Nationen, deren Bevölkerungsmehrheiten nur durch Siege in der Konkurrenz auf Arbeitsmärkten an Positionen gelangen, tendieren bei den Geburtenraten Richtung null. Die Befreiung von Familienlasten bringt Zeitgewinne für Qualifizieren und Regenerieren in diesem lebenslangen Wettbewerb. So sorgt vorrangig der emotionale Wunsch nach einem Kind dafür, dass die rund 70 Top-Länder (von gut 200 insgesamt) immer noch über eins liegen und durch zusätzliche Anreize real 1,5 erreichen.
Als Schutz gegen Schrumpfung und Vergreisung fehlt das zweite Kind. Die Sehnsucht mag für ein erstes reichen, Sozialhilfe bringt auch dritte und vierte. Überzeugen aber muss man die qualifizierten Frauen, die durch Mutterschaft nicht zurückfallen wollen. Das erfordert ein Angebot, dessen Ausschlagen schwerfällt. Man könnte beispielsweise sämtliche bisher angebotenen Mittel – vom Schwangerschafts- und Kindergeld über die Vorschulerziehung bis hin zu Steuervergünstigungen und Mütter-Renten – zusammenwerfen.
Als Einmalbetrag zur unabhängigen, also von staatlicher Gängelung freien Verwendung für ein zweites Kind kämen in der OECD-Welt dabei hohe fünfstellige Euro- oder Dollarbeträge zusammen. Ihre Ablehnung täte schon weh, besonders wenn findige Ärzte Verfahren für die Empfängnis von Zwillingen anbieten, so dass die Summe schon beim ersten Kind überwiesen wird (Vergleiche hier).
Gleichwohl bliebe ein solche Politik unwägbar, weil so gewonnene Kinder unqualifizierte Erwachsene werden und die Könner auswandern könnten. Wie würde China vorgehen? Es hat bei der Einkindpolitik von 1979 bis 2015 mit Härte bis zur Gewalt operiert. Doch eine geburtenfördernde Analogie zur Zwangsabtreibung ist kaum vorstellbar. Also wird man weichere Druckmittel erproben.
Kommt jetzt der Zweikind-Zwang?
Man könnte Zweifachmütter bei der Besetzung attraktiver Arbeitsplätze bevorzugen. Eine solche Maßnahme – von Herwig Birg bereits für Deutschland vorgeschlagen – ist verfassungswidrig in Demokratien. Sie wäre überdies abwegig in Nationen mit hoch divergenten Kompetenzprofilen. Keine Firma kann einer Vielfachmutter ohne Schulabschluss eine Spitzenstellung anbieten und dafür die qualifizierte Kinderlose davonschicken. Wenn aber – wie in China – die meisten Bewerberinnen ähnlich qualifiziert und motiviert sind, bliebe das Risiko der Vergeudung von Talenten kalkulierbar.
Eine der Strafen für Chinesen, die ihr Konto korrekten Sozialverhaltens überziehen, besteht im Ausschluss des Nachwuchses von den besten Schulen und Universitäten. Würde das Fehlen eines zweiten Kindes auf dieselbe Weise geahndet, wäre gerade der zur Kinderlosigkeit drängende Berufsehrgeiz für die Fortpflanzung in die Pflicht genommen. Die Sorge vor zu wenig erstklassigen Studenten wäre wegen der generell gegenüber dem Westen überlegenen Cognitive Ability (CA) im Reich der Mitte wiederum vernachlässigbar. CA103 etwa gegen CA99 (D) sorgen für einen komfortablen Puffer.
Die meisten westlichen Staaten haben längst viel zu hohe Anteile an SchulversagerInnen, um solche Wege gehen zu können. Wenn aber China diesbezüglich so konsequent vorginge wie bei der – erst 2016 abgeschafften – Einkindpolitik, begänne es das größte Zukunftsexperiment überhaupt. Denn keiner der Konkurrenten kann allein durch die Einwanderung von – ihrerseits wieder geburtenarmen – Spitzenleistern ökonomisch überleben.
China verfügt momentan über ein Arbeitskräftepotential von 900 Millionen unter 1,4 Milliarden Menschen. Da nur 780 Millionen davon aktiv sind, gibt es für die nahe Zukunft noch erhebliche Reserven. Auch mit seinem Durchschnittsalter von 37 Jahren steht es günstiger da als etwa die Europäische Union mit 43 Jahren (USA: 38; D: 45). Doch nur wer mit den eigenen Familien beziehungsweise Müttern die 2,1 Kinder pro Frauenleben für die Nettoreproduktion schafft, bleibt auch langfristig im Rennen. Davon kann im heutigen China keine Rede sein. 2018 realisiert es mit 15,23 Millionen die geringste Geburtenzahl seit 1961. Das ist auf 1.000 Einwohner zwar mehr als in Deutschland, aber der Abstand von 2017 (12,3 zu 8,6 für China) wird geringer.
Hohe Kompetenz und stabile Alterspyramide
Ein Mutterschaftsurlaub bis zu 113 Tagen gehört zu Chinas eher panisch-hastig veranlassten Maßnahmen. In Tibet wird sogar ein Jahr gewährt, um mehr Han dorthin zu locken. In der Experimentier-Stadt Shihezi (640,000 Einwohner) müssen Unternehmen im Mutterschaftsurlaub das volle Gehalt weiterzahlen. All das sind konventionelle Instrumente. Die chinesische Sprachregelung indiziert jedoch eine neue Richtung. Es wird nicht einfach vom Ende der Einkindpolitik oder von der jetzigen Zulässigkeit eines zweiten Kindes, sondern von einer „vollumfänglichen Zweikindpolitik“ gesprochen.
People’s Daily proklamiert: "Die Geburt eines Babys ist nicht nur eine Frage der Familie, sondern ein Vorgang von nationalem Rang". Xinhua Daily fordert im August 2018 einen Fonds, in den alle Menschen unter 40 Jahren einzahlen müssen, um versicherungsartige Zuwendungen für ein zweites Kind zu finanzieren. Wer darunter bleibt, muss trotzdem einzahlen. In der Diskussion ist allenfalls eine Teilrückzahlung nach Erreichen des Rentenalters – vergleichbar den Krankenkassenprämien, von denen es bei Nichtbeanspruchung im nächsten Jahr einen Bruchteil zurückgibt.
Gelingt China die Verbindung seiner hohen Kompetenz mit einer stabilen Alterspyramide, werden die kaum noch zählbaren Artikel über sein Altwerden vor dem Reichwerden Makulatur. Das 21. Jahrhundert würde in der Tat ein chinesisches.
Eine kürzere Fassung dieses Textes erschien am 8. März 2019 in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ)