CDU missbraucht Helmut Kohl als Mustereuropäer

Wieviel und welches Europa steckte eigentlich in Helmut Kohl? Gut, als polyglott haben ihn nicht einmal engste Hinterherläufer bezeichnet. Aber Europa hatte er sich schon auf das Programm geschrieben. Die Friedensidee hat eine entscheidende Rolle gespielt, gespeist nicht zuletzt aus dem eigenen Erleben des 1930 geborenen CDU-Politikers. Aber auch im Sinne der Ursprünge der Montanunion, Römischen Verträge, EWG, EURATOM, EG… das Geschichtsbuch weiß viel davon, der Sexappeal der entsprechenden Kapitel gilt allerdings auch bei historisch überdurchschnittlich Interessierten als begrenzt.

Der Wirtschaftsaspekt war allein durch die Anlage des europäischen Zusammenwirkens von Anfang an dabei (oder dominierend), dann kam die Sache mit der Gemeinschaftswährung, an deren seligmachendem Gehalt allerdings inzwischen nicht nur bei nationalistischen Schwarzmalern der eine oder andere Zweifel aufkommt. Immerhin hat sich der „Europäer“ Kohl schon mal werbewirksam hinter eine dem Vernehmen nach nicht mehr ganz so große Frankfurter Zeitung drapiert, als „kluger Kopf“ auf einem großen Schiff namens „Europe“.

Am 1. Juli vor einem Jahr wurde der im Alter von 87 Jahren verstorbene Bundeskanzler in einer mitunter würdearmen und eher die Intentionen der Auftretenden („Instrumentalisierung“ und „Vereinnahmung“ sind wirklich ganz böse Worte, die verwenden wir mal lieber nicht) widerspiegelnden Zeremonie zu Grabe getragen (berichtet wurde davon beispielsweise hier).

Dass für Helmut Kohl, der in der allgemeinen Wahrnehmung mit der deutschen Einheit wie wohl kein anderer Politiker verbunden wird (vielleicht abgesehen von Bismarck, aber der gehört nun wirklich in eine andere Zeit), im Sommer 2017 kein deutscher Staatsakt möglich war, liegt ganz auf der Linie dessen, wofür er, sofern man sich überhaupt an ihn erinnert (abseits boulevardesker Auseinandersetzungen über finanzielle Schadenersatzansprüche und den Verbleib von Papieren), nun stehen soll: Für „Europa“. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ließ vernehmen, der EU-Trauerakt in Straßburg sei Kohls Wunsch gewesen und stufte ihn auch gleich kurzerhand zum „Staatsakt“ hoch. Klar, man sollte heutzutage antiquierte und komplizierte Begrifflichkeiten, zum Beispiel „Staat“, nicht mehr so eng auffassen. Das integrierte Gesamtkind ist ja zum Teil bereits mit der „leichten Sprache“ schon hart an der Überforderungsgrenze.

Wer lernt was von Helmut Kohl?

Annegret Kramp-Karrenbauer, die ein deutlich attraktiveres Ministerpräsidentenamt aufgab, um CDU-Generalsekretärin zu werden, aus reiner Solidarität mit der amtierenden Kanzlerin, nahm den Jahrestag des Todes Kohls zum Anlass, Junckers Pfade mittels eines Gastbeitrages für eine oben bereits erwähnte Frankfurter Zeitung weiter zu beschreiten: „Was man von Helmut Kohl lernen kann“. Vielleicht hätte sie mit Geographie anfangen sollen, in ihrem Artikel verlegt sie nachträglich den EU-„Staatsakt“ von Straßburg nach Brüssel. Macht nichts, Hauptstadt bleibt Hauptstadt. Halt, da stimmt schon wieder was nicht… Egal, Kleinkram, nicht so wichtig, man sollte es nicht so schwierig machen, sonst versteht es wieder niemand.

Beeindruckend an dem Beitrag der Generalsekretärin ist der permanente Nexus von „Deutschland und Europa“. Dass es keinen „deutschen Sonderweg“ (ein schöner, wenn auch holpriger Griff in die nahezu jedem vertraute Schlagwortkartei) gebe, erscheint da schon fast als überflüssige Belehrung. Der Altkanzler wird auch schon mal in Sphären entrückt, die eigentlich anderen vorbehalten sind („Welchen Halt kann uns die Erinnerung an Helmut Kohl in aufgewühlten Zeiten geben?“).

Frau Kramp-Karrenbauer hat offenbar einen guten Draht: Deutschlands Rolle? „Helmut Kohls Antwort wäre eindeutig: konsequent und unermüdlich für ein starkes, geschlossenes und entschlossenes Europa eintreten.“ Seine erste Loyalität habe Deutschland gegolten (ohoh!), seine zweite Europa (na also!). „Es geht um gegenseitige Loyalität in Europa. Das sollte nationale Alleingänge zu Lasten anderer europäischer Staaten ausschließen.“ Zugegeben, die Sache mit dem Außengrenzenschutz ist ein Problem. Aber: „Wir holen das derzeit nach […] Helmut Kohl hätte alles unternommen, die Errungenschaft der offenen Grenzen zu verteidigen…“

Wahrscheinlich hat er auch irgendwo das Drehbuch für die gegenwärtigen Abläufe abgeworfen, aber das ist natürlich unter Verschluss. Glücklicherweise kann sich der an Helmut Kohl Interessierte auch unabhängig von der haltgebenden Predigt der Generalsekretärin kundig machen.

Angesichts der Bedeutung und der zeitlichen Nähe des politischen Wirkens Kohls ist das gegenwärtige Angebot der Buchhandlungen zwar etwas mager, aber erfolglos auf Jagd gehen muss man nicht. Drei Bücher – sämtlich keine fußnotenschweren wissenschaftlichen Arbeiten, sämtlich allerdings auch mit dem Erscheinungsjahr 2017 versehen – sind es, aus denen man aktuell ein Bild Kohls gewinnen kann. Zuweilen war er tatsächlich nicht 24 Stunden täglich „Europäer“. Und wenn er „Europäer“ war, dann meinte er möglicherweise nicht unbedingt immer das, was der/die eine oder andere sich auf ihn berufende Deuter/Deuterin vernommen zu haben glaubt.

„Der Kanzler und sein Umweltmädel“

Nicht ganz anspruchslos und daher nicht unbedingt geeignet als Einstiegsdroge in die Kohl-Thematik sind die Betrachtungen über den „Charakter der Macht“ von Patrick Bahners. In diesem Werk, einer stark erweiterten Fassung seines Essays „Im Mantel der Geschichte“ von 1998, versucht Bahners, dem Wesen Kohls auf die Spur zu kommen. Bögen zu historischen Größebetrachtungen werden geschlagen, und immer wieder geht es um die Wahrnehmung und Deutung Kohls durch Dritte. Allerdings dräut auch in diesem Buch am Ende… ja, genau: „In der Trauer um Helmut Kohl wurde die Existenz eines europäischen Staates vorstellbar.“

Ebenfalls essayistisch, aber stärker biographisch, nähert sich Ralf Georg Reuth dem Bundeskanzler mit der bislang längsten Amtszeit an. „Pyrrhussieg?“ ist das „Europa“-Kapitel überschrieben. Reuth stellt hier unter anderem fest, „dass die europäische Integration […] mit der Einführung des Euro zur europäischen Zerrüttung führte und damit genau das Gegenteil von dem bewirkte, was der Bundeskanzler einmal hatte erreichen wollen“.

Will man noch einmal die Atmosphäre der guten alten Bundesrepublik vor und ein wenig nach 1990 Revue passieren lassen, so greife man zu einem Bildband, der, Nomen und so weiter, kurz nach Kohls Tod mit Fotos und Artikeln zusammengestellt wurde, welche über ihn im Laufe der Jahre in der Bild-Zeitung erschienen sind. Eine kritische Kohl-Betrachtung ist nicht unbedingt der Schwerpunkt dieses Buches, aber der damalige Zeitgeist ist beim Blättern wunderbar zu spüren. Und die Tücken der voranschreitenden Geschichte lauern in der einen oder anderen historischen Schlagzeile, etwa vom 27. April 1995: „Der Kanzler und seine Umweltchefin: ‚Gut gemacht, Mädel‘“.

Der Weg der „Umweltchefin“ ist noch nicht zu Ende. Der von Helmut Kohl als Stichwortlager für „Europa“-Stellungnahmen ebenfalls noch nicht. Und zwar wahrscheinlich so lange nicht, bis dieses „Europa“ (vulgo: „EU“), welches ganz, ganz ursprünglich eine gute Idee war, in den immer weitergreifenden Hybridausformungen wirklich niemand mehr will.

Die erwähnten Bücher:

Patrick Bahners, Helmut Kohl. Der Charakter der Macht, München: Beck 2017.

Ralf Georg Reuth, Annäherung an Helmut Kohl, München: Piper 2017.

Helmut Kohl 1930-2017. Sein Leben in BILD, hrsg. v. Kai Dieckmann, München: Piper 2017.

Foto: Bundesarchiv/ Detlef Gräfingholt CC BY-SA 3.0 de via Wikimedia Commons

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Jürgen F. Matthes / 03.07.2018

Kohl war in erster Linie Deutscher, dem ein vereinigtes Deutschland in einem vereinten Europa am Herzen lag. Ein vereinigtes Europa stand für ihn nicht zur Debatte, denn er schätzte die Vielfalt der europäischen Nationen. Statt von der deutschen Nationalmannschaft nur noch von der “Mannschaft”  zu sprechen, hätte er gewiß absurd gefunden.

Martin Schott / 03.07.2018

@Karl Schmidt: Vollkommen richtig. In diesem Zusammenhang sei auch noch einmal an das Treffen von Helmut Kohl und Viktor Orbán auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise erinnert. Man kann getrost davon ausgehen, dass bei diesem Treffen unter “alten Freunden” (Kohl) nicht nur Sentimentalitäten ausgetauscht worden sind. Vielmehr wird der sterbenskranke Altkanzler dem ungarischen Regierungschef im Vier-Augen-Gespräch ins Gewissen geredet haben, dem Druck aus Berlin und Brüssel unter allen Umständen stand zu halten - zum Wohle Europas und der EU.

J. Braun / 03.07.2018

Ausgerechnet Geldkoffer-Kohl als Vorbild heranzuziehen, ist ein Zeichen, wie weit es mit diesem Land schon nach unten gegangen ist, das seit weit über 70 Jahren in Ost und West keine glückliche Hand bei der Auswahl seiner Regierungschefs bewiesen hat. Adenauer war ein Büttel der Amerikaner, der so viel Dreck am Stecken hatte, daß die Briten ihm das Amt des Oberbürgermeisters von Köln verweigerten, Ludwig Erhard wurde damals verachtet, weil er, fett wie er war, mit der Zigarre im Mund von »Maßhalten« sprach, aber er hatte wenigstens Verstand. Kiesinger war ein Lusche und keiner wollte ihn (immerhin!), Brandt war ein Landesverräter, Schmidt kroch deshalb zur Wiedergutmachung den Amerikanern bis zum Anschlag in den Hintern und Kohl hat uns Merkel eingebrockt. Was für ein Volk ist das, das solche Leute wählt! ?

Karla Kuhn / 03.07.2018

“Reuth stellt hier unter anderem fest, „dass die europäische Integration […] mit der Einführung des Euro zur europäischen Zerrüttung führte und damit genau das Gegenteil von dem bewirkte, was der Bundeskanzler einmal hatte erreichen wollen“. ” So sehe ich as auch ! Das z. Z. “amtierende”  Europa wäre sicher nicht nach seinen Vorstellungen gewesen. Ich war kein großer Anhänger von Helmut Kohl aber im Nachhinein wäre er mir heute TAUSEND mal lieber als Merkel. Kohl war auch nicht beratungsresistent, er hat sich mit engen Politiker Freunden ? ausgetauscht und was ich erst jetzt schätze, für ihn kam das deutsche Volk an erster Stelle. Eine Kanzlerin Merkel, die sogar die deutsche Fahne (ein Fähnchen !) einem andren Politiker aus der Hand nimmt (reißt?) hätte schon damals abtreten müssen. Diese Frau ist für mich (und ich glaube nicht nur für mich) untragbar und der jetzt ausgehandelte Deal nur eine kurze Atempause für Merkels Macht. Dieser Deal sagt eigentlich gar nichts weiter aus. Es wird sich mit Sicherheit kein Flüchtling, der nicht wirklich verfolgt ist, davon abhalten lassen ins “gelobte” Deutschland einzureisen. Ob Helmut Kohl es zu so einer Tragik hätte kommen lassen, glaube ich nicht.  Falls es eines Tages mal eine Aufstellung über den schlechtesten Kanzlers Deutschland geben sollte, wird er sicherlich nicht an letzter Stelle stehen.

Dr. Roland Stiehler / 03.07.2018

Alle Völker miteinander zu vermischen, um weitere Kriege zu verhindern, ist für einfache Gemüter faszinierend. Die Uno und auch die EU-Politiker treiben diese fixe Idee nach wie vor voran. Diese Idee erklärt auch die für den normalen Bürger widersinnige Einwanderungspolitik unserer Regierung. Aber diese Idee gegen den Volkswillen durchzupeitschen ist gefährlich und nicht hinnehmbar.  Allein die enorme Stärkung der religiös getarnten islamischen Staatsideologie durch die offenen Grenzen führt letztlich zur Balkanisierung Europas. Daran sind sicherlich auch andere Machtblöcke stark interessiert. Wer sich mit dem Koran und mit den Zielen der Moslembrüder ausgiebig befasst hat, kann nur warnen, diesen Weg weiterzugehen. Über die Dokumente zur Völkervermischung kann man sich in der Internetseite von Vera Lengsfeld informieren, auch z.B. über die schockierende Aussage von Sarkosie schon vor Jahren. Übrigens hat Erdogan schon mehr Einfluss auf unsere Politik, als mancher denkt. Er gibt z.B. Ratschläge, welche Parteien von den Türken bzw. Moslems gewählt werden sollen oder das die moslemischen Frauen nicht nur 3, sondern 5 Kinder gebären sollen. Er grüßt immer mit vier ausgestreckten Fingern und versteckt den Daumen, der Gruß der Moslembrüder. Die Ziele der Moslembrüder sind lesenswert für den unbekümmerten Bürger. Aufschlussreich ist auch seine Aussage, dass der Islamismus eine europäische Erfindung ist, es gibt nur einen Islam und Punkt sagt er.

Werner Arning / 03.07.2018

Als eher links eingestellter, junger Mensch fand man Kohl nicht gut. Zu altbacken, zu konservativ, zu vaterlandsliebend, zu provinziell, zu behäbig. Im Nachhinein frage ich mich, ob man nicht zu dieser Zeit schon, Opfer einer linken Propaganda war. Nur waren die Linken seinerzeit nicht mehrheitsfähig, also ungefährlich. Ihre teilweise antidemokratische Grundhaltung kam noch nicht an die Oberfläche. Kohl wurde lächerlich gemacht, vorzugsweise vom Spiegel. Doch drangen die linken Parolen noch nicht bis in die westdeutschen Wohnzimmer des „Durchschnittsbürgers“. Sie blieben innerhalb der linken Blasen, konnten keinen Schaden anrichten. Waren vielleicht zu dieser Zeit noch idealistisch und demokratisch. Erst als das linke Denken sich mehr und mehr durchsetzte, in Medien, Schulen, Universitäten, wurde aus einer freiheitlichen Jugendbewegung etwas Gegenteiliges, etwas Bevormundendes, etwas Undemokratisches. Die Bewegung nahm offensichtlich die natürliche Entwicklung aller linken Bewegungen. Im Nachhinein steht Kohl im Vergleich dazu, für Freiheit, für positiven Konservativismus, für gesunden Patriotismus. Jedenfalls war er, im Gegensatz zu Anderen, nicht gefährlich. Nicht gefährlich für die Demokratie, für die Meinungsfreiheit. Heute würde ich wohl einen Kohl viel mehr schätzen, als ich es damals tat.

Karl Schmidt / 03.07.2018

Helmut Kohl hat - anders als Merkel und ihre Klone - die (poltische) Nähe zu Viktor Orbán gesucht. Wie der über Merkels Grenzpolitik denkt, ist allen bekannt. Der Versuch, Kohl vor den Karren von Merkels Politik zu spannen und ihn für (ausgerechnet!) diese zu vereinnahmen, ist ebenso frech wie geschmacklos. Es sei daran erinnert, dass Merkel nicht einmal bei seiner Trauerfeier reden sollte - wenn es nach ihm gegangen wäre. Doch Tote können sich nicht wehren und Merkel und ihre Groupies kennen ja bekanntlich keine Grenzen. Auch nicht beim Anstand.

Helmut Driesel / 03.07.2018

Ehrlich gesagt, ich habe den Kohl gehasst wie die Pest. Und ich finde, wer immer Merkels mit Mädels verwechselt, der hat es einfach nicht anders verdient!

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