Teltower Rübchen sind Überlebenskünstler. Sie brauchen nur wenig Wasser und schätzen magere, sandig-lehmige Böden. Beides finden sie im Speckgürtel Berlins in der brandenburgischen Streusandbüchse. Mittlerweile ist die einstige Armeleutespeise zur Delikatesse avanciert.
Wenn man mich fragen würde, mit welchen kulinarischen Alleinstellungsmerkmalen unsere geliebte Hauptstadt aufwarten kann, käme ich in Verlegenheit. Bratkartoffeln, Buletten, Currywurst, Döner? Gibt’s überall. Berliner Weiße vielleicht? Mag sein, doch Weißbier machen auch die Bayern und zwar besseres. Und die berüchtigte Berliner Weiße mit Schuss, also versetzt mit grellrotem Himbeer- oder giftgrünem Waldmeistersirup, ist allenfalls bei 35 Grad im Schatten im Strandbad Wannsee genussfähig, wenn die Puddelbrühe keine Erfrischung mehr verheißt.
Leider haben die latente Armut der Metropole, gepaart mit preußisch-protestantischer Genussfeindlichkeit und den Auswirkungen 40 Jahre währender DDR-Mangelwirtschaft, dazu geführt, dass Berlin bis heute als kulinarisches Notstandsgebiet gelten kann, wenn man absieht von meist schlecht gekochtem Ethnofood und euro-asiatischem Sternekücheneinerlei.
Dann bin ich aber doch noch fündig geworden. Im Umland von Berlin, genauer gesagt in Teltow im südlichen Speckgürtel der Hauptstadt, gedeiht nämlich eine kleine, unscheinbare Rübe, deren Saison jetzt im Spätherbst beginnt und, je nach Witterung, bis Januar oder Februar reicht. Leider wird sie nur noch von ganz wenigen Landwirten angebaut, was etwas verwunderlich ist angesichts des bundesweit grassierenden Hypes regionaler Spezialitäten.
Schon Goethe schätzte die Berliner Spezialität
Es handelt sich – Trommelwirbel! – um das Teltower Rübchen. Manchmal findet man es noch auf Berliner Wochenmärkten wie dem bekannten Winterfeldtmarkt in Schöneberg. Sie sehen nach nichts aus, haben es aber in sich. Ihr nussiger, leicht scharfer, an Meerrettich erinnernder Geschmack und ihre kompakte, niemals wässrige Konsistenz sind einzigartig.
Wer sie einmal findet und sicher sein kann, es nicht mit schnöden Navets, Pastinaken oder anderem ähnlich aussehenden Gemüse zu tun zu haben, sollte man sie keinesfalls links liegen lassen. Schon Goethe, Kant und Fontane sollen die Rübchen so geschätzt haben, dass sie sich die Berliner Spezialität im Herbst und Winter per Eilboten liefern ließen. Ein paar Exemplare sollen sogar den Weg zum kaiserlichen Hof Napoleons gefunden haben, nachdem sie französische Truppen als „navets de Teltow“ in ihrem Heimatland bekannt gemacht hatten.
Die Rübchen sind seit 1993 als Marke geschützt, über die ein Förderverein wacht, weswegen nur originale Vertreter der Speiserüben-Varietät Brassica rapa L. subsp. Rapa f. teltowiensis als Teltower Rübchen bezeichnet werden dürfen. Theoretisch können sie überall angebaut werden, doch ihren typischen Geschmack sollen sie, wie es heißt, nur auf der Teltower Platte entwickeln, einer eiszeitlichen Hochfläche, die heute die Landkreisen Teltow-Fläming und Potsdam-Mittelmark umfasst mit dem Teltowkanal als nördlicher Anbaugrenze.
Enormer Arbeitsaufwand bei der Ernte
Teltower Rübchen sind Überlebenskünstler. Sie brauchen nur wenig Wasser und schätzen magere, sandig-lehmige Böden. Beides finden sie in diesem Teil der brandenburgischen Streusandbüchse, wo man die Rübchen einst nach der (oft mageren) Getreideernte direkt in die Stoppelfelder säte, um im Winter noch eine zweite Ernte einfahren zu können. Rübchen waren eine der zahlreichen Armeleutespeisen, die mittlerweile zur Delikatesse avanciert sind. Dabei steht ihre Anspruchslosigkeit in direktem Verhältnis zu ihrem delikaten Geschmack. Je weniger Wasser, desto intensiver das Aroma – das Erfolgsrezept des Tomatenanbaus gilt auch für die Rübchen.
Die Frage, warum sich noch nicht mal eine Handvoll Bauern in Teltow und Umgebung dem Rübchenanbau verschreiben haben, erklären die Landwirte selbst mit dem enormen Arbeitsaufwand. Die pusseligen Früchtchen müssen nämlich von Hand aus dem Acker gezogen, vom Laub befreit und gesäubert werden. Außerdem müssen die Kulturen zum Schutz gegen die nimmersatte Kohlfliege mit Netzen abgedeckt werden. Ein weiterer Grund für die überschaubaren Anbauflächen ist die zunehmende Zersiedelung im Berliner Speckgürtel, der immer mehr Ackerfläche zum Opfer fallen.
Wenn man sie dann glücklich vor sich liegen sieht, muss man sie zunächst sorgfältig schälen, am besten mit dem Spargelschäler. Je nach Größe werden sie in zwei Hälften geteilt oder geviertelt und dann in Butter und Zucker karamellisiert, bevor man sie mit Brühe aufgießt, die man so lange einkochen lässt, bis die Rübchen gar sind, bissfest wohlgemerkt. Ganz vorzüglich schmecken glacierte Rübchen als Beilage zu würzigen Bratwürsten, Kasseler Rippchen oder geräuchertem Schweinebauch.
Eine andere, klassische Zubereitungsvariante ist die Teltower Rübchenrahmsuppe. Zutaten für sechs Personen: 900 g Teltower Rübchen geputzt, in Stücke geschnitten, 30 g Butter, 100 g Röstgemüse (Lauch, Sellerie, Zwiebel), 120 ml trockner Weißwein, 500 ml hellen Kalbsfond, 200 ml süße Sahne, Salz, Pfeffer, Muskat, fakultativ 200 g Wildschweinschinken. Zubereitung: Butter in einem Topf zerlassen, Röstgemüse und Teltower Rübchen andünsten; mit Weißwein ablöschen; Kalbsfond angießen und ca. 35 Minuten garen; Suppe mit dem Mixer pürieren, durch ein Sieb gießen und anschließend mit Sahne erhitzen; Mit Salz, Pfeffer, Muskat abschmecken; Suppe erneut aufmixen, Wildschweinschinken kross ausbraten, Suppe mit geschlagener Sahne und krossem Wildschweinschinken garnieren.
Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mit gegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.