Aus kulinarischer Sicht finde ich es durchaus nicht anstößig, wenn man jetzt schon über Weihnachtsgebäck stolpert. Warum sollte man so etwas Leckeres nur vier Wochen lang essen, um dann für den Rest des Jahres zwangsweise auf Diät gesetzt zu werden?
Jedes Jahr nach Ende der Sommerferien müssen sich die die einschlägigen Süßwarenhersteller dafür rechtfertigen, dass ihr Weihnachtsgebäck immer zeitiger in die Läden kommt. Ich verfüge zwar über keine belastbaren Aufzeichnungen und muss mich auf meine Erinnerung verlassen. Aber zu jenen Zeiten, als alles noch irgendwie im Lot zu sein schien, wurden Lebkuchen, Spekulatius, Zimtsterne und Marzipankartoffeln, so meine ich mich zu entsinnen, gemeinhin in der Vorweihnachtszeit verkauft, die sich etwa ab dem Martinsfest am 11. November bis Heiligabend erstreckte. Danach noch so lange, bis die Resterampe abverkauft war.
Irgendwann tauchten weihnachtliche Offerten schon im Oktober in den Geschäften und Supermärkten auf, dann im September. Und jetzt Ende August, also noch im Sommer, der Herbst beginnt heuer am 22. September. Es ist wie bei der Weinlese, die beginnt auch immer früher. Als ich noch ein Kind war und mir im Rheingau bei der Traubenernte etwas Geld für die Weihnachtsgeschenke verdiente, endete die Lese im November, heute je nach Region spätestens Mitte Oktober. Doch im Fall des Weihnachtsgebäcks ist zum Glück einmal nicht der Klimawandel schuld, sondern der Geschäftssinn der Produzenten. Die Nachfrage sei vorhanden, heißt es.
Dabei lehnen einer aktuellen Umfrage des Instituts Yougov zufolge drei Viertel aller Befragten das Angebot von Weihnachtssüßigkeiten im Sommer und Herbst ab. Immerhin kaufen jedoch drei Prozent der Befragten schon ab August Weihnachtsgebäck, sechs Prozent ab September und 14 Prozent ab Oktober. Die meisten aber, nämlich 41 Prozent, greifen erst ab November zu den Weihnachtsspezialitäten, wenn die Temperaturen sinken, der Abend immer früher hereinbricht und unerfreuliche Feiertage wie Allerseelen, Totensonntag und der Volkstrauertag nicht nur Melancholikern zusetzen.
Zum Tee das ganze Jahr über
Aus kulinarischer Sicht finde ich es durchaus nicht anstößig, wenn man jetzt schon über Weihnachtsgebäck stolpert. Warum sollte man so etwas Leckeres nur vier Wochen lang essen, um dann für den Rest des Jahres zwangsweise auf Diät gesetzt zu werden? In vielen europäischen Regionen werden Lebkuchen oder Spekulatius ohnehin das ganze Jahr über angeboten und verzehrt. Allen voran in Belgien, wo die berühmten belgischen Spekulatius mit ihrem intensiven Karamellaroma keineswegs nur zum Fest der Feste genascht werden, sondern als süße und krosse Beigabe zum Tee das ganze Jahr über.
Im Elsass beispielsweise gibt es Lebkuchen, hier Pain d’épices genannt, die es ebenfalls von Januar bis Dezember gibt, nicht zu vergessen die sächsische Pfefferkuchenstadt Pulsnitz, wo würzige Leckereien wie Pfeffernüsse, Haselnusszungen oder Gefüllte Spitzen in ihren typischen, gestreiften Retrotüten ohne Zwangspause die Auslagen der Pfefferküchler zieren.
Eine ähnliche Tradition findet man in Teilen Österreichs. Sie rührt daher, dass einst die Produktion von Lebkuchen eng mit der Zeidlerei, später der Bienenzucht und der Kerzenzieherei verbunden war. Vielfach beschäftigten sich Klöster mit der Herstellung solcher Naturprodukte, um sie an Pilger zu verkaufen. Nicht nur im Wallfahrtsort Mariazell in der Steiermark hat sich das Lebzelterhandwerk erhalten, und die hier ansässige Firma Pirker unterhält ganzjährig geöffnete Geschäfte sogar in Wien und Salzburg.
Stollen-Riegel für unterwegs
Wenn ich Lebkuchen außerhalb der Saison esse, dann am liebsten ohne Schokolade, pur, vielleicht mit etwas Zuckerglasur. Das ist ein schöner Snack zum Kaffee und allemal bekömmlicher als Sahnetorte. Gleiches gilt für Spekulatius, ein oft unterschätztes, äußerst delikates Gebäck. Wenn mit guter Butter gemacht und nicht übermäßig gewürzt, sind Spekulatius von hohem kulinarischen Wert und auch ästhetisch ein Genuss, wenn sie mit alten Modeln mit niederdeutschen Motiven gebacken werden wie in der traditionsreichen Bäckerei Dandoy in Brüssel.
Bei Spekulatius handelt es sich um ein Mürbeteiggebäck aus Mehl, Zucker, Butter und einem speziellen, orientalisch anmutenden Spekulatiusgewürz aus Zimt, Koriander, Anis, Nelken und Kardamom, Macis, Ingwer und Fenchel. Neben Gewürzspekulatius gibt es mildere Butterspekulatius sowie Mandelspekulatius, deren Unterseite mit Mandelblättchen belegt ist. Spekulatius werden in spezielle, einstmals hölzerne Modeln gepresst und sehr kross gebacken. Es gibt dünne, aber auch extra dicke Spekulatius, wie die in Holland beliebten Spekulaasbrokken.
Zum Glück haben die Amis das Internet und die Deutschen das moderne Postwesen erfunden, sodass man sich, wenn man möchte, das ganze Jahr über mit Lebkuchen und Spekulatius eindecken kann. Beim Dresdner Stollen geht das noch nicht, den gibt es bislang wirklich nur zu Weihnachten. Wenn nicht die allmächtige EU die Stollenbäcker auf dem Weg über das EU-Einwegkunststoffgesetz, das seit Januar auch in Deutschland gilt, eines Besseren belehrt. Demzufolge ist ein 750-Gramm-Stollen nämlich ein Einwegprodukt und, wie Salatschalen und To-Go-Becher, mit einer Verpackungsabgabe belegt.
Niemand esse einen Stollen unterwegs, allein schon wegen des Staubzuckers, empörte sich ein Sprecher des Landesinnungsverbandes Saxonia des sächsischen Bäckerhandwerks. Auch die Tradition spreche dagegen. Stollen sei ein festliches Gebäck, das über Tage verzehrt werde. Aber warum eigentlich nicht ein Stollen-Riegel für unterwegs als nahrhafte Zwischenmahlzeit bei anstrengenden Aktivitäten wie Bergtouren oder Fitness? Könnte ein Renner werden.
Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.

Die ersten 3 Kommentare sind jeder für sich ein Volltreffer. Danke dafür.
In Nürnberg und um Nürnberg herum gibt es ganzjährig Lebkuchen - manches Mal mußte ich mich da schon im Juni zusammenreißen, statt Eis einen Elisenlebkuchen zu verputzen. Nicht alles, was weihnachtsgebäcklich aussieht, ist auch eines.
die Weinlese endet heute nur früher,weil nicht mehr nach dem alten System bis zur Beeren-Auslese/Eiswein mehr verzögert geerntet wird...die meisten Winzer haben die hoch-öchsle-Sorten aufgegeben zu keltern
Wer vor November (und nach Jänner) Weihnachtsmehlspeisen ißt, der hat die Kontrolle über sein Leben verloren.
Ich hoffe, dass Sie uns berichten können, in welchem Weihnachtsgebäck weder Madenmus noch Insektendreck enthalten ist.
@Herrn Etscheit.... In Japan heißen einst junge Frauen, die am Heiratsmarkt über geblieben sind, Christmas Cakes.