Die CDU ist eine seltsame Partei. Sie hat 2018 mit der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer zur neuen Vorsitzenden einen ähnlich mittigen und moderierenden Politikstil gewählt, wie ihn die langjährige Parteichefin Angela Merkel vertritt und landete damit am Ende der AKK-Ära Anfang 2020 in den Umfragen bei etwa 25 Prozent.
Beim jüngsten CDU-Parteitag entschied sich die CDU wiederum gegen klare liberal-konservative Profilierung, wie sie Ex-Unionsfraktionschef Friedrich Merz vertritt, und ebenso gegen einen durchweg liberalen Aufbruch in Gestalt des Außenpolitikers Norbert Röttgen. Stattdessen gaben die 1.001 Delegierten dem Kandidaten mit den schlechtesten Umfrage- und Beliebtheitswerten, NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, den Vorzug, der erklärtermaßen ausdrücklich mit einem Kurs des „Weiter so“ die Zukunft gewinnen will.
Eine mutige Entscheidung. Im Maß ihrer Verzagtheit jedenfalls.
Sie setzt darauf, dass die Methode Merkel sich erfolgreich reproduzieren und weiterführen lässt, wie Laschet es in seiner Parteitagsrede („Kontinuität des Erfolgs“) formulierte. Ein Macht-Abo durch Mittelmaß.
Für jeden etwas dabei
Laschet, der einzige unter den drei Kandidaten ohne klares Profil, will mit einem Team von Inhabern eines solchen, eine möglichst „breite Aufstellung“ der Partei erreichen, damit am Ende für jeden etwas dabei ist (innere Sicherheit, Wirtschaft, Soziales, Umwelt etc.) und der Inhalte-Mix hinreichend diffus bleibt, um nicht durch klare Kanten einzelne Milieus zu verstören. Er will damit seine in Nordrhein-Westfalen erfolgreich geprobte Strategie fortführen, wo ebenfalls etwa Wirtschaftsliberale und Sozialflügel am Kabinettstisch sitzen und der Chef als eine Art Ringrichter über allem präsidiert. Kleiner Nachteil: Der CDU-Wähler bekommt zu seinen Favoriten immer auch den Gegenpart geliefert. Ein Mischgemüse der Macht.
Diese Art von Flexibilität gilt in der Union insgesamt als eine Art raffiniertes Erfolgsrezept gegen festgelegte Überzeugungstäter. „In der Briefwahl habe ich selbstverständlich Armin Laschet gewählt“, verkündete der Chef des CDU-Nachwuchses „Junge Union“, Tilman Kuban, dessen Organisation sich in einer Mitgliederbefragung zuvor klar für Merz ausgesprochen hatte.
Richtungswahl? Klare Kante, neuer Kurs, anderer Politikstil, ordnungspolitischer Rahmen, Quoten-Streit? Ach was! „Selbstverständlich“ Laschet. Auch der unglücklich agierende Merz schrieb einen Brief zur Unterstützung des neuen Vorsitzenden. Jetzt nach vorn blicken. Geschlossenheit statt Richtungsstreit. 83,3% fuhr Laschet in der Briefwahl schließlich ein.
... dafür habe man aber regiert!
Nicht die kühle Machtfixierung der Union als solche, die uns hier in Gestalt hoher Meinungsflexibilität entgegentritt, ist neu oder überraschend, verblüffend ist die schnörkellose Unbekümmertheit, mit der sie ausgelebt wird. „Wer die Union wählt, bekommt alles, was er nie wollte – von Atomausstieg bis Homo-Ehe, Quoten, Mindestlohn und Gender-Sprech – nur eben etwas später und mit dem Hinweis: dafür habe man aber regiert“, sagt ein frustriertes Ex-Mitglied über die flexiblen Überzeugungen der Volkspartei.
Mit dem Mut der CDU konnte man im Laufe der Jahre als Reporter und Berichterstatter so seine Erfahrungen machen. Als in den hohen Zeiten der Migrationskrise, 2015 und danach, in den Sitzungen der Unionsfraktion bei kritischen Wortmeldungen unter dem Tisch geklopft wurde, um vom Präsidium nicht einsehbar zu sein, war es besonders interessant. Bei Treffen mit zum Teil hochrangigen Mandatsträgern hieß es immer wieder, BILD müsse Druck machen, damit man in der Fraktion die kippende Stimmung thematisieren könne.
So schmeichelhaft es für Medienmenschen sein mag, gewissermaßen als politisches Alibi betrachtet zu werden, so schräg ist freilich die Vorstellung, der parlamentarische Souverän nehme seine verfassungsmäßige Macht nur stimmungsgetrieben im Windschatten medialer Lüftchen wahr. Zum Jahresende 2015 applaudierte der CDU-Parteitag wieder neun Minuten stehend der Kanzlerin und legte im Folgejahr noch zwei Minuten drauf.
Die Kunst der politischen Jonglage
Man kann deshalb die Kanzlerin und langjährige CDU-Vorsitzende Angela Merkel durchaus als paradigmatisch für die ganze Union ansehen, die kurz vor der Bundestagswahl 2017 mit der so genannten „Ehe für alle“ den wohl fundamentalsten gesellschaftspolitischen Umbruch der Nachkriegsgeschichte ermöglichte, selbst jedoch im Bundestag dagegen stimmte.
Es sind solche Episoden, die gleichermaßen Erstaunen wie Zweifel am Prinzip Volkspartei aufkommen lassen. Zumindest dürfte es eine hohe Kunst der politischen Jonglage sein, Zuspruch und Enttäuschung so maßvoll unter der Wählerschar zu verteilen, dass keine neuen signifikanten Wählerwanderungen oder gar erfolgreiche Neugründungen von Parteien dabei herauskommen. Und noch einen Nachteil hat die Methode Einbinden statt selbst zu führen: Sie beraubt die Union ihrer vormals wichtigen Funktion als Zeitgeistbremse gegenüber eher linken Bewegungen.
„Es geht Deutschland ohne Merkel besser als mit ihr“, sagte mir im Juni 2018 ein hochrangiger Politiker der Unionsspitze im Zuge des heftigen Richtungsstreits um die deutsche Grenzpolitik. Er ist heute eine wichtige Stütze der Kanzlerin.