Georg Etscheit / 05.11.2023 / 13:00 / Foto: H.Zell / 7 / Seite ausdrucken

Cancel Cuisine: Zimtschnecken – alles gut?

„Alles gut“ ist die neue Entschuldigungsformel der ökosozialen Achtsamkeitsgesellschaft, wobei es sich im engeren Sinne jedoch nicht um eine formale Entschuldigung handelt. Das kulinarischen Pendant zur “Alles gut“-Redewendung ist die Zimtschnecke.

Als ich neulich, ganz braver Ökobürger, meine Glasflaschen am Container entsorgen wollte, fuhr mich beinahe ein Radler über den Haufen. Mitten auf dem Bürgersteig wohlgemerkt, der schon längst nicht mehr für Menschen reserviert ist, die sich in höchst altmodischer, wenn auch vorbildhaft nachhaltiger Weise fußläufig fortbewegen. Heute muss man ein Trottoir unter anderem mit schweren Lastenfahrrädern und Myriaden der in Paris wegen der hohen Unfallgefahr unlängst zu Recht wieder aus dem Verkehr gezogenen Elektro-Tretroller teilen. 

Wenn, ja wenn der wenige Platz nicht von den seit Corona zumindest im grün-roten München fest etablierten „Schanigärten“ beansprucht wird Schani-Gärten in München: Stadt erlaubt Außengastronomie (tz.de), wie die oft aus Paletten und ein paar Brettern notdürftig zusammengezimmerten Freisitze in ehemaligen Parkbuchten und auf Bürgersteigen genannt werden. „Schikanigärten“ wäre angemessener, weil diese Freischankflächen bekanntermaßen auch dazu dienen, Autofahrern den Parkraum zu nehmen und grüne Fantasien einer autofreien Stadt auszuleben.

Glücklicherweise erwischte mich der Radelrambo nicht breitseits, sondern streifte mich nur. Nicht auszudenken, wenn ich den Hund mitgeführt hätte. Wenn dem Vieh ein Radler über die Pfoten fährt, dürfte die Tierarztrechnung in die Tausende gehen. Und hernach hätte ich es für die nächsten zehn Jahre mit einem humpelnden oder sich nur dreibeinig fortbewegenden Krüppel zu tun. Keine schönen Aussichten, wenn man zusammen mit dem geliebten Vierbeiner gerne Stunden lang im Gebirge unterwegs sein möchte.

„Alles gut“ ist die neue Entschuldigungsformel

Nach solch einem möglicherweise folgenschweren Beinahe-Unfall hätte ich natürlich erwartet, dass sich der rücksichtslose Radler umgehend entschuldigt und in aller Form sein Bedauern ausdrückt und seine Erleichterung darüber, dass es nochmal gut gegangen sei und er fürderhin besser aufpassen werde, vor allem, wenn er Regel widrig auf dem Bürgersteig unterwegs ist. 

Mitnichten. Zu mehr als einem „alles gut“ konnte sich der Mann nicht aufraffen. Wenn ich diese Floskel höre, verdüstert sich meine Miene im Nanosekundenbereich. „Alles gut“ ist die neue Entschuldigungsformel der ökosozialen Achtsamkeitsgesellschaft, wobei es sich im engeren Sinne jedoch nicht um eine formale Entschuldigung handelt. Eine echte Entschuldigung ist zunächst ein Schuldeingeständnis dessen, der sich etwas hat „zu Schulden“ kommen lassen. Zugleich wird das Opfer ersucht, die Entschuldigung anzunehmen, dem Täter die Absolution zu erteilen. Beim Annehmen einer Entschuldigung handelt es sich um einen Gnadenakt, der gewährt werden kann, aber nicht muss. Wird er nicht gewährt, ist der Täter einstweilen gezwungen, mit seiner Schuld zu leben. Ein daraus resultierendes „schlechtes Gewissen“ ist nicht angenehm, kann aber, als Sühne betrachtet, angemessen sein.

Die Floskel „Alles gut“ geht hingegen davon aus, dass Täter und Opfer „auf Augenhöhe“ agieren, es also kein moralisches Gefälle vom Täter zum Opfer gibt. Der Konflikt wird nicht konkret benannt und ausgetragen, sondern nur übertüncht, die Annahme der Entschuldigung stillschweigend vorweggenommen, wobei der Täter im konkreten wie übertragenen Sinne unbehelligt bleibt, ein Phänomen, dass von Messerstechern und Bahnsteigschubsern bekannt ist, denen von Seiten einer „Alles gut“-Justiz oft mildernde Umstände zuerkannt werden, weil sie „traumatisiert“ und für ihre Taten nicht voll verantwortlich seien. 

Das kulinarischen Pendant zur „Alles gut“-Redewendung

Das war nun zugegebenermaßen eine recht lange Vorrede. Und bevor einem diese Themen allzu sehr auf den Magen schlagen, wende ich mich lieber  Zimtschnecken zu, dem kulinarischen Pendant zur „Alles gut“-Redewendung. In ihrer eingerollten, weihnachtlichen Behaglichkeit passen sie perfekt in eine Gesellschaft, die die Möglichkeit von auch gewaltsam ausgetragenen Konflikten zwischen Menschen für überholt hält, für das Denken alter, weißer Männer, was freilich in einem bemerkenswerten Kontrast steht zu jenem Militarismus, den die Protagonisten des „Alles gut“-Denkens an den Tag legen, wenn sie nicht selbst auf den Schlachtfelder ihr Leben riskieren müssen.

Gerade hat die Süddeutsche Zeitung (SZ) dem „Trendgebäck“ einen ganzseitigen Artikel gewidmet, ohne die Frage befriedigend zu beantworten, warum die ursprünglich aus Skandinavien stammenden Hefeteilchen mit einer Butter-Zimt-Füllung so beliebt sind, dass sie mehr und mehr in eigens darauf spezialisierten Bäckereien angeboten werden wie zuvor Donuts und Cronuts: „Trend Zimtschnecken – Die Heferollen erobern die Innenstädte". Mag daran liegen, dass die SZ selbst immer so außerordentlich achtsam berichtet, wie jüngst im Fall Aiwanger zu sehen war. 

Wenn der Münchner Hipster-Bäcker Julius Brandtner jeden Mittwoch ab zehn Uhr seine Zimtschnecken verkauft, stehen die Papis mit Baby vorm Bauch geduldig Schlange und maulen selbst dann nicht, wenn sie am Ende leer ausgehen: „Alles gut“. Immerhin ist seine Interpretation recht puristisch, wenn man von der unorthodoxen Kardamonbeigabe absieht. Die aus Augsburg stammende Trendbäckerei „32 Grad - Werkstatt für Genuss“ bietet dagegen sage und schreibe acht Zimtschnecken-Derivate an – von Zwetschge über Walnuss, Bratapfel und Heidelbeere bis zur Schoko-Schnecke. Sie sind allesamt schrecklich süß und weich und eifern mehr der Tradition US-amerikanischer Cinnamon-Rolls nach als dem skandinavischen Klassiker, den es in Norddeutschland auch in einer feineren, aus Plunderteig gefertigten Variante gibt, dem Franzbrötchen

Je süßer und bunter umso besser, schließlich geht es nicht zuletzt darum, sich wie das expansive Kölner Zimtschnecken-Startup Cinnamood mit seinen Produkten in den unsozialen Medien optimal zu präsentieren. Ich persönlich mags am liebsten schlicht. Bei mir muss der (zähe) Hefeteig im Vordergrund stehen, dessen Geschmack von der Füllung nicht überlagert, sondern nur begleitet werden darf. Auch auf Zuckerguss kann ich gut verzichten. Eine Zimtschnecke ist und bleibt ein Gebäck und kein Dessert. Doch der Harmonie duseligen „Alles gut“-Gesellschaft kann es ja nie zu pappig sein. 

 

Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.

Achgut.com ist auch für Sie unerlässlich?
Spenden Sie Ihre Wertschätzung hier!

Hier via Paypal spenden Hier via Direktüberweisung spenden
Leserpost

netiquette:

Talman Rahmenschneider / 05.11.2023

Alles gut hätte Ihnen zugestanden, nachdem er sich entschuldigt hätte, nicht wahr? Er meinte wohl, Sie sollten sich entschuldigen, weil er ja ein Fahrrad hatte und das besser ist als ein Fußgänger. So ging es mir auch. Eine Frau fuhr mich mit einem Lastenfahrrad fast um und brüllte mich danach an. Dagegen ist Ihr Kontrahent, der verwechselt, wer sich entschuldigen sollte, noch ein Gedicht. Zimtschnecken gehen mir am A…. vorbei. Lieber ein Cinnamon Maple Whiskey Sour.

Katharina Fuchs / 05.11.2023

Hab ich was verpaßt? Zimtschnecken - oder vielmehr Heferollen, wie wir sie nannten, waren schon in meiner Kindheit vor einem halben Jahrhundert stinknormales Sonntagsgebäck. Zugegeben, ohne Zuckerguß, und die süßen auch nicht immer mit Zimt, sondern oftmals mit Mus oder Mohn - den mußten dann wir Kinder vorher immer mahlen. Egal, solche Heferollen bzw. Schnecken waren so alltäglich wie Pfannkuchen oder Waffeln, damit bin ich praktisch groß geworden.——- Allerdings sollte Hefeteig nicht zäh sein. Weich, luftig und fluffig soll er sein, nur mit frischer Hefe und guter Butter. Und hineingerollt hat man von jeher schon so ziemlich alles, was sich irgendwie rollen läßt, ob nun süß oder herzhaft. Ganz ähnlich wie russische Pasteten, da werfen sie auch alles zusammen, was gerade da ist und sich nur irgendwie mit oder ohne Gewalt in ein paar Lagen Teig hineinstopfen läßt. Wenn man Pech hat, landet auch noch ein gefühlter halber Zentner Sauerrahm oder Mayonnaise obendrauf. Aber meistens schmeckt das dann doch ganz wunderbar (wenn man die Mayonnaise abgekratzt hat…)———- Und das ist jetzt ‘Trend’? Kommt man jetzt doch so langsam weg vom Fertigfraß und besinnt sich auf’s selber backen und kochen?———- Von einer ‘Alles-gut’-Gesellschaft habe ich noch nichts mitbekommen - ich sehe auf der Strasse eher das Gegenteil. ‘Alles gut’ als Entschuldigung habe ich auch noch nicht gehört - vielleicht wollte Ihnen Ihr Radelrambo mit seinem ‘Alles gut’ ja nur mitteilen, daß an seinem Rad nichts kaputtgegangen ist… ;) —————Aber Essen war schon immer auch Seelennahrung - Comfort Food eben. Für viele ist das tatsächlich möglichst buntes Süßzeug, besonders für Kinder. Für andere Schokolade oder Kuchen. Mein Vater freute sich das ganze Jahr auf seinen Plumpudding. Mein persönliches Comfort Food ist ein leckerer weicher Ziegenkäse mit Weintrauben. Ein Glas Met oder einen Sherry dazu und dann ist auch bei mir ‘alles gut’, da brauche ich nichts anderes mehr. Mjam.

F. Schütze / 05.11.2023

Die Zimtschnecken meiner Kindheit werden zunehmend von faden Lifestyleschnecken verdrängt, aber die traditionellen Bäcker bieten sie manchmal noch an. Was hat sie ausgezeichnet? Sie waren - groß, mindestens wie der Handteller eines Handschuhs der Größe 10 - flach, also höchstens so hoch wie ein schlanker Erwachsenendaumen - außen und oben knusprig, weil nämlich aus Plunderteig gemacht und nicht mit Fondantmasse übergossen - schön würzig, mit Zimt und ein wenig geriebene Walnüssen zwischen den Windungen - gut von außen nach innen abwickelnderweise zu essen, so dass man sich Bissen für Bissen vom knusprigen Äußeren zum weichen Inneren vorarbeiten konnte - und nur ganz innen saftig, weich und süß. Aber das Innere hab ich gerne geteilt, die äußere Windung nur unter Zwang. Reine Germteigschnecken können da nicht mithalten, kleine, hohe Schnecken ebensowenig, und mit Zuckerguß übergossene schon gar nicht. Franzbrötchen kommen vielleicht in die Nähe, es fehlt ihnen aber der sinnliche Genuß des Abwickelns - und die Walnußnote!

Jürgen Fischer / 05.11.2023

Wenn ich mir die „Zimtschnecken“ der Top 7 auf miasanfoodies so anschaue, stelle ich fest, dass ich keine einzige davon essen würde. Da stelle ich mich lieber selber in meine Küche und backe welche. Positiver Nebeneffekt: ich weiß ganz genau, was drin ist, und was nicht.

Hjalmar Kreutzer / 05.11.2023

„Was hat der Herr Etscheit denn jetzt schon wieder gegen Kanelsnegler fra Jylland bzw. Kanelschnecken aus Südschleswig, kann man ihm denn gar nichts recht machen?“, so mein erster Gedanke. Aber die Erschröcklichkeiten aus dem Biotop der Hipsterbäckerstartupwerkstätten muss man wahrscheinlich wirklich nicht haben. Wenn einer mir Philosophie, gar Weltanschauung statt Brot, Brötchen und Kuchen verkaufen will, scheint Vorsicht geboten. Zu Weihnachten kommen dann wieder die pädagogischen Zeigefinger, die vor Zimt-Sternen warnen, weil da das schädliche isopropylpropenylbarbitursaure Phenyldimethyldiethylaminopyrazolon drin sei. Darauf eine Tüte Marzipankartoffeln und eine Stiege Dominosteine! Ja, die Kampfradler auf den Gehwegen brettern hier in Brandenburg sogar mitten durch die vom Böcker herausgestellten Tische und Stühle, und es reicht nicht einmal zu einem „alles gut“.  Springt man als Fußgänger nicht sofort beiseite oder wagt gar darauf aufmerksam zu machen, dass hier ein Geh-Weg sei und Leute Kaffee trinken, glotzt der Radler blöd und man wird ggf. sogar von Kaffeegästen angepflaumt, dass doch da wohl genug Platz sei. Nicht erst seit Corona halte ich einen großen Teil meiner Mitmenschen für ... (Netiquette)

Wolfgang Feldhus / 05.11.2023

Da lobe ich mir meine Nuss-Schnecke vom Bäcker in Hefeteig oder Plunderversion. Die Krönung ist natürlich eine Weinbeerschnecke. Wer bei mir Rosine sagt fliegt hochkant raus. Dito….Butter ist männlich , auch wenn der Duden dauernd das Gegenteil behaupted.

Gerd Maar / 05.11.2023

Da muss ich an den Cinnabon-Laden aus “Better Call Saul” denken. Aus Furcht vor der Drogenmafia eine neue Identität als einsam frustrierter Zimtschneckenroller in der tiefsten Provinz- eine wahrhaft gescheiterte Existenz.

Leserbrief schreiben

Leserbriefe können nur am Erscheinungstag des Artikel eingereicht werden. Die Zahl der veröffentlichten Leserzuschriften ist auf 50 pro Artikel begrenzt. An Wochenenden kann es zu Verzögerungen beim Erscheinen von Leserbriefen kommen. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Verwandte Themen

Es wurden keine verwandten Themen gefunden.

Unsere Liste der Guten

Ob als Klimaleugner, Klugscheißer oder Betonköpfe tituliert, die Autoren der Achse des Guten lassen sich nicht darin beirren, mit unabhängigem Denken dem Mainstream der Angepassten etwas entgegenzusetzen. Wer macht mit? Hier
Autoren

Unerhört!

Warum senken so viele Menschen die Stimme, wenn sie ihre Meinung sagen? Wo darf in unserer bunten Republik noch bunt gedacht werden? Hier
Achgut.com