Nach den Wahlen in Sachsen und Thüringen gingen die meisten Medien davon aus, dass sich quasi zwangsläufig Anti-AfD-Bündnisse mit CDU und BSW zusammenraufen werden. Von wegen.
Ich war am 1. September Erstwähler bei einer sächsischen Landtagswahl, und ich vermute, dass ich schon Anfang des nächsten Jahres zum zweiten Mal zur Wahlurne gerufen werde. Da die sächsische Verfassung festlegt, dass die Landespolitiker eine Regierungsbildung innerhalb von vier Monaten hinbekommen müssen und die das nicht schaffen werden, sind Neuwahlen nach meiner Einschätzung sehr wahrscheinlich.
Ich hatte mich schon kurz nach dem Wahltag gewundert, dass beinahe alle Kollegen in ihren Beiträgen und Kommentaren davon ausgingen, dass jede nur rechnerisch mögliche Mehrheit gegen die AfD genutzt werden wird, um eine Regierung zu bilden. Eigentlich konnte jeder erkennen, dass Sahra Wagenknecht der Partei, die ihren Namen trägt, weitgehende Prinzipientreue verordnet hatte, um die Partei nicht vor der Bundestagswahl noch mit Kompromissen und praktischer Regierungsarbeit in den Ländern zu beschmutzen. Dennoch schien offenbar jeder zu erwarten, dass sich die stolze Sahra von den unterwürfigen CDU-Landesfürsten schon irgendwie bezirzen lassen würde.
Die Herren Kretschmer und Voigt pilgerten jeweils nach Berlin, um der begehrten Parteiführerin ihre Aufwartung zu machen und akzeptierten damit demonstrativ, dass die Umworbene über Koalitionen entscheidet und die eigentlichen Sondierungs-Gesprächspartner der zuständigen Landesverbände nachrangig sind. Um Genossin Sahra zu gefallen, schrieben sie dann gemeinsam mit Brandenburgs SPD-Ministerpräsident Dietmar Woidke, der ebenfalls um die politische Gunst der Dame buhlt, auch noch einen außenpolitischen Grundsatzartikel, der möglichst friedliebend und verhandlungsbereit zu klingen hatte.
Familie der Nachtschattengewächse
Noch bevor überhaupt sondiert wurde, hatten die Meinungsbildner schon einen hübschen Namen für das noch zu bildende Bündnis ersonnen: Brombeer-Koalition. An dieser Stelle ist es wirklich schade, dass Früchte keine Persönlichkeitsrechte haben, denn welche Frucht hat es verdient, mit solchen Bündnissen in Verbindung gebracht zu werden? Tollkirschen? Die zählen zur Familie der Nachtschattengewächse, ihr Saft soll eine pupillenvergrößernde Wirkung haben und Erregungszustände auslösen.
Aber offenbar gehört es für die Gilde der Hauptstadtberichterstatter seit einigen Jahrzehnten zum guten Ton, eine neue Koalitionsoption auch mit einem schönen Namen zu versehen. Egal ob Jamaica-, Ampel- oder Kenia-Koalition. Manche konnten sich aber nicht durchsetzen, wie die aus "schwarze Ampel" zusammengesetzte "Schwampel-Koalition", obwohl es lautmalerisch besser gepasst hätte. Von den Dreierbündnissen bekam nur das rot-rot-grüne keinen solchen Namen bzw. hat sich keiner so durchgesetzt, das er mir jetzt einfallen könnte.
Nun also die Brombeer-Koalition. Die Herren Kretschmer und Voigt sind bekanntlich glühende Anhänger eines solchen Bündnisses. Kein Wunder, denn anders können sie ihr Regierungsamt nicht behalten bzw. bekommen. Das sehen viele Christdemokraten aber anders. Zumindest in Sachsen.
Fehlendes Format
Schon bei der konstituierenden Sitzung des Sächsischen Landtags machten die CDU-Landtagsabgeordneten ziemlich deutlich, dass sie – im Unterschied zu ihrem Ministerpräsidenten und Parteivorsitzenden – nicht schon wieder mit linken Parteien koalieren wollen, um die Brandmauer zu retten. Die christdemokratischen Mandatsträger ließen bekanntlich bei der Wahl der Landtagsvizepräsidenten die Kandidaten von BSW und SPD im ersten Wahlgang durchfallen, während der AfD-Kandidat seine Mehrheit bekam.
Später wurden auch diese Kandidaten gewählt, aber das Signal war mehr als deutlich. In zwei Erklärungen bzw. Offenen Briefen forderten frühere sächsische Minister, Bundestags- und Landtagsabgeordnete sowie ehemalige Landräte aus der CDU eine sofortige Abkehr vom Brandmauer- und Brombeer-Kurs ihrer Parteiführung (siehe hier, hier und hier). Zu Recht fürchten sie um die politische Zukunft ihrer Partei, denn wenn man bei einer satten Mitte-rechts-Mehrheit im Parlament wiederholt lieber fragile linkslastige Regierungen bildet, schadet dies nicht nur dem Ansehen der Demokratie bei vielen Wählern, sondern insbesondere der CDU.
Im Unterschied zum Thüringer CDU-Chef, der wirklich in einem Dilemma steckt, hätte Michael Kretschmer in Sachsen zudem deutlich bessere Karten für eine eigenständige Entscheidung. Seine Partei ist knapp noch auf Platz eins eingelaufen, mithin ist sie in einer Koalition unumstritten führende Kraft und stellt den Ministerpräsidenten. Zudem steht auf der anderen Seite der noch existierenden Brandmauer kein polternd polarisierender Björn Höcke an der AfD-Spitze, sondern der zurückhaltend-moderat auftretende Jörg Urban. Wäre Kretschmer ein kraftvoller Machtpolitiker, würde er das vielleicht als eine Chance erkennen, noch einmal sicher ins Ministerpräsidentenamt zu kommen. Aber dazu fehlt ihm augenscheinlich das Format.
Suche nach dem Nachfolger
Er hat zwar erfahrungsgemäß keine Skrupel, zuvor eherne Prinzipien in Windeseile über Bord zu werfen und kann auch, wenn es sein muss, vollkommen unterschiedliche Positionen beinahe zeitgleich vertreten, aber er besitzt sicherlich nicht die Kraft, bei einer Entscheidung von dieser Tragweite, dem Gegenwind aus der eigenen Parteizentrale in Berlin und vor allem aus den Medien standzuhalten. Deshalb sucht er lieber den vermeintlich sichereren Halt an der Brandmauer.
Nur wird die sächsische CDU seinem Brandmauer-Kurs womöglich nicht länger folgen. Natürlich stellt sich die Frage, warum sich derzeit im Wesentlichen die Veteranen öffentlich zu Wort melden und nur wenige aktive CDU-Politiker. Vielleicht sind die für öffentliche Auftritte einfach zu beschäftigt. Denn wenn der Kurswechsel mit Kretschmer nicht möglich ist, dann müsste er ja ausgewechselt werden. Da suchen sicher eine ganze Reihe von Parteifreunden nach einem Nachfolger, der das Format für einen solchen Coup hat und außerdem sowohl innerparteilich bei den Parteifreunden als auch bei vielen Sachsen ankommt.
Auch das ist kein leichtes Unterfangen und kann auch scheitern. Es wäre natürlich der maximale Schaden für die Partei, wenn Kretschmers Pläne zwar durchkreuzt werden und die Regierungsbildung mit den Wagenknechten scheitert, sie aber dann keine glaubhafte Neuaufstellung für Neuwahlen hat. Wenn neu gewählt wird, dann hat die CDU nur die Chance, wieder auf Platz eins zu landen, wenn sie für diesen Fall glaubhaft versichern kann, ohne Brandmauer im Kopf über Koalitionen zu verhandeln, selbst wenn das im Gegensatz zum Kurs der Bundespartei steht.
„Kretschmer und Voigt jetzt stoppen“
Dort regt sich allerdings auch Widerstand – zumindest gegen den Kuschelkurs mit Wagenknecht. In Erklärungen fordern Mitglieder vom Bundesvorstand ein Eingreifen, falls in Erfurt und Dresden Kurs auf die Brombeer-Koalition genommen wird. Der Focus berichtet: „'Bei mir haben sich schon 7000 Mitglieder gemeldet, die einen Unvereinbarkeitsbeschluss wollen. Vorstand und Präsidium müssen Kretschmer und Voigt jetzt stoppen, bevor sie ihre Bündnisse schmieden werden', erklärt der federführende Frank Sarfeld."
In dem Bericht heißt es weiter, dass der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz seine Meinung gerade auch wieder ändere. Zuerst war er bekanntlich gegen Bündnisse mit dem BSW, dann sollten Kretschmer und Voigt doch die Chance bekommen, über Koalitionen zu verhandeln. Zieht Merz diese Zusage nun wieder zurück? In der Disziplin schneller Meinungswechsel und weltanschaulicher Geschmeidigkeit ist Merz schließlich auch nicht langsamer als Kretschmer.
Der hat versucht, zum Beginn der Sondierungsgespräche – zuvor waren es "Kennenlerngespräche" – Optimismus zu verbreiten. Nur sind die Gespräche mit den Genossen von SPD und BSW wahrscheinlich nicht das größte Problem für den Anpassungsfähigen. Es sind – wie gesagt – die eigenen Parteifreunde. Von denen diskutieren einige schon, wie sich eine Mitgliederbefragung über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit dem BSW durchsetzen lässt. Die könnte den Brombeer-Kurs dann umstandslos zu Fall bringen. Zumindest in Sachsen.
In Thüringen könnte es anders sein, denn die Thüringer BSW-Chefin Katja Wolf will – anders als ihre Parteiführerin – gern in Thüringen mitregieren. Die einstige Oberbürgermeisterin von Eisenach lässt sich offenbar nicht so leicht zur bloßen Statthalterin von Sahras Gnaden degradieren. Das ist zwar auch eine spannende Gemengelage, hilft Michael Kretschmer in Sachsen aber kaum. Die Thüringer drängt auch keine Frist, in der sie eine Regierung bilden müssen. Bodo Ramelow könnte noch lange amtierender Ministerpräsident bleiben.
Und in Sachsen scheinen die Neuwahlen recht wahrscheinlich, auch wenn noch niemand weiß, mit wem an der Spitze die CDU dann antreten wird.
Peter Grimm ist Journalist, Autor von Texten, TV-Dokumentationen und Dokumentarfilmen und Redakteur bei Achgut.com.