlich, dass er sich fragte: Wie dämlich müssen die sein, die so was drucken?
Jedoch die Hamburger Kollegen glaubten Juan nicht. Relotius war ein hilfsbereiter und bescheidener Kollege. So einer lügt doch nicht. Es hat sich dann gezeigt, dass auch nette Kerle nicht immun gegen die Versuchung der Märchenerzählerei sind. In China gibt es ein Sprichwort, das lautet: Wer die Unwahrheit sagt, braucht ein schnelles Pferd. Claas Relotius hat bewiesen, dass man auch mit einem lahmen Gaul ans Ziel kommt, wenn man ihm ordentlich die Sporen gibt.