Schon der Name ist ein Gedicht: „Schlesisches Himmelreich“. Dagegen sind Königsberger Klopse, eine weitere Spezialität aus den einstigen deutschen Ostgebieten, eher negativ besetzt – als Klops kann man eine dicke Person bezeichnen oder, im Berliner Slang, einen Deppen (hier der Link zu sonstigen Kulinarischen Beschimpfungen). Trotzdem haben es die Klopse aus der alten ostpreußischen Hauptstadt längst in den Kanon der deutschen Hausmannskost geschafft, was man vom „Himmelreich“ leider nicht sagen kann.
Ich ließ mir „Schlesisches Himmelreich“ unlängst zum ersten Mal in meinem Leben auftischen und zwar in einem Restaurant namens „Marjellchen“ in Berlin-Charlottenburg. Dort kocht man, ausweislich der umfangreichen Speisekarte, ostpreußisch, schlesisch und – deutsch. Eine etwas eigentümliche Reihung, weil Schlesien und Ostpreußen bekanntermaßen über Jahrhunderte zum deutschen Kultur- und Sprachraum gehörten. Aber achtzig Jahre nach Kriegsende gerät diese Tatsache mehr und mehr in Vergessenheit und die Gerichte der schlesischen und ostpreußischen Küche werden zu historischen Relikten, sofern sie nicht zu allgemein deutschen Klassikern geworden sind.
Der Name „Marjellchen“ ist eindeutig dem früheren Ostpreußen zuzuordnen - Marjellchen bedeutet im Idiom der Provinz nichts anderes als „Mädchen“. Im Internet firmiert das „Marjellchen“, ausweislich eines 2022 im „Preußen-Kurier“ erschienenen Artikels als einziges ostpreußisches Restaurant in Deutschland, wobei „ostpreußisch“, siehe oben, großzügig definiert wird. Was daran liegen mag, dass es so viele rein ostpreußische Klassiker nicht gibt und die Auswahl etwas eintönig wäre.
„Marjellchen“
Die Geschichte des Restaurants ist außergewöhnlich und dürfte jede Vermutung widerlegen, dass es sich hier möglicherweise um einen Treffpunkt von Revanchisten handeln könnte, die Deutschland in den Grenzen von 1939 wiedererstehen lassen möchten. Gründerin war nämlich eine gewisse Ramona Azzaro, Enkelin einer aus Königsberg nach Berlin zugewanderten Frau, die offenbar gut zu kochen verstand. Deren Tochter Maria hatte einen Italiener namens Giuseppe Azzaro geheiratet, der in Libyen lebte und 1939 nach Berlin kam, um dort im Berliner Nobelrestaurant „Horcher“ und im nicht weniger berühmten „Eden-Hotel“ als Kellner zu arbeiteten. Die Großmutter war es, die ihre Enkelin in die Geheimnisse der ostpreußischen Küche einführte, die schließlich 1985 das „Marjellchen“ eröffnete.
Seit 2020 wird das äußerlich etwas aufgehübschte und modernisierte Restaurant von einem Kroaten zusammen mit einem Geschäftspartner geführt, der zur Hälfte italienischer Abstammung ist. Auch die Gäste sind ausgesprochen international, schließlich ist der von Touristen geflutete Ku'damm nicht weit. Aus dem Lautsprecher auf dem straßenseitigen Freisitz säuselt Schlagermusik der zwanziger Jahre und Hans Albers. Inwendig wird dezent der Ostpreußen- und Schlesien-Nostalgie gehuldigt und die Bilder der alten Stadt Königsberg, bis zum Krieg eine blühende, moderne Metropole mit reicher Geschichte, eingebettet in eine zauberhafte Naturlandschaft, stimmen wehmütig.
Genau genommen gibt es die Stadt ja nicht mehr, das heutige Kalinigrad, benannt nach dem Sowjetpolitiker Michail Ivanovic Kalinin, hat mit dem früheren Ort so gut wie nichts mehr zu tun. Die Osthälfte des in zwei Hälften geteilten, früheren Ostpreußen ist seit Kriegsende ein russischer Oblast, ein Niemandsland zwischen Ost und West, und der Ukrainekrieg hat bis auf weiteres jede Hoffnung zunichte gemacht, das der russische Teil Ostpreußens Anschluss an seine Nachbarn finden könnte, die mittlerweile allesamt Mitglieder der EU sind.
Die Beilagen
Derlei triste Erwägungen sollten aber nicht auf den Appetit schlagen. Und der sollte ausreichend dimensioniert sein, wenn man sich eine Speise wie „Schlesischem Himmelreich“ einverleibt. Basis des Gerichts ist ein gepökeltes Rauchfleisch vom Schwein, das zusammen mit gemischtem Dörrobst – vor allem Pflaumen und Aprikosen – in einer kräftigen, mit Zimt und anderen Gewürzen aromatisierten Schmorsauce serviert wird, wobei es, was die Gewürze betrifft, einigen Spielraum gibt.
Was das Fleisch anbelangt, greift man am besten zu einem Kasseler, das in ganz Deutschland erhältlich ist. Zwecks Erzeugung von Röstaromen muss das Fleisch etwas angebraten werden, bevor man es auf klein geschnittene, angeröstete Wurzelgemüse bettet, mit Brühe oder Malzbier ablöscht und dann mit jenem Wasser aufgießt, in dem man zuvor die Trockenfrüchte eingeweicht hat. Dann kommen „weihnachtliche“ Gewürze dazu. Das alles lässt man eine Zeitlang vor sich hin schmurgeln. Nach der Hälfte der Garzeit gibt man das Dörrobst dazu.
Als Belage eignen sich Kartoffelklöße oder ein lockerer Serviettenknödel. Klassisch sind allerdings einfache Hefeklöße, eine Art Dampfnudeln, die recht neutral schmecken und die Sauce gut aufsaugen. Dazu ein kühles Pils als bitterer Gegenpol – mehr an Geschmack geht nicht in der Döner- und Currywurst-Metropole Berlin. Und wo wir schon mal in Ostpreußen sind: nicht weit vom „Marjellchen“ gibt es das vielleicht beste Königsberger Marzipan der Republik.
Georg Etscheit schreibt auch für www.aufgegessen.info, den von ihm mitgegründeten gastrosophischen Blog für freien Genuss.